„Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Lukas Bärfuss im Literaturhaus Thurgau

Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss

Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.

Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.

Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.

Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.

Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?

Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“
In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.

Rezension von «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

«Es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden…» Artur Klinaŭ im Gespräch mit Lukas Bärfuss


bearbeitet und übersetzt von Iryna Herasimovich 

Lukas Bärfuss: Belarus. 207000 Quadratkilometer, damit ungefähr viermal so gross wie die Schweiz. 9,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Minsk. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung steht das Land auf Rang 53 von etwa 170. Unabhängigkeit seit 1991. Das erste Staatsoberhaupt Stanislau Schuschkewitsch ist im Mai 2022 gestorben. Seit 1994 ist Aliaksandr Lukaschenka an der Macht. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 abgewählt, trotzdem an der Macht geblieben. Danach Proteste, Revolution, brutale Unterdrückung. Man geht von 33000 Verhaftungen aus. Und immer noch sollen mehr als 800 politische Häftlinge in den Gefängnissen sitzen.

Eine der Verhafteten war auch Marta, Artur Klinaŭs Tochter. Artur Klinaŭ ist Autor, Architekt, Architekturhistoriker, im deutschsprachigen Raum zuerst bekannt geworden mit einem Porträt der Sonnenstadt der Träume: «Minsk». Ein Buch, das tief in die europäische Geschichte führt, in den Traum des neuen Menschen, in den Stalinismus, in die Killing Fields.

Sie sind Herausgeber. Sie haben sich ein Künstlerdorf aufgebaut, und Sie haben gerade ein Buch publiziert «Acht Tage Revolution». Ein dokumentarisches Journal aus Minsk. Aber bevor wir über all diese Dinge reden, erlauben Sie mir zuerst eine persönliche Frage. Sie sind 1965 geboren. Wie war Ihre Kindheit? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Aus welcher Familie stammen Sie? Was war Ihre intellektuelle, geistige Entwicklung?

Artur Klinaŭ: Ich hatte eine glückliche sowjetische Kindheit. Wie ich es in «Minsk. Sonnenstadt der Träume» beschreibe, bin ich in einem Land des Glücks und in einer Stadt des Glücks geboren. Und das war die Wahrheit, weil wir aufrichtig daran geglaubt haben, dass wir in dem besten, schönsten, fantastischsten Land leben.

In diesem Buch gibt es zwei Linien. Die eine Linie ist die Geschichte des kleinen Jungen, der eben im Land des Glücks aufwächst – und es geht dem Jungen da wirklich gut. Und die andere Linie, das ist die desselben Jungen als Erwachsener, der diese Stadt mit einer ganz anderen kritischen Optik betrachtet und feststellen muss, dass im Hintergrund des Glücks etwas ganz anderes war. Hinter der Schönheit, die sich als Dekoration entpuppt, findet er das Leid und die Schrecken der Realität.

Ich komme aus einer einfachen Familie: Mein Vater war Künstler, und zwar ein antisowjetischer. Er konnte gar nichts mit der sowjetischen Macht anfangen, und sein Dissidententum hat er in gewissem Sinne an mich vererbt.

Die Mutter war eine Kommunistin, eine leidenschaftliche dazu. Sie trat auf Parteitagen auf, hatte einen Posten inne, keinen hohen, aber immerhin. In dieser Familie einer Kommunistin und eines Antisowjetschiks verbrachte ich also meine glückliche Kindheit.

Lukas Bärfuss: Ich hatte bei meiner Frage natürlich einen kleinen Hintergedanken. Es ging mir vor allem um die Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und vielleicht kann ich das kurz auffächern: Es gibt die Behauptung, dass es am 24. Februar 2022 eine Zeitenwende gegeben habe, dass seither alles verändert sei. Und viele, wenn nicht alle Gewissheiten, die wir auf der politischen Ebene hatten und auf der wirtschaftlichen oder geostrategischen, nicht mehr gültig seien. Wie erleben Sie diese Veränderung in der westlichen Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, dass Sie einen Vorsprung haben, dass Sie sehr viel früher diese Desillusionierung über das wahre Wesen der Diktatur und von Putin hatten.

Und noch eine kleine Ergänzung: Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Situation in Belarus, Russland und der Ukraine. Wir können das nur in der Gesamtheit begreifen. Das ist das eine. Und das andere: Man spricht häufig von diesen Ländern als »in Osteuropa liegend«. Aber sie sind natürlich sehr zentral für die europäische Geschichte.

Artur Klinaŭ: Die Zeitenwende, von der heute so oft die Rede ist, muss man natürlich perspektivisch betrachten. Das war und bleibt ein Prozess, während dessen es einige Wendepunkte gibt. Wann dieser Prozess im Kopf von Putin bzw. in seinem System entstand, kann nur er selbst wissen. Ich weiss aber noch, wann ich diese Wende gespürt habe.

Es gab einige Stationen. Zu den ersten kann man zum Beispiel die Münchner Rede von Putin 2007 zählen, oder den Krieg in Georgien. Ich habe aber die Zeitenwende am deutlichsten 2014, mit der Okkupation der Krim und dem Krieg im Donbass gespürt.

Ich kann mich sogar sehr genau an diese Nacht erinnern. Das war im Frühling 2014. Auf einer Duma-Sitzung wurde der Beschluss verabschiedet, dass russische Truppen auch ausserhalb von Russland eingesetzt werden können. Da war mir klar: Die Welt wird nie mehr so wie früher sein. Die neue Epoche bedeutet die Rückkehr der Ordnung, in der keine Normen mehr gelten, keine Vereinbarungen, sondern nur das Recht des Stärkeren. Eine Katastrophe.

Vor diesen Ereignissen haben wir in dem Gefühl gelebt: Lukaschenkas System ist nicht gut, aber auch nicht auf Dauer. Irgendwann geht das vorbei. Und Belarus hat eine Zukunft.

Aber die Ereignisse im Donbass und auf der Krim vermittelten mir das Gefühl: Belarus ist als Nächstes dran nach der Ukraine.

Diese Erfahrung des Bruchs war sehr schwer für mich, das war eine echte existentielle Krise. Ich konnte gar nichts schreiben, da ich verstand, dass all meine Sujets im früheren, friedlichen Leben geblieben waren. Alles kippte um. So habe ich ein Haus in einem verlassenen Dorf gekauft und begann das Künstlerdorf Kaptaruny aufzubauen. Das war eine Art Flucht für mich. Ich wollte vor dem Krieg fliehen, was mir aber nicht gelungen ist.

Artur Klinau, Lukas Bärfuss und die Übersetzerin Iryna Herasimovich unterwegs in Minsk 2015

Lukas Bärfuss: Waren Sie damals alleine mit diesem Bewusstsein, mit diesem Wissen, mit diesen Einschätzungen? Oder war das eine verbreitete Ansicht über die Zeit?

Artur Klinaŭ: Ich denke, das haben alle gespürt. Selbst die belarussische Macht hat das gespürt. Zum ersten Mal haben Sie damals ernsthafte Versuche unternommen, sich mit dem Westen anzufreunden und gewisse Garantien vom Westen zu bekommen. Und eine Zeit lang lief das gut. Belarus driftete nach und nach in Richtung Europa und das war ein sehr positiver Prozess. Dann kam dieser Prozess zum Stillstand 2020, mit der Revolution in Belarus.

Das ist kein einfaches und kein eindeutiges Thema. Vielleicht enttäusche ich jetzt viele, aber ich muss sagen, dass ich dieser Revolution von Anfang an mit grosser Skepsis entgegenblickte. Zu risikoreich war die Situation für das Land. Ich wusste, das wird kein gutes Ende nehmen. Erst jetzt wird deutlich, dass das ebenso zu dem grossen Plan des Kremls gehörte.

Lukas Bärfuss: Ich möchte noch kurz einen Schritt zurückgehen: Sie haben gesagt, dass es ein Bewusstsein gab 2014, dass sich etwas verändert hat, sogar in der belarussischen Führung. Wollen wir jetzt versuchen, das extrem komplizierte Verhältnis vom Regime in Belarus zu jenem in Moskau noch ein bisschen zu erörtern?

Artur Klinaŭ: Das ist ein sehr komplexes Thema, die Beziehungen zwischen Belarus und Russland. Man muss vor allem sagen, dass die Gefahr einer Vereinnahmung, auch vor 2014 schon da war. Allerdings waren die Methoden damals anders. Da hat man eine Inkorporierung durch politische Vereinbarungen und durch Wirtschaft angestrebt. 2014 entstand die Gefahr, dass die Inkorporierung ohne jeglichen rechtlichen Rahmen verläuft, als direkte Annexion. Belarus musste die ganze Zeit vor dem Maul des Raubtiers balancieren.

Dabei hatte Belarus nie so viel Potenzial, sich zu wehren, wie es mit der Ukraine der Fall ist. Auch wenn das unglaublich schwer ist, aber die Ukraine hat eine Chance, der russischen Expansion Widerstand zu leisten. Im Fall von Belarus ist diese Chance gar nicht gegeben. Das Land ist 16 Mal kleiner als Russland, die Eroberung wäre blitzschnell gegangen.

Der einzige Weg, den ich für Belarus sah, war der Weg einer Evolution, einer schrittweisen Bewegung Richtung Westen. Nach und nach. Und deswegen war ich sehr skeptisch, als die Revolution 2020 kam, weil ich an die schrittweise Annäherung an den Westen geglaubt habe, eine Annäherung auf allen Ebenen, auf der Regierungsebene, auf der gesellschaftlichen Ebene etc.

Die belarussische Revolution hatte gar keine Chance, zu gewinnen. Auch wenn wir uns hypothetisch vorstellen, dass das Regime gefallen wäre, wären die russischen Truppen doch einmarschiert.

Lukas Bärfuss: Aber es gab ja diese Wahlfälschung und das war nicht die erste Wahlfälschung. Und die Repressionen waren ja auch nichts Neues. Was ist in diesem August 2020 passiert? Was ist dann passiert, dass die Menschen in Belarus diese Situation nicht mehr akzeptiert haben, wie bei den Wahlen zuvor? Was war in diesem Moment anders, dass das zu dieser Revolution gekommen ist?

Artur Klinaŭ: Wenn es um die belarussische Revolution geht, ist es notwendig, zwei Linien auseinanderzuhalten. Zum einen das Szenario, das vom Kreml bzw. von kremlnahen Kreisen inspiriert wurde, eine Art gelenkte, kontrollierte Revolution. Und die zweite Linie bilden die Ereignisse nach den Wahlen, die keiner Kontrolle unterlagen, und die Reaktion auf die Gewalt waren.

Es ist schwer, darüber zu sprechen, weil es in der Revolution natürlich viele Menschen gab, die ganz aufrichtig dabei waren, die sich von der Macht sehr gekränkt fühlten und empört waren. Auch wenn sie die Gefahr seitens Russlands sahen, konnten sie nicht schweigen, sie mussten auf die Strasse gehen.

Aber im Frühjahr 2020 war es für mich offensichtlich, dass der Kreml eine Destabilisierung in Belarus anstrebt. Er wollte die Annäherung von Belarus an den Westen unterwandern und das Land fest an Moskau binden. Aber nicht alles ist gelungen. Der Aufstand an sich konnte wie gesagt vom Kreml nicht kontrolliert werden. All die Zusammenhänge sind sehr komplex und verwoben.

Das war ein klassisches Schema, das seit Jahrtausenden von Imperien benutzt wird. Das Prinzip heisst »teile und herrsche«. Der Kreml wollte sowohl die belarussische Gesellschaft als auch die Macht schwächen, um diese Territorien an die ehemalige Metropole zu binden.

Lukas Bärfuss: Erlauben Sie mir einen ganz kurzen Ausflug in ein mir persönlich sehr am Herzen liegendes Terrain, nämlich die Sprache. Sie beschreiben sehr anschaulich, was mit der Sprache in einer Diktatur passiert. Die Sprache der Diktatur selbst. Welche Funktion hat die Sprache in einem solchen Moment? In einem solchen Regime? In einer solchen revolutionären Situation?

Artur Klinaŭ: Ich hatte das Glück, sozusagen in zwei totalitären Systemen zu leben. Und ich kann sagen, dass die Sprache des sowjetischen Systems sich sehr unterscheidet von der Sprache des modernen diktatorischen Systems. Die Sprache des sowjetischen Systems war sehr schlicht, sie hat sich vereinfacht bis zu einer Leere. Ich denke an die Parolen, die wir an den Hausmauern hatten, zum Beispiel »Wir sind für den Frieden auf der ganzen Welt« oder »Unser Ziel ist Kommunismus«. Das war eine sehr arme Sprache.

Die Sprache des neuen Totalitarismus ist ganz anders. Sie muss sich in dem Zeitalter der Information behaupten, wo es viel Infomüll gibt, den diese Sprache zu übertönen hat. Sie ist nicht mehr in einem leeren Raum. Nun gibt es Werbung, soziale Netzwerke etc. Deswegen muss sie andere Methoden nutzen. Eine von denen ist zum Beispiel der Rückgriff auf eine einfache und starke Emotion, und zwar auf Hass. Die Sprache des neuen Totalitarismus ist die Sprache des Hasses. Sie versucht, die Gegenseite zu entmenschlichen. Dabei können diese Gegenseite alle sein: Frauen, Feministinnen, Homosexuelle, Nationalisten, Imperialisten, Ukrainer – alle werden in einen Topf geworden. Wer nicht zu der Sekte gehört, ist auf der Gegenseite, er wird gehasst.

Das macht einen grossen Unterschied zur Sprache der Sowjetunion. Die Sowjetunion war zwar auch belagert von Feinden, aber da ging es eher um Verachtung, als um Hass, und man hatte ein gewisses Mitgefühl mit den Arbeitern in westlichen Ländern, die unter den Imperialisten leiden mussten. Der Hass war konkret gerichtet gegen die Haie des Imperialismus, aber nicht gegen alle Menschen.

Ein weiteres wichtiges Merkmal der neuen Sprache des Totalitarismus ist, dass sie paradox ist. Sie operiert die ganze Zeit mit sehr paradoxen Aussagen wie zum Beispiel »Frieden ist Krieg«, »Das Gute ist das Böse«, »Das Schwarze ist das Weisse« und so weiter.

Lukas Bärfuss: Wo haben wir das gelesen? In welchem Buch? Bei George Orwell, oder?

Artur Klinaŭ: Ja, genau.

Lukas Bärfuss: Was mich immer wieder beschäftigt, ist die Vorstellung, dass Sie in all diesen Jahren ganz unmittelbar und sehr direkt diese Diktatur an ihrem Leibe zu spüren bekamen… Wie behält man sich die Autorität über das eigene Denken? Wie gelingt Ihnen diese Luzidität und diese Genauigkeit?

Artur Klinaŭ: Das ist ein Problem. Im damaligen totalitären System, das in einer gewissen informationellen Leere war, brauchte man keine laute Stimme, um gehört zu werden, auch ein Flüstern war zu hören. Jetzt, in diesem informellen Durcheinander, in diesem Infomüll ist es sehr schwierig für einen Autor, so laut zu schreien, dass er gehört wird. Deswegen spielt ein Schriftsteller jetzt eine viel geringere Rolle. Auch wenn es gelingt, in dieser Situation zu schreien, gibt es keinerlei Garantie, dass man von den Menschen gehört wird, an die man sich wendet. Von den »kompetenten Organen«, dem Geheimdienst, aber schon. Selbst in diesem Infomüll verfolgen sie sehr genau, wer da was geschrieben, wer da was geflüstert hat. Im digitalen Zeitalter ist es sehr einfach, eine Gesellschaft zu kontrollieren.

Lukas Bärfuss: Es ist immer wieder erschreckend, lieber Artur Klinaŭ, wie lehrreich die Gespräche mit ihnen sind. Und ich würde wirklich gerne über den Hass und über die Methoden dieses Hasses, mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht aus diesem Gespräch hinausgehen, ohne über das Exil gesprochen zu haben. Die Erfahrung des Exils ist der menschlichen Geschichte eingeschrieben. Sie ist Teil der Literatur. Sie ist auch sogar Teil der christlichen Heilsgeschichte, Abraham und Ovid, und Büchner in Zürich, und Else Lasker-Schüler in Zürich, und ewige Schande über diese Stadt und über die Fremdenpolizei in diesem Kanton. Wir schulden den Exilierten viel, aber das wird ihnen in ihrem Alltag nur wenig helfen. Und meine Frage ist: Wie ist Ihre Situation zurzeit?

Artur Klinaŭ: Ich halte mich nicht für einen Exilierten. Wenn es um mich geht, sage ich, ich bin auf einer kreativen Dienstreise. Ich möchte unbedingt zurück und habe das auch vor. Vor allen Dingen, weil ich dort das Künstlerdorf Kaptaruny habe, das ich gar nicht für lange Zeit verlassen kann.

Aber es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden, egal wo man ist, in Belarus oder hier, weil man diese Katastrophe sieht. Und man fühlt sich nicht imstande, irgendwas dagegen zu unternehmen. Man fühlt sich ohnmächtig und diese Ohnmacht paralysiert und demoralisiert.

Für Belarus ist das eine existenzielle Katastrophe. In der Ukraine ist die Lage ganz schwer, da herrscht Krieg, aber die Ukrainer haben eine Vision von der Zukunft, sie haben eine Zukunft. Sie wissen, wohin sie gehen.

In Belarus haben wir das nicht. In Belarus haben wir eine Sackgasse. Es gibt keine Vision von der Zukunft. Alle Wege sind zu. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Katastrophe. Belarussen werden als Co-Aggressoren gebrandmarkt. Dabei ist Belarus viel mehr Geisel und Opfer als Aggressor.

Um in dieser Situation nicht wahnsinnig, nicht alkoholsüchtig zu werden, sich nicht aufzuhängen, nicht depressiv zu werden, brauche ich einen gewissen Rahmen. Mir hilft, wenn ich mir ein grosses neues Projekt überlege, in das ich eintauchen und in dem ich überleben kann. So war es 2014 mit Kaptaruny. Jetzt schreibe ich an einem grossen Buch. Vielleicht wird es sogar eine Reihe sein. Das ist eine Forschungsarbeit über Imperien, über die Ideen, die in Imperien herrschen, über die Machtverhältnisse, über die Grundlagen der Macht in Imperien.

Lukas Bärfuss: Wie reich ein Gespräch ist, sieht man immer daran, wie unerlöst man bleibt, wenn die Zeit aufgebraucht ist. Und da sind wir jetzt. Ich finde, Sie sollten sich beeilen mit diesem Buch. Ich will es nämlich lesen. Ich bin sehr dankbar, dass Sie Zeit hatten, auf Ihrer kreativen Dienstreise auch einen Zwischenstopp in Zürich zu machen. Ich habe das Gefühl, es warten noch 100000 Fragen und wir sollten das fortsetzen und warum eigentlich auch nicht in Kaptaruny?

Artur Klinaŭ: Ich hoffe sehr, dass wir das bereits in einem Jahr bei unserem Festival Literature Intermarium tun können.

(Das Gespräch fand am 5. Mai 2022 im Literaturhaus Zürich statt und war eine Kooperationsveranstaltung mit dem Slawischen Seminar der Universität Zürich und der Hochschule der Künste Bern. Die schriftliche Fassung ist ein Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2023 erscheinenden Themenheft «Befragung am Nullpunkt. Unabhängige Kultur in Belarus zwischen Repression und Aufbruch», hg. von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller.)

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aus dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas Weiler

Artur Klinaŭ, geboren 1965, Schriftsteller und Architekt, gilt als einer der wichtigsten Künstler seines Landes und lebt gegenwärtig im Exil. Er ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2022.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und Publizist. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Am 23. Februar ist Lukas Bärfuss Gast im Literaturhaus Thurgau.

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Seit 2018 kuratiert sie den über­setzerischen Teil des Forums «Literature Intermarium» im Künstlerdorf Kaptaruny. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Beitragsbilder © Maxim Korostelyov

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung», Wallstein

Das Selbstverständnis „Die Krone der Schöpfung“ zu sein, ist angesichts der aktuellen Lage der Menschheit manchmal nur noch schwer nachzuvollziehen. In seinem neuen Essayband sind Beiträge aus dem Zeitraum von 2018 bis 2020 gesammelt. So etwas wie den Jahren vor und nach der „neuen Zeitrechnung“.

Die meisten dieser gesammelten Essays sind im Sonntags-Blick erschienen und garantieren schon einmal für adäquate Länge und Verständlichkeit, auch wenn das Lukas Bärfuss gar nicht beweisen muss. Lukas Bärfuss ist nicht der klassische Intellektuelle, studiert, promoviert, gebettet und gepolstert. Lukas Bärfuss ist feiner Beobachter, weder aus der Vogel- noch aus elitärer Perspektive. Kein Polterer, der sich in seinem übervollen Büro hinter seinen Papieren filmen lässt und die Welt mit ein paar Behauptungen und kernigen Sätzen erklärt. Keiner der Besserwisser, die sich auf Privatkanälen tummeln und ihren FollowerInnen den Kopf verdrehen.

Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung» Essays, Wallstein, 2020, 174 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3831-9

Und trotzdem sind seine Essays mit reichlich Pfeffer und Salz geschrieben, keine kopflastigen Pamphlete, sondern feinsinnige Analysen zu aktuellen Fragen der Zeit, von scheinbar kleinen Themen, hinter denen sich die grossen verstecken. Lukas Barfuss will verstehen und nimmt mich mit. Er sieht tief und will verstehen. Er denkt nach und schreibt. Fähigkeiten, die immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden, weil Selbstinszenierung und Selbstüberschätzung grassieren, sei es im Kleinen bis hin zur Weltpolitik. Die Wirren um Trumps Präsidentschaft sind ein Beispiel dafür.

«Die Geschichte bewegt sich nicht im Ochsengang, nicht in einem gleichmässigen Trott. Sie gleicht eher den wilden Sprüngen eines Pferdes, das nach Tagen im Stall wieder auf die Weide gelassen wird.»

Und Lukas Bärfuss ist Leser von Klassikern, wohl auch dort Vertreter einer aussterbenden Kaste, die sich nicht von Aktualität und Moderne, von Hype und Pointe leiten. Er liest und kombiniert. Er denkt nach, weiss um die menschlichen Schwächen und schlägt mir damit nicht um die Ohren. Was er schreibt, spornt mich an, nimmt mich mit. Bärfuss moralisiert nur rudimentär. Was als Moral durchscheint, ist an seine tiefe Betroffenheit gebunden.

„Die Krone der Schöpfung“ ist Lesegenuss und Denkfutter, vielleicht auch Lesefutter und Denkgenuss, auch wenn in manchen seiner Texte unterschwellig eine ganz ordentliche Portion Wut steckt. Aber nie eine destruktive Wut, nie eine Wut, die sich bei mir als Leser fortsetzen soll. Sondern in allen seinen Texten, Essays schwingt viel Respekt!

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht 2019 den
Georg-Büchner-Preis an Lukas Bärfuss, der mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum stets neu und anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens erkundet. In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache durchdringen sich in seinen Dramen und Romanen nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit. Diese Qualitäten prägen zugleich Lukas Bärfuss‘ Essays, in denen er die heutige Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennendem Blick begleitet.

© Stefano de Marchi

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun / Schweiz, ist Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.
Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt u. a.: Berliner Literaturpreis (2013), Schweizer Buchpreis (für «Koala», 2014), Nicolas-Born-Preis (2015). Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Hagard» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Meienberg

20 Jahre Literaturhaus Zürich

Das Literaturhaus Zürich feiert sein 20jähriges Bestehen. Ich gratuliere. 1834 als Museums- und Lesegesellschaft gegründet, mit grossem Lesesaal und öffentlicher Bibliothek, wurde das ehrenwerte Haus am Limmatquai 1999 ein Literaturhaus, das in seinen 20 Jahren Dienst an der Literatur zu einem bedeutenden Dreh- und Angelpunkt nationaler und internationaler Wortkunst wurde.

Wem Literatur mehr als nur Unterhaltung ist, wenn Bücher zu Türen und Toren werden, wenn ich mich als Leser nicht mehr begnügen kann allein mit dem, was zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist, dann beginne ich mich für das zu interessieren, was dahinter steckt. Dann will ich wissen, wer sich hinter dem Namen auf dem Cover verbirgt, wer geschrieben hat und warum. Dann werden Lesungen zu Begegnungen mit einer anderen Welt, die verschlossen bleibt, wenn mich nur die Spur interessiert, die der Text im Buch zeichnet.

Lesungen sind Begegnungen, solche mit Autorinnen und Autoren, aber auch solche mit Leserinnen und Lesern. Das, was im Schreiben und Lesen meist zurückgezogen und in innerer Stille passiert, öffnet sich und wird zur Gemeinsamkeit, Lesungen das, was, was das Schreiben und Lesen selbst nicht bieten kann. Für den Schreibenden die Reaktion auf das, was er schreibt, für den Lesenden darauf, was andere fühlen, denken, auslösen.

Dabei sind mir etliche Lesungen, die ich in den vergangenen Jahren besuchte unauslöschlich in Erinnerung geblieben; jene mit Anne Weber, der ich zuvor schrieb und die mich überraschend in ein Gespräch verwickelte, jene mit José Eduardo Agualusa und seinem Übersetzer Michael Kegler, die sich beide freuten über ein von Hand geschriebenes und gezeichnetes Literaturblatt, jene mit Urs Faes, der mich mit Nähe adelte oder eine Gesprächsrunde im Oberschoss des Literaturhauses, bei der ich erlebte, wie viel Leidenschaft Ruth Schweikert entwickeln kann, wenn es um konstruktive Kritik an einem Text geht.

Auch wenn ich nicht in Zürich wohne und der Weg zum Literaturhaus ein weiter ist, bleibt dieses Haus auch in Zukunft ein wichtiges. Eines, das beispielhaft sein muss in einer Zeit, in der man merkt, dass digitaler Austausch kein Ersatz sein kann für das, was an Orten wie dem Literaturhaus Zürich geschieht. Ich danke dem Haus, dem Team, das es führt (und hoffe, dass sich das, was an anderen Orten zaghaft im Entstehen ist, an dem orientiert, was sich bewährt) und all den Institutionen, die ein solches Unternehmen möglich machen.

Urs Faes

Judith Keller

 

Christian Haller, Ruth Schweikert, Franz Hohler

Gesa Schneider

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Lukas Bärfuss «Hagard», Wallstein

Lukas Bärfuss wäre nicht Lukas Bärfuss, wenn sein Roman «Hagard» einfach nur gefallen würde. Er lässt mich verunsichert, leicht verstört zurück. Er besticht durch Schärfe und Brisanz, durch Sprache und Vielschichtigkeit. Lukas Bärfuss ist mit «Hagard» ganz Lukas Bärfuss!

«Ich weiss alles, und begreife nichts.»

Ein Mann sieht im Gewimmel der Menschen am Ausgang eines Kaufhauses am Bellevue ein Paar pflaumenblaue Ballerinas, nicht mehr, aber genug, um aus einer Laune heraus dieser einen Frau mit diesen Schuhen an den Füssen zu folgen. Er ein Mann, eingespannt in Verpflichtungen. Sie eine Frau, wahrscheinlich Mitte zwanzig, ohne dass er ihr Gesicht hätte erkennen können. Er sieht sie als Zeichen, folgt ihr zu Fuss und im Zug durch die ganze Stadt, weg von seinem Leben, weggerissen aus seiner Normalität, aus einer Laune heraus, dem Reflex folgend, sich sicher, für einmal das Richtige zu tun. Im Wissen darum, dass alles, jede wirkliche Begegnung die Missachtung einer Grenze verlangt, eine Grenze, die es zu übertreten gilt. Nie sonst käme es zum ersten Kuss, zu einer Berührung. Nie gingen Türen auf, keine Lebensgeschichte fände ihren Anfang. Eigentlich war da ein Geschäft um ein Stück Land, ein Treffen mit einem ihm unbekannten Mann. Aber auf die paar Zehntausend ist er nicht angewiesen. Wohl aber auf dieses Zeichen, dieses Ziehen, das von der Unbekannten ausgeht. Sogar seine teure Armbanduhr fällt aus dem Takt. Er verliert nicht nur die Zeit, lässt sich einnehmen von seinem Wahn, dem reissenden Sog der Sehnsucht, der Lust sich entziehen zu lassen, weg von seinen Pflichten, dem Geschäft, dem Trott, den Gewohnheiten, den Resten seiner Familie. Plötzlich scheint sich seine Gegenwart zu klären, alles eine Folge unmissverständlicher Zeichen, eine Folge von Botschaften, deren Spur er um keinen Preis verlieren will. Während sie, die Verfolgte, die Erahnte, immer mehr Form annimmt, verliert er die seine, löst er sich langsam auf, wird zu seiner Umgebung, von der er sich ein Leben lang mit Bedacht abzugrenzen versuchte. So wie sich der Wissenschaftler auf seiner Reise ins Ungewisse darum bemüht, den Verstand nicht zu verlieren auf der Suche nach den bisher verborgenen Wundern.

Zugegeben, Lukas Bärfuss dritter Roman «Hagard» ist ein seltsamer Roman. Keine Geschichte, die das Leben zu erklären versucht, nicht einmal das Chaos, in dem sich der Mensch in der Gegenwart suhlt. Während lange Strecken des Romans den Weg und den Wahn des Mannes beschreiben, sind die ersten Seiten genau das, was man von Lukas Bärfuss erwartet: ein zuweilen beissender, aber stets erfrischender Blick auf die Gegenwart, die Dekadenz der Gleichgültigkeit und Ignoranz, ein scharfsinniger Kommentar auf das, was für Lukas Bärfuss «den Untergang der Welt» bedeutet.

Lukas Bärfuss liest am 26. Mai an den Solothurner Literaturtagen und beteiligt sich am Samstag, den 27. Mai an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Demokratie in der Krise?» mit Ruth Dällenbach (Denknetz) und dem belgischen Schriftsteller, Historiker und Archäologen David an Reybrouck .

Foto: Frederic Meyer

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun/Schweiz ist Dramatiker, Romancier und Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in etwa zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.

Titelbild: Sandra Kottonau