Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung», Wallstein

Das Selbstverständnis „Die Krone der Schöpfung“ zu sein, ist angesichts der aktuellen Lage der Menschheit manchmal nur noch schwer nachzuvollziehen. In seinem neuen Essayband sind Beiträge aus dem Zeitraum von 2018 bis 2020 gesammelt. So etwas wie den Jahren vor und nach der „neuen Zeitrechnung“.

Die meisten dieser gesammelten Essays sind im Sonntags-Blick erschienen und garantieren schon einmal für adäquate Länge und Verständlichkeit, auch wenn das Lukas Bärfuss gar nicht beweisen muss. Lukas Bärfuss ist nicht der klassische Intellektuelle, studiert, promoviert, gebettet und gepolstert. Lukas Bärfuss ist feiner Beobachter, weder aus der Vogel- noch aus elitärer Perspektive. Kein Polterer, der sich in seinem übervollen Büro hinter seinen Papieren filmen lässt und die Welt mit ein paar Behauptungen und kernigen Sätzen erklärt. Keiner der Besserwisser, die sich auf Privatkanälen tummeln und ihren FollowerInnen den Kopf verdrehen.

Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung» Essays, Wallstein, 2020, 174 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3831-9

Und trotzdem sind seine Essays mit reichlich Pfeffer und Salz geschrieben, keine kopflastigen Pamphlete, sondern feinsinnige Analysen zu aktuellen Fragen der Zeit, von scheinbar kleinen Themen, hinter denen sich die grossen verstecken. Lukas Barfuss will verstehen und nimmt mich mit. Er sieht tief und will verstehen. Er denkt nach und schreibt. Fähigkeiten, die immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden, weil Selbstinszenierung und Selbstüberschätzung grassieren, sei es im Kleinen bis hin zur Weltpolitik. Die Wirren um Trumps Präsidentschaft sind ein Beispiel dafür.

«Die Geschichte bewegt sich nicht im Ochsengang, nicht in einem gleichmässigen Trott. Sie gleicht eher den wilden Sprüngen eines Pferdes, das nach Tagen im Stall wieder auf die Weide gelassen wird.»

Und Lukas Bärfuss ist Leser von Klassikern, wohl auch dort Vertreter einer aussterbenden Kaste, die sich nicht von Aktualität und Moderne, von Hype und Pointe leiten. Er liest und kombiniert. Er denkt nach, weiss um die menschlichen Schwächen und schlägt mir damit nicht um die Ohren. Was er schreibt, spornt mich an, nimmt mich mit. Bärfuss moralisiert nur rudimentär. Was als Moral durchscheint, ist an seine tiefe Betroffenheit gebunden.

„Die Krone der Schöpfung“ ist Lesegenuss und Denkfutter, vielleicht auch Lesefutter und Denkgenuss, auch wenn in manchen seiner Texte unterschwellig eine ganz ordentliche Portion Wut steckt. Aber nie eine destruktive Wut, nie eine Wut, die sich bei mir als Leser fortsetzen soll. Sondern in allen seinen Texten, Essays schwingt viel Respekt!

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht 2019 den
Georg-Büchner-Preis an Lukas Bärfuss, der mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum stets neu und anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens erkundet. In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache durchdringen sich in seinen Dramen und Romanen nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit. Diese Qualitäten prägen zugleich Lukas Bärfuss‘ Essays, in denen er die heutige Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennendem Blick begleitet.

© Stefano de Marchi

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun / Schweiz, ist Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.
Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt u. a.: Berliner Literaturpreis (2013), Schweizer Buchpreis (für «Koala», 2014), Nicolas-Born-Preis (2015). Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Hagard» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Meienberg

Kurt Marti: Gedichte und Prosa zu seinem 100sten Geburtstag, Wallstein

Zwei Grosse der Schweizer Literatur feiern dieses Jahr ihren 100sten Geburtstag. Der eine ein Pfarrerssohn, der andere Pfarrer selbst. Der eine weit über den ganzen Globus bekannt als Säule der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der andere nicht weniger geschliffen mit seiner Sprache, aber stets im Schatten anderer geblieben. Friedrich Dürrenmatt und Kurt Marti. Der eine Stern leuchtet hell, der andere hätte auch das Zeug zu einem Fixstern.

Friedrich Dürrenmatt liebte die grosse Bühne, sei es als Theaterautor oder als Stimme der Nation. Was er drei Wochen vor seinem Tod anlässlich einer Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises dem staunenden Publikum vortrug, grub sich tief in das Bewusstsein der Gesellschaft ein. Unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ rechnete Friedrich Dürrenmatt mit der Selbstgefälligkeit der Schweiz gnadenlos ab. Man lachte und applaudierte, aber im Nachgang der Rede fielen die Reaktionen schweizweit heftig aus. Der Pfarrerssohn aus Konolfingen hielt in seiner letzten „Predigt“ der Schweiz einen unangenehm flirrenden Spiegel hin. Zum letzten Mal, beissend pointiert, brillant formuliert. Friedrich Dürrenmatts Literatur ist durchaus moralisierend. Auch seine Bilder, sein malerisches und zeichnerisches Schaffen spart nicht mit unverhohlener Anklage. Dürrenmatt zeigt nicht nur auf die wunden Flecken, er bohrt mit Vorliebe tief darin.

Kurt Marti, von dem man als Pfarrer durchaus erwarten könnte, dass er mit dem Moralfinger mahnt, sich hoch auf der Kanzel an die armen SünderInnen richtet, die in ihrer Begrenztheit am Kleinen und Grossen scheitern. Aber Kurt Marti tat dies nie, oder dann mit so viel Verständnis für die Schwächen der Menschen, dass das Moralische in der Liebe, die in seinem Schreiben steckt, kaum sicht- und hörbar wird. Kurt Marti predigt nicht, weder in seiner Prosa noch in seiner Lyrik. Umso mehr ist sie durchsetzt von der Menschenliebe des Mannes, seiner überaus feinen Wahrnehmung, seinem Witz und Schalk und seinem Gespür für das Surreale im Realen. Zugegeben, ich bin kein Marti-Fachmann. Zugegeben, bisher stand nur ein einziges Buch im Regal meiner Bibliothek („Ein Topf voll Zeit“). Aber das muss und soll sich ändern. Kurt Marti hat ein reiches Werk hinterlassen. Und wer sich wie ich in den Kosmos Kurt Marti hineinstürzen will, dem erleichtert der Wallstein Verlag mit zwei sorgfältig edierten Werken aus Kurt Martis Nachlass diesen Einstieg.

Nun veröffentlicht der Wallstein Verlag „Alphornpalast“ mit Prosatexten und einem Vorwort von Franz Hohler; Texte, die bisher unveröffentlicht oder kaum nachzulesen waren und „Hannis Äpfel“, Lyrik aus dem Nachlass mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wohl kaum ein besserer Einstieg in das vielfältige Werk Kurt Martis. Beispielhaft aus dem Prosaband „Alphornland“ hier ein Text, den der Wallstein Verlag literaturblatt.ch freundlicherweise zur Verfügung stellte:

Irrläufer

Mit vermutlich gross gedachten, dann aber nur fahrig ausgefallenen Gesten ging er laut redend durch belebte Gassen. In der Absicht offenbar, beschwören und aufrütteln zu wollen, sprach er auf das Volk ein, das jedoch an ihm vorübereilte. Manche dachten wohl, er sei besoffen. Andere wichen ihm aus, verlegen oder sogar ärgerlich und schimpfend. Aber er redete nur noch heftiger, noch lauter, geriet zeitweilig ins Brüllen. Sturmvogel oder sturmer Vogel? Eine ziemlich kauzige Erscheinung mittleren Alters jedenfalls, mit strähnig wirren Haaren und abgetragener Lederjacke. Wie, wenn sein Reden vielleicht doch bedenkenswert gewesen wäre? Gibt es denn nicht genug Alarmzeichen dafür, dass wir einer Katastrophe entgegentreiben? Alarmzeichen, die uns erschrecken und zu einem Sinneswandel bewegen müssten? Nur eben, wer schon möchte einem kauzigen Schreihals zuhören, der sich zu einer so ungeeigneten Tageszeit, es war kurz nach Mittag, die Angestellten strebten wieder ihren Büros zu, auf eine Weise ereiferte, die lächerlich wirkte? So überanstrengte er seine Stimme noch mehr, sie überschlug sich immer öfter, bis dass er nur noch heiser zu krächzen vermochte. Und plötzlich dann war er in ein schattendunkles Seitengässlein enteilt und verschwunden. Niemand folgte ihm, nicht einmal ein Polizist.

(aus „Kurt Marti Alphornpalast“, Prosatexte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Marti und Mani Matter (1970), © Kurt Marti-Stiftung

Vielen seiner Texte entspringt unmittelbare Aktualität. Es ist, als ob Kurt Marti auch mit diesem Text nicht nur die Gegenwart, sondern einen, den Nerv der Zeit trifft. Ein Entrückter mitten in den Eingespannten. Die Szenerie erinnert an einen Künstler, der auf seiner einsamen Bühne performt, nur zur falschen Zeit, am falschen Ort. Was tut Kultur anderes, als oftmals aufschrecken, um dann hinter einem Vorhang im Halbdunkel wieder abzutauchen. Dort applaudiert die Menge, um danach alles beim Alten zu lassen. 
Kurt Martis Texte rütteln am Normalen, schlagen ein anderes Licht in die Szenerie der Normalität.

2017, nach Kurt Martis Tod, am 11.Februar, fand man in seinem Nachlass in seinem Arbeitszimmer mehrere Ordner, die er nicht wie fast alles andere, dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hatte. Die folgenden zwei Gedichte, die der Wallstein Verlag literaturblatt.ch ebenfalls zur Verfügung stellte, zeigen auf der einen Seite den Schalk, den Wortwitz und seine Nähe zur Konkreten Poesie und auf der anderen Seite seine grosse Liebe zu seiner Frau Hanni Morgenthaler, mit der er Jahrzehnte verheiratet war und deren Tod ihn 2007 zum Zurückgebliebenen machte.

etüde für ballhorn

aller umfang ist schwer
man soll den tag nicht vor dem absinth loben
ein unglück kommt selten um eins
reich und reich gesellt sich gern
was hänschen nicht lernt lernt hans immer mehr
muhe recht und scheue niemand
was lange weilt wird endlich wut
wie man sich fettet so siegt man
alte liebe kostet nicht
morgenstund hat blond im mund

(aus „Hanni“)

Versuch neulich,
den Atem anzuhalten,
möglichst lange, um dir
nachfolgen zu können.
Kinderei! So simpel
lassen Atem und Leben
sich nicht abschalten,
bin kein Apparat, 
aber auch kein indischer Yogi, 
bin Witwer jetzt –
ein Zu- und Zivilstand, 
der mir total missfällt.
Das einzig Gute an ihm:
Dir ist dadurch
die Witwenschaft zum Glück
erspart geblieben.

(aus „Kurt Marti Hannis Äpfel“, Gedichte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Martis Engagement war eingetaucht in Liebe; der Liebe zu seinen Nächsten, dem Menschen überhaupt, der Schöpfung. Sein Engagement war politisch, gesellschaftlich und wirkt bis heute in die Kultur, der Literatur im Besonderen. 

© Hektor Leibundgut

Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren. Nach dem Theologiestudium in Basel bei Karl Barth wurde er Pfarrer in Niederlenz bei Lenzburg und später an der Nydeggkirche in Bern. Seit den 1950er Jahren veröffentlichte er neben theologischen und publizistischen Texten auch literarische Werke, erste Poesie- und Prosabände entstanden. Er erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Literaturpreis des Kantons Bern (1967 und 2010), den Johann-Peter-Hebel-Preis (1972) sowie den Kurt-Tucholsky-Preis (1997). Marti lebte bis zu seinem Tod 2017 in Bern.

Kurt Marti Stiftung

Beitragsbild© Im ElfenauPark, Bern (2011), © Urs Baumann

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein

Eine Frau alleine in ihrer Wohnung, dem letzten Rückzugsort in einer Zeit, in der alles zerbricht, was einmal zu ihrem Leben gehörte. Nicht bloss Familie und Beziehungen, sondern eine ganze Welt. Frankreich bricht ab in einer Diktatur, in ein Land, dass sich der Geschichte verweigert und aus Menschen bloss noch Existenzen macht.

Cécile Wajsbrot schrieb keine chronologische Geschichte. Sie nimmt mich mit in ein dystopisches Paris, in die klein gewordene Welt einer Schriftstellerin, die von rätselhafter Seite her aufgefordert wird, einen „Soundblog“ zu führen. So erzählt die Protagonistin keine Geschichte, auch nur stückweise ihre eigene. Sie schildert eine Realität, die in vielen Belangen nur wenig entfernt von der Wirklichkeit zu sein scheint. In Coronazeiten erst recht.

„Wir dachten … Wir glaubten … Wir träumten …“

In Frankreich gab es umwälzende politische und gesellschaftliche Veränderungen. In einem Frankreich, das nicht in ferner Zukunft liegt, eher in unmittelbarer Gegenwart. In einem Frankreich, einem Europa, das in vielen Belangen schon die Neigung zeigt, sich in eine beängstigende Zukunft zu begeben, eine Zukunft der totalen Kontrolle, einer Zukunft ohne Vergangenheit, in eine Zukunft, in der Kultur zur blossen Unterhaltung degradiert wird, man in Konzert- und Opernhäusern nur noch Operettenhaftes zeigt, Bücher nur noch lauwarme Unterhaltung bieten und man alles dem Erdboden gleich macht, was älter als ein Jahrzehnt ist.

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein, 2019, 229 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3610-0

Die Protagonistin ist einsam geworden, mäandert, philosophiert und schweift gedanklich in einer Welt herum, die sie sich mit niemandem mehr zu teilen traut, ausser mit dem anonymen Kanal eines Soundblogs. Eine Frau, die dem nachtrauert, was einst das Leben ausmachte. Erinnerungen an eine Zeit, in der einst die Literatur der Leuchtturm der Gesellschaft war. Jener Turm, der vor den Untiefen in stürmischen Zeiten warnt. In einem Land, einer Stadt, die sich einst als Nabel der Welt, der Kultur, des Fortschritts, der Wissenschaft und der Eroberung verstand. In einem Land, einer Stadt, in der alles flach geworden ist, alles in Angst und Dunkelheit versinkt.

„Was nicht weitergetragen wird, gibt es irgendwann nicht mehr.“

Cécile Wajsbrot stellt sich in „Zerstörung“ aber nicht nur Fragen, sondern stellt sich selbst in Frage. „Zerstörung“ ist nicht das Protokoll einer äusseren Zerstörung, sondern jener gegen innen, gegen das eigene Selbst, gegen das Bewusstsein, ein Stück in einer Geschichte, in der Geschichte zu sein, wirksam zu sein bis in die Zukunft. Sie schreibt von einem Land, das Leck geschlagen mit Seitenlage sinken wird, auf dem die Menschen aber immer noch zur Musik tanzen. Über einen Staat, der das reine Vergnügen verordnet hat nach dem Motte „Lacht und vergesst, wir kümmern uns um alles Übrige“.

Schreiben und das stille Sprechen ist das einzige, was der Protagonistin geblieben ist. In einer Welt, in der Toleranz auf der Strecke geblieben ist, sich abschottet, sowohl gegen innen wie gegen aussen. „Zerstörung“ ist eine Analyse dessen, was einer Gesellschaft blüht, die nur noch ihren Hunger nach Unterhaltung stillen muss. Einer Gesellschaft, in der das Denken und Handeln nicht im plumpen Protest stecken bleibt und mit Engagement verwechselt wird. „Zerstörung“ bietet 230 Seiten gesellschafts- und kulturpolitischen Zündstoff, ohne je platt oder plakativ zu sein.
Cécile Wajsbrot untergräbt mein Denken, mischt sich ein bis in die scheinbaren Tiefen meiner Sicherheit.

Ein Buch wie ein mahnender Monolith!

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften «Autrement», «Les nouvelles Littéraires» und «Le Magazine littéraire». 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin.

Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman «Kirio» stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.

Beitragsfoto © imago image / Christian Thiel

Container25 Wolfsberg A, Sommerfest: Maja Haderlap

Maja Haderlap gewann 2011 nicht nur den Ingeborg-Bachmann-Preis und in der Folge viele andere Preise, sondern brachte in Kärnten einen Stein, einen Fels zum Rollen, dessen Wirkung noch immer im Land zwischen den Sprachen, zwischen Deutsch und Slowenisch nachhallt.

Es gibt Bücher, die auch nach Jahren nichts von ihrer Aktualität, ihrer Wichtigkeit, ihrer Gültigkeit einbüssen. Der Roman «Engel des Vergessens» von Maja Haderlap ist einer davon. Er wird auch in Jahrzehnten ein Meilenstein der Literatur sein, wird in Schulen gelesen werden, als Beispiel dafür, was Literatur auszulösen vermag. Im besten Fall den endgültigen Versöhnungsprozess zwischen zwei scheinbar so unversöhnlichen Volksgruppen, Literatur als Brückenschlag. Aber zumindest ein Ansporn, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, mit den Wunden eines Konflikts, die seit Jahrzehnten schwelen und immer wieder einmal von Politik und Medien aufgerissen werden. Emotionen sind noch längst nicht geglättet, selbst bei jener Generation, die «nur» Söhne und Töchter der AgitatorInnen von damals waren. Aber Wundheilung heisst nicht Verdrängen und Vergessen.

In einer Gesellschaft, die geprägt ist von Feindschaft, Unverständnis, Hass und Neid, in der es unter idyllischer Oberfläche brodelt und kocht, in der damit unverhohlen Politik gemacht wird und man Schuldzuweisung und Abschottung zur obersten politischen Strategie erklärt, erzählt Maja Haderlap unaufgeregt die Geschichte ihrer Familie, ihrer Grossmutter, ihres Vaters, ihrer Mutter.
Im Grenzgebiet zwischen Österreich und Slowenien, wo vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg ein ganzer Landstrich zwischen den Fronten zerrissen wurde, geplagt und gepeinigt von einem Krieg, dessen Fronten sich mitten durch Ortschaften und Familien zogen, spielt «Engel des Vergessens». Von einem Mädchen, dem man über die Jahre in dem Tal in den Südkärntner Karawanken folgt, das verstehen lernt, was Geschichte anrichten kann, nicht nur regional, sondern überall, wo Hass und Krieg sein Opfer sucht.

An diesem Abend, begleitet vom Gesang eines Männerchors aus der Nachbargemeinde ihres Heimatortes, las Maja Haderlap auch aus dem letzten von ihr veröffentlichten Gedichtband «langer transit». Gedichte, die Geschichten erzählen, die Stimmungen wiedergeben, Momente, in denen sich die Autorin auf sich und die Welt einlässt. Maja Haderlap, die früh mit dem Schreiben von Gedichten begann, begleitet das Schreiben von Gedichten schon Jahrzehnte, eine Form der Kommunikation mit Vergangenheit, Sprache, Natur und Momenten, aber nicht einfach Betrachtungen, sondern intensive Auseinandersetzungen, die sich bis ins Politische ausweiten. Maja Haderlap zeigt eindrücklich, wie sehr sich Lyrik einmischen, einbringen und einsetzen kann.

was war

einmal im jähr,
wenn lesezeichen
aus meinen büchern fallen
mit vermerken wie
zählfarne,
registraturnelken;
nesselkammern,
kehre ich in kein dorf zurück.

auf aufgeschlagenen seiten
vergilbten geschichten,
die ihre waffen abgelegt haben,
den spott, den aufruhr,
den tanzschweiss,
der von den schläfen
der tänzer tropfte.

ich ziehe meinen roten kittel an,
stülpe die haare
wie einen strauch über den kopf,
trage schmutzige socken
und stiefel, die einem mann
passen könnten.
ich rieche das schweinefett
in den ungelüfteten küchen,
probiere namen aus
und ihre schattengeschichten,
die einmal losgetreten,
poltern
wie treibendes holz.

am hofeingang bleibe ich stehen.
dort habe ich einen stein
hingelegt, mit einer furche
in kalk eingeschlossen,
die mich erinnern soll,
woher ich kam.

(aus «langer transit» von Maja Haderlap, 2104 Wallstein Verlag, mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags)

Maja Haderlap, geb. 1961 in Eisenkappel/Zelezna Kapla (Österreich). Nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien war sie zwei Jahre Herausgeberin der Literaturzeitschrift Mladje und arbeitete danach 15 Jahre als Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie unterrichtet an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.
Maja Haderlap veröffentlichte auf Slowenisch und Deutsch Gedichte und Essays sowie Übersetzungen aus dem Slowenischen.

Beitragsfoto © Max Amann