Drei Tipps aus dem Koffer!

Nach drei Tagen literarischem Dauerfeuer bleibt die Frage, was geblieben ist, was bleiben wird, was überrascht hat und Lust auf mehr machte. Man spürte das Bemühen der Festivalleitung, frischen Wind und frisches Blut zuzulassen, die Bühnen aufzutun, sich selbst und den Besuchern zu beweisen, dass der Literaturbetrieb kein in sich geschlossener Club ist.

Auch wenn Terézia Mora, die Preisträgerin des diesjährigen Solothurner Literaturpreises und «herausragende Autorin des 21. Jahrhunderts» bei einem Gespräch meinte, Literaturtage wie diese seien schon eine schweizer Spezialität. Nur schon wegen seiner Grösse und der schieren Masse an Schreibenden sei in Deutschland eine vergleichbare Veranstaltung unmöglich. So sind die Solothurner Literaturtage alles; ein «Familientreffen», bei dem man höflich beiseite rückt, wenn sich Peter Bichsel an den langen Tisch vor dem Restaurant Kreuz setzt, grosse Bühne, wenn Autoren wie Terézia Mora, Alex Capus oder Franzobel lesen oder Bühne für fast alle, die sich trauen, auch wenn dann kaum jemand zuhört.

In meinem Koffer, den ich voller wieder mit nach Hause trug, sind drei Überraschungen, drei Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, die mich aber nach Lesungen und Gesprächen nicht nur neugierig machen, von denen ich jetzt schon weiss, dass sie mich überzeugen werden.

«Seit ich fort bin» von Henriette Vásárhelyi   Mirjam packt ihre Koffer. Sie reist zur Hochzeit ihres Bruders, zurück in ihre Heimatstadt. Mit im Gepäck fahren viele Erinnerungen, Erinnerungen an Verlorenes, Erinnerungen, die Mirjam nicht loslassen. Erinnerungen an eine Freundin, die sie verlor, Erinnerungen an eine Heimat, ein Land, das es so nicht mehr gibt. «Der Schmerz ist nicht der, dass es gute und schlechte Erinnerungen gibt, sondern dass man sie nicht wirklich teilen kann.» Ein Roman über eine Freundschaft, die Spuren in Tagebüchern zurückliess, über zwei Menschen, die sich im Sumpf der Erinnerungen verloren, obwohl sie sich zu retten versuchten. Ungeheuer stark in ihrer Sprache! Mehr als der Beweis dafür, dass der Platz auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem Debütroman «immeer» kein Zufall war. Beide Romane sind im Dörlemann Verlag Zürich erschienen, dem «Verlag des Jahres 2017»

«Tram 83» von Fiston Mwanza Mujila   Der Autor ist 1981 in Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, wo er afrikanische Literatur an der Universität unterrichtet. Fiston Mwanza Mujila nennt seinen ersten Roman «ein Buch über die Liebe und die Einsamkeit». Eine heruntergekommene afrikanische Grossstadt, in der jeder nur das eine Ziel hat; möglichst schnell viel Geld machen, egal wie. «Tram 83» ist der einzige Nachtclub in der Stadt, die Bühne seiner Geschichte. Ein Schmelztiegel, eine Hölle, ein Pulverfass, ein Nabelloch, wo sich zwischen Verlierern und Gewinnern, Profiteuren und Prostituierten, Ex-Kindersoldaten und Studenten zwei ungleiche Freunde wiedertreffen; Lucien, der Schriftsteller und Requiem, der Gauner. Auf der Bühne des Solothurner Stadttheaters spielte, sprach, schrie, lachte und sang der Autor seinen Text. So ganz anders als die teils steifen Wasserglaslesungen, die sich zur Pflichtübung reduzierten. Fiston Mwanza Mujila lebte seinen Text, machte sich zum Instrument, stülpte sein Inneres nach Aussen, an diesem Nachmittag nur duch ein Saxophon besänftigt.

«Das Floss der Medusa» von Franzobel   8. Juli 1816: Vor der afrikanischen Westküste werden 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach einer Schiffskatastrophe auf einem 20 Meter langen Floss überlebten in ein rettendes Schiff geborgen. Nach zwei grauenhafte Wochen, langes, unsägliches Leiden und Sterben. Franzobel selbst ist eine Landratte, nicht nur weil Österreich an kein Meer mehr grenzt, aber fasziniert vom Schrecken und Ekel, von Extremsituationen, wenn Grenzen gezogen werden, Gruppen sich gegenseitig bedrohen und über sich herfallen, wenn hinter Fassaden der Moral, die Situation zu kippen beginnt. Fast unglaublich ist die Tatsache, dass der Stoff auf den Schriftsteller Franzobel zu warten schien und verstörend, weil nichts am Schrecken der Geschichte erfunden werden muss, denn alles ist durch zwei Überlebende der Schiffskatastrophe historisch verbürgt. Gewartet hat der Stoff, weil der Schrecken und die Brutalität der Geschehnisse nur durch die Überzeichnung ins Groteske zu ertragen sind. Etwas, das Franzobel als Fähigkeit auf den Leib geschnitten ist.
Der Skandal ist nicht, dass die Überlebenden aus purer Verzweiflung auf dem Floss das Fleisch der Leichen assen, sondern, dass schon nach 50 Stunden genau jene Moral unterging, die die europäischen Siedler nach Afrika bringen sollten. Wer überlebt ein solches Drama? Welcher Typ Mensch? Ist es der Charakter oder schlicht die Aufgabe eines Menschen, so wie auf dem zurückgebliebenen Wrack des Schiffes, auf dem drei Matrosen überlebten, zwei dem Wahnsinn verfielen und der dritte bei Sinnen blieb, weil er die Verrückten an den Masten band und es sich zur Aufgabe machte, sie nicht sterben zu lassen.
Franzobel fabuliert lustvoll, virtuos und üppig, sich an den Szenen erlabend, stets mit dem Blick des Betrachters aus dem 21. Jahrhundert. Franzobel suhlt sich in Gerüchen, dem Gestank auf dem Schiff, den Leiden der Passagiere. Zugedröhnt von Wohlleiblichkeit wühlt Franzobel in der menschlichen Hinfälligkeit. Ekel, Schreck und Katastrophe sind nur durch Humor zu ertragen. «Humor ist die einzige wahre Religion der Ungläubigen.»
Man kann Franzobels «Das Floss der Medusa» als Abenteuer- oder Katastrophenroman lesen. Genauso gut aber auch als Allegorie auf unsere Zeit. Ein pralles Buch, vielleicht Franzobels Opus magnum.

Titelfoto: „Dokumente“ ©️ Philipp Frei

Literatur in Solothurn, Literaturn auf Solotour

Zum 39. Mal treffen sich Schreibende und Lesende an der Aare zu den Solothurner Literaturtagen. «Die Nabelschau» der aktuellen CH-Literatur. Wer nicht eingeladen ist, tut sich schwer. Und wer eingeladen ist, hofft, dass nun endlich geschieht, worauf man so lange schon wartet.

Die aktuellen Grossen sind da; Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch einer Krankheit «Halt auf Verlangen», Lukas Bärfuss mit seinem Roman «Hagard», Jonas Lüscher mit dem Roman eines Verlierers «Kraft», die Westschweizerin Pascal Kramer, die man mit ihrem Preis feiert, Tim Krohn mit dem ersten Band seines Riesenprojekts «Menschliche Regungen» und andere mehr.

Die Perlen, deren Glanz man noch entdecken muss, sind andere. Vielleicht nicht einmal jene, die man nach Solothurn eingeladen hatte. Letztlich bleibt es eine Auswahl, die dort an der Aare liest, diskutiert und debattiert. Ich sprach schon mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich verschmäht fühlen, missachtet, zu weit weg, die sich mockieren, auch gerne Erklärungen liefern, warum einmal mehr diese und jene Gegend untervertreten ist.

Doch es gibt nur eine Person, die wieder an den Literaturtagen fehlt – fast jedes Mal – der man mit Sicherheit zu wenig Beachtung schenkt, die es verdient hätte, dass man ihr hofieren würde. An zwei Ausgaben der Solothurner Literaturtage lud man sie ein. Dann war das Unternehmen wohl zu teuer, zu gefährlich, zu unkontrollierbar. Die Leserin und den Leser. Klar doch, die Besucher strömen zu Tausenden. An einem Sommersonnenwochenende wie diesem sowieso. Aber sie zahlen und bleiben draussen. Ein bisschen wie im Zoo. Als Besucher begegnet man den Schreibenden, staunt, wie klein, rund, alt und schüchtern sie sein können. Aber alle bleiben auf ihrer Seite. Die Lesenden da, die Schreibenden dort.

Zweimal fand die Festivalorganisation den Mut, Lesende und Schreibende auf der Bühne zusammenzubringen. Da sassen dann Lesezirkel und Leserunde mit Aurorin oder Autor hinter Mikrofonen und es knisterte. Ich erinnere mich gut an die Runde um die italienische Schriftstellerin Michela Murgia, die noch lange in der Gasse zusammen an einem Tisch sass und fortsetzte, was im Palais Besenval vor Publikum seinen Anfang nahm. Es war ein Happening, eine echte Begegnung mit purer Freude und Begeisterung.

Was ist die Literatur ohne jene, die die Bücher lesen? Ohne jene, die andern von ihrer Lektüre vorschwärmen und die Begeisterung so weitertragen? Ohne jene, die Literatur zu einem wichtigen Teil ihres Lebens machen, einen unverzichtbaren Teil, der aber meist in aller Stille zelebriert wird, nie auf der Bühne, nie auf Anerkennung wartend? Ohne jene, die zuhause ihre Bibliothek wie einen heiligen Ort betreten, denen Bücher zu freundschaftlichen Begleitern werden? Wenn Literatur nicht bloss ein Geschäft, Kommerz sein soll, wenn man Literatur als Begegnung verstehen will, als Stimme, Sound, Heimat  und Zuhause, dann hätte wohl kaum eine Kunstrichtung wie sie so sehr die Chance und Möglichkeit «Produzent» und «Konsument» zusammenzubringen. Und Literaturtage wären so ein Ort, an dem es mehr als bloss Applaus und die nette Geste des Signierens gäbe.

Ich freue mich trotzdem und danke der Festivalorganisation für all die dargebotenen Leckerbissen!

39. Solothurner Literaturtage: Manchmal heiss, manchmal lau

Freitag, erster Tag an den Solothurner Literaturtagen. Die Menschen strömen in Säle und Räume, obwohl draussen die Sonne scheint. Auch wenn dem Literaturfestival kein Thema voransteht, versucht man sich angestrengt, den drängenden Fragen der Zeit Raum zu geben; die aktuelle Flüchtlingskrise, wie viel Optimismus die Gegenwart erlaubt und was Fake-News, Populismus und Nationalismus mit der Welt anrichten.

Kathy Zarnegin, die mit ihrem ersten Roman «Chaya» die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das Teheran verlässt, um in Zürich Schriftstellerin zu werden, sitzt zwischen Ilija Trojanow, dem engagierten Schriftsteller, Verleger und Sachbuchautor und Jonas Lüscher, der nicht erst mit seinem zweiten Roman «Kraft» in aller Munde ist. Ein Gespräch wie ein Paukenschlag zu Beginn der Literaturtage. Ein Gespräch, das klar macht, wie schmerzhaft die Position der Schreibenden sein kann, allein zwischen Geschehen, Fiktion und dem leeren Blatt Papier. Ilija Trojanow nimmt kein Blatt vor den Mund, gibt sich bissig und unnachgiebig, ist überzeugt davon, dass die meisten Politiker von den wahren Problemen der Menschheit ablenken, dass wir in einer Dauerhysterie leben, angestachelt von Politikern und Demagogen, die Ängste schüren. Ausgerechnet in Europa, einer Weltgegend, die sich wie keine andere in nie dagewesener Sicherheit und unanständigem Reichtum abschottet. Trojanow ist klar und unmissverständlich, versteckt sich nicht hinter Begriffen und geschliffenen Sätzen. Er sprudelt, ohne Gespenster an die Wand zu malen. In seinem Buch «Nach der Flucht» erzählt er aus der Perspektive eines ewig Flüchtenden. «Der Flüchtling ist meist ein Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er ein Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.»

Ebenso eindringlich und beeindruckend der Autritt von Dina Sikirić mit ihrem Debütroman «Was den Fluss bewegt». Dina Sikirić kam zusammen mit ihrer Mutter als kleines Kind von Zagreb nach Basel. In ihrem Roman schreibt sie aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, äusserst behutsam. Sie schreibt vom schmerzhaften Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland. Sie zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre. Der Saal war so voll, dass man Besucher wegschicken musste.

Dass es aber auch schwierig sein kann, fast unmöglich, bewies ein Gespräch zwischen Jonas Lüscher, der jungen deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die mit ihrem Buch «Gott ist nicht schüchtern» das Schicksal zweier Flüchtenden aus Syrien erzählt, dem Journalisten und Korrespondenten Peter Voegeli und dem Literaturredaktor Hans Ulrich Probst. Das Thema eigentlich wäre spannend gewesen: «Die Macht der Geschichten». Aber ganz offensichtlich liess sich das Gespräch nicht in jene Bahnen lenken, die das Publikum 75 Minuten in den Bann hätte ziehen können. Ein Gespräch, das übel dümpelte, bei dem niemand das Steuer herumzureissen wagte, dafür bis zur Unerträglichkeit in Banalitäten waberte. Ein voller Landhaussaal wartete auf engagierte Statements, darüber, was sich jeder Schreibende erhofft, mit Sicherheit die drei Autoren auf der Bühne, die von ihren Geschichten leben, auch von der Macht ihrer eigenen Geschichte.

Mein ganz persönlicher Favorit des ersten Tages ist Martina Clavadetscher mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder», eben besprochen auf literaturblatt.ch. Martina Clavadetscher ist eine Entdeckung, ihr Roman ein sprachliches Kunstwerk, ihr Auftritt erfrischend.

Olga Grjasnowa «Gott ist nicht schüchtern», Aufbau

Ich las Olga Grjasnowas neuen Roman «Gott ist nicht schüchtern» mit heissem Kopf, einem fiebrigen Gefühl, als täte ich etwas Unrechtes. Was Olga Grjasnowa beschreibt, tut weh. Dieses Buch im Garten auf einer Liege zu lesen, ist beinahe unerträglich. Aber Olga Grjasnowa klagt nicht an, sondern beschreibt mit messerschafem Blick.

Soll Literatur bloss unterhalten? Hat Literatur eine Aufgabe? Muss sie wirken? Wer mit einem Buch ausspannen will, wer die harte Wirklichkeit vergessen will, wer austreten, ausschwärmen, abdriften will, der darf den Roman der jungen Olga Grjasnowa nicht lesen. «Gott ist nicht schüchtern» fährt ein, lässt nicht locker, nistet sich mit seinen intensiven Bildern in meinem Bewusstsein ein.

Olga Grjasnowa beschreibt eine Flucht, die Not, eine Heimat, ein Zuhause, ein Land, ein Leben, Menschen verlassen zu müssen, um in der Fremde neu beginnen zu können, immer in der Hoffnung, dereinst zurückkehren zu können. Olga Grjasnowa floh als Jugendliche selbst 1996 zusammen mit ihren Eltern aus Aserbaidschan und lebt heute mit ihrem Mann in Berlin. Ihr Mann floh aus Syrien und leitet das Exil-Ensemble des Gorki-Theaters in Berlin. Als in Damaskus der Arabische Frühling durchzubrechen schien, floh ihr Mann aus Syrien. Aus vielen Gesprächen mit ihrem Mann, mit Freunden und direkt Betroffenen baute sie ihre Geschichte, die Leben von Vertriebenen und einem Land, das zerrissen ist, in dem kaum jemand den immer brutaler werdenden Konflikt, den Krieg gegen ein willkürlich agierendes Regime kommen sah, über Menschen, die einst ein ganz normales Leben führten und sich mit einem Mal verloren sehen. Olga Grjasnowa recherchierte vor Ort, an unerträglichen Orten wie der türkischen Küstenstadt Izmir, in der das ganze Elend auf eine Reise weg aus dem Trauma hofft.

Olga Grjasnowa verwebt die Geschichten von Amal und Hammoudi. Amal wächst in Damaskus als Tochter eines reichen Vaters auf, Hammoudi in der Provinz. Amal wird Schauspielerin und träumt von der grossen Karriere, Hammoudi steht nach einem äusserst erfolgfreichen Studium der Medizin in Paris zusammen mit seiner Verlobten kurz davor. Bis in den Wirren des Arabischen Frühlings nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Olga Grjasnowa schildert eindringlich, nie voyeuristisch. Ich spüre ihre Betroffenheit ebenso wie ihre Hilflosigkeit. Olga Grjasnowa gibt den Abertausenden, die sich nach Europa retten, ein Gesicht, ohne zu beschönigen, nie mit dem Mahnfinger. Ein wichtiges Stück Literatur!

Foto: René Fietzek

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman «Der Russe ist einer, der Birken liebt» wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2014 „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Beide Romane erschienen beim Hanser Verlag und wurden für die Bühne dramatisiert. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Olga Grjasnowa liest an den Solothurner Literaturtagen vom 26. bis 28. Mai 2017 aus ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern». Am Freitag, den 26. Mai beteiligt sich Olga Grjasnowa zusammen dem Schriftsteller Jonas Lüscher («Kraft», C.H. Beck) und dem SRF-Korrespondent Peter Voegeli an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Macht der Geschichten». Moderiert wird die Diskussion von Hans Ulrich Probst, SRF-Literaturredaktor.

Urs Faes «Halt auf Verlangen», Suhrkamp

«Er fürchtete nicht das Leiden, den Tod, er war nicht einmal verliebt in das Leben, aber er hatte ein tiefes Begehren gespürt» steht als Zitat des amerikanisch-britischen Schriftstellers Henry James dem neuen Buch von Urs Faes vorangestellt. Kein Roman, ein Fahrtenbuch, ein Logbuch, eine literarische Auseinandersetzung mit einer Diagnose, die den Tod bedeuten kann. Ein intimer Blick, der nur deshalb gelingt, weil nichts an dem sehr persönlichen Buch rührselig, mitleiderregend oder exhibitionistisch ist, nichts.

Urs Faes ist einer der Grossen der Schweizer Literatur, kein Szenenautor und seit Jahrzehnten Hausautor bei Suhrkamp. Schon in seinen frühesten Werken erzählte Urs Faes von Lebens- und Beziehungskrisen. Einmal zeitlich ganz nah wie im grossen Roman «Paarbildung», ein ander Mal in zeitlicher Entfernung wie im letzten Roman «Sommer in Brandenburg» auf einem brandenburgischen Landgut während des Nationalsozialismus, wo junge Juden aud das Leben im Kibbuz vorbereitet wurden. Eine zarte Liebesgeschichte unter unsäglicher Bedrohung. Kein Wunder, wenn sich Urs Faes nach der Diagnose Krebs mit der eigenen, gesundheitlichen Krise auseinandersetzt.

Urs Faes «Fahrtenbuch» «Halt auf Verlangen» beschreibt Fahrten mit der Strassenbahn, mit Zürichs Tram von seinem Zuhause in die Klinik zur Bestrahlung, manchmal aber auch eine Station weiter bis zu den Friedhöfen. Er beginnt zu schreiben wie damals als 12jähriger in ein Heft, nicht grösser als ein Schulheft. Anfangs wohl noch ohne Ziel, ohne Absicht, dann immer mehr als Auseinandersetzung mit sich, der Krankheit, der Menschen aus der Vergangenheit, dem, was im Angesicht des möglichen Sterbens übrig bleibt. Mit dem, was aus der eigenen Geschichte hervorbricht. Wonach man sich sehnt, wenn man aus der Selbstverständlichkeit hinausrutscht. Urs Faes schrieb schon als Knabe, als sein Vater für lange Zeit verschwand und als gebrochener, kranker Mann zurückkehrte. Er schrieb vom kleinen Bruder, der anders war als alle andern, im Heim war und immer nach dem Vater fragte. Er schrieb von der Mutter, die in Arbeit und Sorge zu ertrinken drohte. Urs Faes schrieb damals als Zurückgelassener. Schreiben war Notwendigkeit, die einzige Möglichkeit, den Halt nicht zu verlieren. Genau wie jetzt mit seiner Krankheit, dem Krebs, als ihn ein Freund ermuntert: Schreib auf. Urs Faes schreibt von den behutsamen, heimlichen Anfängen des Schreibens, als es nach dem Tod seines kleinen Bruders und der langen Krankheit seines Vaters Trost und Flucht war. Er schrieb, «weil nichts in dieser Stille war». Wie die Not des Schreibens zum Zwang wurde und verstehen lässt, dass Urs Faes mit der Krankheit, die den Tod bedeuten kann, das Schreiben unmöglich sein lassen kann.

Warum ein solches Buch lesen? Warum sich dem aussetzen? Es geht kaum um die Krankheit, nie um das ausgesteckte Feld auf dem Unterbauch, das bestrahlt werden soll. Es geht darum, was mit einem Menschen geschieht, der wohl mit den Augen sieht, aber mit dem Schreiben wahrnimmt. Urs Faes, seiner Endlichkeit vorgeführt, sieht sich mit Erinnerungen konfrontiert, die wie Zeigefinger aus dem Meer von Unverdautem und Verdrängtem auftauchen. Bis zum Friedhof, wo unter Steinen Geschichten begraben liegen, dem Vergessen übergeben. Etwas, dem Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch entgegenschreibt.

Urs Faes Sprache schmeichelt nicht, umgarnt einem aber doch. Sie ist Farbe, Geruch und Stimmung. Ohne Pathos, nicht einmal in den Schmerz der Krankheit getaucht. Sie ist ehrlich, unmittelbar. Gefühle werden über Sprache zelebriert, etwas, was der Autor in seinen Romanen seit je beweist; ein untrügliches Gespür für Klang und Musik. Urs Faes spielt mehrstimmig, ein ganzes Orchester an Klangfarben anstimmend. Grosses Können,

Urs Faes liest aus seinem Fahrtenbuch «Halt auf Verlangen» an den Solothurner Literaturtagen 2017, vom 25. bis 28. Mai. Ich freue mich!

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Webseite des Autors

Titelfoto: «Inhalation» ©️ Philipp Frei

Pascale Kramer: Schweizer Grand Prix Literatur


Das Bundesamt für Kultur verleiht im Bereich Literatur jährlich einen Schweizer Grand Prix Literatur, um in der Schweiz und im Ausland auf das Werk einer bestimmten Autorin aufmerksam zu machen. Die Jury zeichnete Pascale Kramer für ihr Schaffen aus, eine Autorin, die sich als scharfe
Beobachterin mit grosser Sensibilität beweist. An den Solothurner Literaturtagen wird Pascale Kramer an einer Hommage ganz besonders gefeiert – mit Recht!

Pascale Kramer schreibt mit analytischem Blick, beschreibt die Einsamkeit derer, die jeden Halt, jede Sicherheit verlieren. Nicht nur die Perspektive, aus der die Autorin schreibt, auch die Sprache machen die Romane zu erschütternden Enthüllungen, was Verlorenheit und Verzweiflung anrichten können. Ihr letzter auf Deutsch erschienener Roman «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» erlangte viel Aufmerksamkeit und wurde vielfach ausgezeichnet. Trotzdem gilt die Autorin im deutschsprachigen Raum noch immer als Geheimtipp.

Alissa, eben Mutter geworden, eingezogen mit ihrem Mann in eine Wohnung mit Pool, findet den Tritt im neuen Leben nicht. Obwohl sie mit dem Mann verheiratet ist, der ihr Traummann gewesen war. Schachteln und Kisten bleiben unausgepackt, kein Tag ohne Kampf mit sich selbst und der Welt. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr entglitten – und auch das Mutterglück scheint abhanden gekommen zu sein. Und als ihr Mann nach der Rückkehr eines Freundes aus dem Irakkrieg, der ihn als Versehrten ausspuckt, den Stand verliert und sich ihre Mutter von ihrem Vater scheiden lässt, beginnt sich die Spirale von Dramatik und Tempo zu drehen. Die Katastrophe scheint unausweichlich.

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Eben neu erschienen ist im Rotpunktverlag in der Edition Blau Pascale Kramers «Die Lebenden». neu erscheint im Juli ihr Roman «Autopsie des Vaters».

Titelbild: Sandra Kottonau