39. Solothurner Literaturtage: Manchmal heiss, manchmal lau

Freitag, erster Tag an den Solothurner Literaturtagen. Die Menschen strömen in Säle und Räume, obwohl draussen die Sonne scheint. Auch wenn dem Literaturfestival kein Thema voransteht, versucht man sich angestrengt, den drängenden Fragen der Zeit Raum zu geben; die aktuelle Flüchtlingskrise, wie viel Optimismus die Gegenwart erlaubt und was Fake-News, Populismus und Nationalismus mit der Welt anrichten.

Kathy Zarnegin, die mit ihrem ersten Roman «Chaya» die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das Teheran verlässt, um in Zürich Schriftstellerin zu werden, sitzt zwischen Ilija Trojanow, dem engagierten Schriftsteller, Verleger und Sachbuchautor und Jonas Lüscher, der nicht erst mit seinem zweiten Roman «Kraft» in aller Munde ist. Ein Gespräch wie ein Paukenschlag zu Beginn der Literaturtage. Ein Gespräch, das klar macht, wie schmerzhaft die Position der Schreibenden sein kann, allein zwischen Geschehen, Fiktion und dem leeren Blatt Papier. Ilija Trojanow nimmt kein Blatt vor den Mund, gibt sich bissig und unnachgiebig, ist überzeugt davon, dass die meisten Politiker von den wahren Problemen der Menschheit ablenken, dass wir in einer Dauerhysterie leben, angestachelt von Politikern und Demagogen, die Ängste schüren. Ausgerechnet in Europa, einer Weltgegend, die sich wie keine andere in nie dagewesener Sicherheit und unanständigem Reichtum abschottet. Trojanow ist klar und unmissverständlich, versteckt sich nicht hinter Begriffen und geschliffenen Sätzen. Er sprudelt, ohne Gespenster an die Wand zu malen. In seinem Buch «Nach der Flucht» erzählt er aus der Perspektive eines ewig Flüchtenden. «Der Flüchtling ist meist ein Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er ein Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.»

Ebenso eindringlich und beeindruckend der Autritt von Dina Sikirić mit ihrem Debütroman «Was den Fluss bewegt». Dina Sikirić kam zusammen mit ihrer Mutter als kleines Kind von Zagreb nach Basel. In ihrem Roman schreibt sie aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, äusserst behutsam. Sie schreibt vom schmerzhaften Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland. Sie zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre. Der Saal war so voll, dass man Besucher wegschicken musste.

Dass es aber auch schwierig sein kann, fast unmöglich, bewies ein Gespräch zwischen Jonas Lüscher, der jungen deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die mit ihrem Buch «Gott ist nicht schüchtern» das Schicksal zweier Flüchtenden aus Syrien erzählt, dem Journalisten und Korrespondenten Peter Voegeli und dem Literaturredaktor Hans Ulrich Probst. Das Thema eigentlich wäre spannend gewesen: «Die Macht der Geschichten». Aber ganz offensichtlich liess sich das Gespräch nicht in jene Bahnen lenken, die das Publikum 75 Minuten in den Bann hätte ziehen können. Ein Gespräch, das übel dümpelte, bei dem niemand das Steuer herumzureissen wagte, dafür bis zur Unerträglichkeit in Banalitäten waberte. Ein voller Landhaussaal wartete auf engagierte Statements, darüber, was sich jeder Schreibende erhofft, mit Sicherheit die drei Autoren auf der Bühne, die von ihren Geschichten leben, auch von der Macht ihrer eigenen Geschichte.

Mein ganz persönlicher Favorit des ersten Tages ist Martina Clavadetscher mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder», eben besprochen auf literaturblatt.ch. Martina Clavadetscher ist eine Entdeckung, ihr Roman ein sprachliches Kunstwerk, ihr Auftritt erfrischend.

Yves Rechsteiner «Und dann fängt die Vergangenheit an», Waldgut

Yves Rechsteiners zwölf Erzählungen sind Geschichten eines Reisenden, eines Rückkehrers und noch nicht wirklich Angekommenen. Sie erzählen von den unstillbaren Sehnsüchten des ewig Reisenden, von Zurückgelassenen und nicht wieder Gefundenen.

Dass sich der Schriftsteller als Liebhaber eines unkonventionellen und bohemianischen Lebens bezeichnet, glaube ich ihm nach der Lektüre seiner gelungenen Geschichten bloss in Anführungs- uns Schlusszeichen. Denn er entlarvt beide Seiten, jene der Angepassten, Daheimgebliebenen genauso wie der Reisenden, Weltenbummler, denen meist schon mit dem Weggehen bewusst wird, dass sie sich in einen Ausnahmezustand begeben, in einen, der nur so lange dauert, wie das Geld reicht.

«Und dann fängt die Vergangenheit an» ist ein Buch über die Sehnsucht, der Sehnsucht, das Glück irgendwo zu finden, unterwegs, ausserhalb. Der Angst, das Glück nicht zu finden, nicht hier, vielleicht dort. Der Angst aus dem Rausch des Suchens aufzuwachen, weil die Sehnsucht die Ernüchterung in die Zukunft schiebt, die Ernüchterung darüber, dass dieses Sehnen ein Suchen nach Bildern war, die so gar nicht existieren.

Yves Rechsteiner, 1974 in Basel geboren ist Musiker, Dichter und nennt sich «Liebhaber des unkonventionellen und bohemianischen Lebens» mit zahlreichen, ausgedehnten Aufenthalten und Reisen rund um den Globus. Yves Rechsteiner schreibt Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke, Lyrik und längere Prosa. Sein Debütroman «Als läge dort tot der Vater» ist 2015 bei Marta Press erschienen.

Dina Sikirić «Was den Fluss bewegt», Waldgut

Es gibt Menschen, die eine Geschichte, ihre Geschichte so lange mit sich herumtragen, dass in dieser Zeit, in der sich die Geschichte unweigerlich durch Erfahungen und Distanz verändert, nicht nur eine Konzentration geschieht, sondern eine Verwandlung. Bei Dina Sikirić gar noch mehr; ein sprachlich gewachsenes Konzentrat, das nicht trieft und es schafft, ganz mit dem Bewusstsein jenes Kindes zu sehen, das diese Geschichte erzählt.

Mutter und Tochter verlassen 1960 das jugoslawische Zagreb und versuchen in der Stadt am Flussknie, in Basel, ein neues Leben zu beginnen. Die Mutter, weil sie vor einer wiederum zerbrochenen Liebe flieht, die Tochter, weil sie mit fünf Jahren nicht gefragt wird. Erst begegnet den beiden das Fremde freundlich, selbst die Stadt im Winter. Doch als sich die Mutter wegen langer Arbeitszeiten gezwungen sieht, ihre Tochter ausser an den Sonntagen in ein Heim zu img_0118geben, verändert sich alles. Was in den ersten Wochen zusammen mit der Mutter als Schicksalsgemeinschaft für das Kind zur Idylle wurde, schlägt mit einem Mal um in ein jahrelanges Wechselbad zwischen eisiger Kälte und überschäumender Sinnlichkeit. Da nützt auch der ausgesprochene Trost der Mutter nichts: «Wer weiss mein Kind, was den Fluss bewegt…»

Das erste, von Nonnen, von schwarzen Vögeln, geleitete Kinder- und Waisenhaus direkt am Rhein nimmt das Kind entgegen, zieht es aus, kleidet es «neu» ein und setzt es, weil so jung, mit einem Bilderbuch an einen Tisch. Ein weisser Schlafsaal, keine Berühungen, kein Gutenachtkuss, nur Strenge, Drill und eine Sprache, die das Kind verstummen lässt. Neben der Fremde, dem das Kind wie mit einem Kokon eingeschnürt zu trotzen versucht, ist da noch das Bestreben der heiligen Frauen, das heidnische Kind in den Schoss der Kirche zu führen.

Da ist keine Anklage. Im Gegenteil. Sogar Witz ist zu finden, wenn das Kind von den eigenartigen Gebeten der schwarzen Vögel erzählt «Pet frunz» was erst viel später zu «Bitt für uns» wird. Dina Sikirić erzählt äusserst behutsam, beschreibt das schmerzhafte Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland, zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre.

«Was den Fluss bewegt» von Dina Sikirić ist das dritte Buch aus der Reihe «waldgut zoom», einer neuen Reihe für junge Literatur im Waldgut Verlag: Frisch, neue Formen für gute Ideen, ungewohnt bis unbrav, hochinteressant bis kühn. Ob melancholisch, traurig, fröhlich, witzig. Jedes Buch ein anderes Lesefest.» Was immer Dina Sikirićs Buch ist, es ist gelungen, nicht nur inhaltlich, formal und sprachlich, sondern auch haptisch. Bücher aus dem Waldgut Verlag sind Perlen!

Fragen an Dina Sikirić:

Ihr Herkunftsland unterschied sich damals sehr von ihrem Ankunftsland, erst recht aus der Sicht jenes Kindes, das sich in einem von Nonnen geführten Kinderheim nach Heimat sehnt. Sind Herkunfts- und Ankunftsland durch Zeit und ihre Geschichte nicht unvereinbar entfernt voneinander geworden?
Die Geschichte, vor allem jene meines Herkunftslandes, war in den letzten Jahrzehnten sehr bewegt, ja erschütternd. Für mich sind die beiden Länder Herkunfts- und Ankunftsland immer sehr verschieden gewesen, auf eine gewisse Weise «unvereinbar». Vereint habe ich sie jedoch in mir, und dies ist immer möglich. Da können sie immer nebeneinander bestehen in ihrer großen Unterschiedlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ganzes (das konnten sie nie), sondern als zwei eigene, auch widersprüchliche Welten. Ich habe deren im Laufe meines Lebens noch mehrere kennengelernt und in mein Dasein integriert: unterschiedliche, oft widersprüchliche, ganz und gar «ungleiche» Welten, die jedoch alle bestehen, und daher, wenn man den Blick weitet, alle Teil der Welt sind, und alle miteinander, diese ausmachen.

Sie schaffen es erstaunlich, diese Erzählung aus einer «versöhnlichern» Distanz geschrieben zu haben. Stimmt das?
Ich habe die Erzählung nicht bewusst aus einer «versönlichen Distanz» geschrieben, mich jedoch daran gehalten, aus der Sicht des Kindes, das ich damals war, zu erzählen, Erwachsenenkommentare und -kritik wegzulassen, denn ein Kind spürt zwar sehr wohl, ob etwas schön und wohltuend ist oder nicht, es nimmt jedoch alles einfach erstmal auf und konzentriert sich darauf, im Augenblick damit so gut es geht umzugehen. Ich fand, dass diese Haltung für meine Erzählung die richtige ist. Die erwachsenen Leser können sich somit ebenfalls mit einem offenen, erstmal nicht urteilenden Blick, dem Erzählten öffnen und zugleich oder hinterher kritisch darüber nachdenken. Diese «versönliche» Haltung mag einfach auch ein Charakterzug von mir sein.

«Fremd sein» beschäftigt jede(n). Jene als Bedrohung von aussen, andere als solche von innen. Dabei kann «Helfen wollen» dem Fremdsein und Fremdwerden erst recht in die Hände arbeiten. Die Nonnen damals sind deutliches Sinnbild. Ist «Helfen wollen» nicht mehr Zeichen von Entfernung als eine Chance zur Nähe?Ich glaube, es kommt sehr darauf an, WIE man helfen will und hilft! Wenn man erwartet, dass derjenige, dem man hilft, sich dafür eigenen Ansprüchen und Erwartungen anpassen oder gar unterordnen muss, wirkt das Helfenwollen gewiss noch mehr entfremdend. Wenn man aber hilft, indem man jemandem beisteht, sich so sicher, geschützt und wohl als möglich in einer neuen, fremden Umgebung zu fühlen, ohne von ihm dafür Verleugnung seiner selbst und seiner Traditionen zu verlangen, so ist im Helfen auch Annäherung, ja manchmal sogar echte Nähe möglich. Das geschieht im privaten Bereich (wenn man einem einzelnen Menschen beisteht und hilft) ebenso wie in grösserem Ausmaß, bei der Flüchtlingshilfe. Die Haltung: «Ich oder Wir sind besser, wissen es besser, sind kultivierter, und was es dergleichen mehr gibt, hat beim Helfen nichts zu suchen.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Nähe erlebt oder erfährt man oft mit einem fremden Menschen direkter als mit solchen, die man schon lange kennt, und mit denen der Austausch «eingespielt» ist, d.h. oftmals routiniert.
Viele Autoren haben diese Nähe zwischen Fremden und Entfremdung zwischen vermeintlich Nahen schon formuliert. Fremdheit ist ja auch immer eine Frage der Perspektive.

 Vielen Dank am die Autorin für die Antworten!

img_01161955 in Zagreb geboren, in Basel aufgewachsen. Dina Sikirić studierte an der Schauspielakademie Zürich und arbeitete als Schauspielerin an verschiedenen deutschsprachigen Theatern (u.a. in Basel, Stuttgart und Freiburg). Nach dem Studium der persischen, spanischen, italienischen und portugiesischen Sprache und Kultur war sie als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätig. Sie lebte in Deutschland, Frankreich, Madrid, London und auf Mauritius; seit 2007 lebt sie wieder in Basel. «Was den Fluss bewegt» ist ihr erstes Buchprojekt.