Lukas Bärfuss «Hagard», Wallstein

Lukas Bärfuss wäre nicht Lukas Bärfuss, wenn sein Roman «Hagard» einfach nur gefallen würde. Er lässt mich verunsichert, leicht verstört zurück. Er besticht durch Schärfe und Brisanz, durch Sprache und Vielschichtigkeit. Lukas Bärfuss ist mit «Hagard» ganz Lukas Bärfuss!

«Ich weiss alles, und begreife nichts.»

Ein Mann sieht im Gewimmel der Menschen am Ausgang eines Kaufhauses am Bellevue ein Paar pflaumenblaue Ballerinas, nicht mehr, aber genug, um aus einer Laune heraus dieser einen Frau mit diesen Schuhen an den Füssen zu folgen. Er ein Mann, eingespannt in Verpflichtungen. Sie eine Frau, wahrscheinlich Mitte zwanzig, ohne dass er ihr Gesicht hätte erkennen können. Er sieht sie als Zeichen, folgt ihr zu Fuss und im Zug durch die ganze Stadt, weg von seinem Leben, weggerissen aus seiner Normalität, aus einer Laune heraus, dem Reflex folgend, sich sicher, für einmal das Richtige zu tun. Im Wissen darum, dass alles, jede wirkliche Begegnung die Missachtung einer Grenze verlangt, eine Grenze, die es zu übertreten gilt. Nie sonst käme es zum ersten Kuss, zu einer Berührung. Nie gingen Türen auf, keine Lebensgeschichte fände ihren Anfang. Eigentlich war da ein Geschäft um ein Stück Land, ein Treffen mit einem ihm unbekannten Mann. Aber auf die paar Zehntausend ist er nicht angewiesen. Wohl aber auf dieses Zeichen, dieses Ziehen, das von der Unbekannten ausgeht. Sogar seine teure Armbanduhr fällt aus dem Takt. Er verliert nicht nur die Zeit, lässt sich einnehmen von seinem Wahn, dem reissenden Sog der Sehnsucht, der Lust sich entziehen zu lassen, weg von seinen Pflichten, dem Geschäft, dem Trott, den Gewohnheiten, den Resten seiner Familie. Plötzlich scheint sich seine Gegenwart zu klären, alles eine Folge unmissverständlicher Zeichen, eine Folge von Botschaften, deren Spur er um keinen Preis verlieren will. Während sie, die Verfolgte, die Erahnte, immer mehr Form annimmt, verliert er die seine, löst er sich langsam auf, wird zu seiner Umgebung, von der er sich ein Leben lang mit Bedacht abzugrenzen versuchte. So wie sich der Wissenschaftler auf seiner Reise ins Ungewisse darum bemüht, den Verstand nicht zu verlieren auf der Suche nach den bisher verborgenen Wundern.

Zugegeben, Lukas Bärfuss dritter Roman «Hagard» ist ein seltsamer Roman. Keine Geschichte, die das Leben zu erklären versucht, nicht einmal das Chaos, in dem sich der Mensch in der Gegenwart suhlt. Während lange Strecken des Romans den Weg und den Wahn des Mannes beschreiben, sind die ersten Seiten genau das, was man von Lukas Bärfuss erwartet: ein zuweilen beissender, aber stets erfrischender Blick auf die Gegenwart, die Dekadenz der Gleichgültigkeit und Ignoranz, ein scharfsinniger Kommentar auf das, was für Lukas Bärfuss «den Untergang der Welt» bedeutet.

Lukas Bärfuss liest am 26. Mai an den Solothurner Literaturtagen und beteiligt sich am Samstag, den 27. Mai an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Demokratie in der Krise?» mit Ruth Dällenbach (Denknetz) und dem belgischen Schriftsteller, Historiker und Archäologen David an Reybrouck .

Foto: Frederic Meyer

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun/Schweiz ist Dramatiker, Romancier und Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in etwa zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.

Titelbild: Sandra Kottonau