Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr

An der Hafeneinfahrt der Bodenseestadt Konstanz steht seit bald dreissig Jahren die neun Meter hohe Imperia. Ein üppiges Frauenzimmer in Beton gegossen mit grosszügigem Dekolleté und zwei schrumpligen Mannsbildern in erhobenen Händen. In Joachim Zelters neustem Roman «Imperia» windet sich ein Mann aus den Tentakeln einer raumgreifenden Muse, büsst ein Künstler dafür, sich verkauft zu haben.

Gregor Schamoni ist Schauspieler. Und weil seine Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was ganz artig beginnt, den Schauspieler jedoch von Beginn weg gleichermassen verunsichert und befriedigt, da ihm die aufgeputzte Dame grosszügig dicke Briefumschläge mit Geldbeträgen übergibt, Geldbeträge, die seine in Schieflache geratene Existenz aufrichten, wird mehr und mehr zu einer emotionalen Achterbahn, aus der Gregor nicht mehr auszusteigen weiss.

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr, 2020, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7496-1017-4

Man kennt die Sorte Mensch; uneingeschränkt von sich eingenommen, selbstverliebt und besitzergreifend, fähig, die ganze Welt nach eigenem Gusto drehen zu lassen. Iphigenie de la Tour, Professorin an der Universität Konstanz, ist es gewohnt, dass man sich in ihre Sonne setzt, alles nach ihr ausrichtet, ihren Anweisungen Folge leistet. Da ist nicht nur das Geld, sondern die masslose Selbstverständlichkeit, die die Frau wie die Imperia an der Hafeneinfahrt übergross und bedeutsam macht. So wie die Betonfrau am Hafen die kleinen Männer herumjongliert, so tut es Iphigenie de la Tour; mit Gregor Schamoni, dem Personal in den Restaurants, in denen man sich trifft, mit allen, die sich in die Aura inszenierter königlicher Weiblichkeit trauen. So wie sich Gregor in seinen Panikträumen verlieren kann, in seiner Angst, irgendwann den Text auf der Bühne zu vergessen, nicht mehr weiterzuwissen, den Bühnenboden unter den Füssen zu verlieren, so sehr dreht er sich im Strudel rund um die Professorin, die ihn mit Geld, Komplimenten, Aufgaben und Zukunftsträumen einwickelt und vereinnahmt. Sie will ihn für sich, als ihr Instrument. Sie will ihn als Mitarbeiter, Sprecher, Freund, Schauspieler, Partner. Irgendwann übergibt Gregor Pia, der Studentin, die an Iphigenies Seite alles zu Papier macht, was in den Unendlichkeiten des de la Tour’schen Archivs an Bedeutsamkeit lagert, sein Handy. Iphigenie de la Tour will aus den SMS zwischen ihr und Gregor einen Briefwechsel transkribieren, will sie doch aus Gregor Schamoni einen bedeutsamen Schauspieler machen.

Gregor beginnt zu kämpfen, will sich aus den Fängen der Matrone befreien. Etwas, was ihm im direkten Gegenüber mit der Frau nicht gelingt, denn Iphigenie schafft es meisterlich, ihre scheinbare Verletzlichkeit zum Kampfstoff zu machen. 

Joachim Zelters Iphigenie ist köstlich, wenn auch nur für mich als Leser. Für Gregor wird sie zur Katastrophe. Jenes Loch, das sie aufzureissen droht, ist ebenso gross, wie die Angst, die Gregor in seiner ganz privaten Panik peinigt. Joachim Zelter peitscht die Drehungen des Karussells, aus dem Gregor nicht mehr entfliehen kann, genussvoll an. Wenn Joachim Zelter die Erscheinung der Professorin schildert, wird aus dem Betongrau der Imperia über dem Hafen Konstanz ein tiefes Rot, wird das Dekolleté beider Frauen bis zur Aufdringlichkeit ein erdrückendes Gebirge.

„Imperia“ ist eine literarische Berg- und Talfahrt in einem Gefährt, von dem man bis zum Schluss nicht weiss, ob es sich bremsen lässt oder mit voller Wucht und Geschwindigkeit in ihr Ende rast. Eine Buch gewordene Metapher darüber, was Käuflichkeit aus Leben macht. Dass Joachim Zelter aus dem Kammerstück zweier Personen ein Gegenüber zwischen fast allmächtiger Weiblichkeit und wirkungsloser Männlichkeit macht, heizt die Szenerie nur noch an.

 

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg, dem Gisela-Scherer-Stipendium der Stadt Hausach im Schwarzwald. 2010 war er mit seinem Roman «Der Ministerpräsident» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine Romane wurden mehrfach ins Französische, Italienische und Türkische übersetzt. 

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

«Schreibende Paare» mit Dana Grigorcea und Perikles Monioudis

„Schreibende Paare“ heisst eine der neuen Veranstaltungsreihen im Literaturhaus Thurgau. Im Falle von Dana Grigorcea und Perikles Monioudis hätte man den Abend auch „Eine Literaturfamilie“ nennen können, denn die beiden reisten mit ihren Kindern an und einer ganzen Kiste voller Bücher.

Das Leben, der Alltag der Familie Grigorcea Monioudis ist durchsetzt von Literatur, ihr Haus ein Ort, an dem alles durch eine papierene Lunge atmet. Das Paar ist sich Inspiration, Kritik, Motivation. Der jeweils andere der Erstleser, man trägt sich gegenseitig, selbst ihre beiden Kinder tun es an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau.

Dana Grigorcea gab Kostproben aus ihrem letzten Buch, der Novelle „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ und ihrem Roman „Die nicht sterben“, der im kommenden Frühling erscheinen wird. Dana Grigorcea erzählte, dass „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ nicht zuletzt auch ein Versuch war, sich von dem Thema zu emanzipieren, mit dem man sie mit ihren letzten beiden Büchern, vor allem mit dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, immer wieder zu reduzieren versuchte; Rumänien. Nicht dass sich die Autorin ablösen wollte, denn in ihrem neuen Roman spielt ihr Herkunftsland wieder eine zentrale Rolle, die Macht totalitärer Regierungen, der Wunsch vieler nach einer starken Führung, einem Phänomen, das sich trotz aller historischen Erfahrungen nicht ausrotten lässt. Aber kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin will in eine Schublade gezwängt werden. Dana Grigorcea wollte mit „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ „austesten“, ob man sie auch liest, wenn Rumänien kein Thema ist. Ein Versuch, der sie nur bestärkte. „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ war und ist sehr erfolgreich.
„Die nicht sterben“ ist die Geschichte einer jungen Bukarester Malerin, die sich nicht nur mit dem totalitären kommunistischen Machthaber Rumäniens konfrontiert sieht, sondern auch mit dem langen Schatten Graf Vlad des Pfählers, der der Welt als Dracula bekannt ist.

Dana Grigorcea und Perikles Monioudis wollen mehr als „bloss“ schreiben. Sie wollen nicht nur ihre eigenen Bücher zu Geschenken machen, sondern auch jene anderer Autorinnen und Autoren. Solchen, die ihre Manuskripte schon Jahrzehnte mit sich herumschleppen und nirgends in ein Verlagsprogramm zu passen scheinen. Texte, die zu vergessen drohen. Ihr Leben als Schriftstellerpaar ist untrennbar mit jenem eines Verlegerpaars verbunden. Ihr beider Leben in allem Schreiben, Auseinandersetzung, Buch, Papier, Gestaltung, Kunst und täglich Brot.

Perikles Monioudis, der schon bald dreissig Jahre schreibt und ein weigefächertes Werk präsentiert, will sich mit jedem Buch neu erfinden, Perspektiven ausloten, Textarten auskosten. „Azra und Kosmàs“ ist eine Liebesgeschichte und doch keine Liebesgeschichte. „Azra und Kosmàs“ ist eine Erzählung, die aufgebaut ist wie eine liegende Acht, als könne ich als Leser überall und immer in die Erzählung einsteigen und mich von den Geschehnissen um die beiden wegtragen lassen. Perikles Monioudis setzt sich in seiner Erzählung mit grossen Themen auseinander, sei es die Flüchtlingskatastrophe am Mittelmeer oder der Wunsch, sich aus seinem Leben abzusetzen, zu verschwinden. Ein Thema, das nicht nur für Menschen, die sich im Brennpunkt der Öffentlichkeit befinden, existenziell werden kann, sondern sich als Phänomen durch sämtliche westliche Gesellschaften zieht. Für Perikles Monioudis ist literarisches Schreiben alles andere als Handwerk. Er gibt sich in seine Stoffe hinein. Schreiben ist Kunst!

Der Abend war tief beglückend.

«Wer einen handfesten Beweis dafür braucht, dass uns die Literatur zu genussfähigeren, glücklicheren Menschen macht, sollte zu Gallus Frei-Tomic ins Literaturhaus Thurgau. Den Abend, den inspirierenden Gedankenaustausch, das goldene Licht im Dachbodenlesesaal des Bodmann-Hauses und das grossartige Publikum werden wir nie vergessen.» Dana Grigorcea

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

arttv: Das Literaturhaus Thurgau im Porträt

Das Literaturhaus ist ein Treffpunkt für Schreibende und Literaturfreunde – ein Ort, an dem nachgedacht, gearbeitet und diskutiert werden kann.

Hier geht es zum Video:

Mit der Eröffnung des Literaturhauses Thurgau wurde in Gottlieben eine Gedenkstätte für den Schriftsteller Emanuel von Bodman geschaffen, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Bodenseeregion wählte, um hier sein Leben der Schrift zu widmen. Sein Werk umfasst eine Reihe von Dramen, viele Erzählungen, Hunderte von Gedichten sowie Aufsätze zu Kunst und Literatur seiner Zeit. Heute ist das Literaturhaus ein lebendiger Begegnungsort mit Literatur, Kunst und einer eigenen Buchbindewerkstatt.

Literaturhaus Thurgau
Mit dem Literaturhaus Thurgau bietet die Thurgauische Bodman-Stiftung der zeitgenössischen Literatur einen einmaligen Ort für ihre Präsentation: ein Literaturhaus auf dem Land mit einem hochwertigen Programm und einer beeindruckenden Resonanz – ein Treffpunkt für Schreibende und an Literatur Interessierten, ein Ort der Begegnung und des literarischen Gesprächs. Bei seiner Eröffnung im Jahr 2000 war das Bodman-Literaturhaus, heute Literaturhaus Thurgau, nach Basel und Zürich das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Durch seine Nähe zu Konstanz hat es eine wichtige Funktion für grenzüberschreitende Begegnungen in der Bodenseeregion.

Handbuchbinderei
Im Bodman-Literaturhaus werden Bücher nicht nur präsentiert, sondern auch gebunden und repariert. In der Handbuchbinderei Merten wird traditionelles Handwerk modern interpretiert. Mit besonderem Blick für die Auswahl und Haptik der Materialien werden bibliophile Einbände gebunden, Künstlerbücher kreiert, Schachteln auf Mass angefertigt und lieb gewonnene alte Bücher restauriert. In der besonderen Atmosphäre der Werkstatt im Bodmanhaus in Gottlieben finden Kurse in kleinen Gruppen statt, in denen die vielseitigen Varianten des Handwerks erprobt werden können.

Das Bodmannhaus
Mittelpunkt und Seele des Dichterhauses ist das nach der Renovation wiedererstandene Arbeitszimmer, das den Besuchern einen vertieften Einblick in das alltägliche Leben des Dichterehepaars Clara und Emanuel von Bodman vermitteln soll. Die Gäste des Bodmanhauses sollen das Gedenkzimmer so vorfinden, wie es verlassen wurde, mit all seinem unverwechselbaren Charme, seiner Bescheidenheit und Eigenheit. Alles ist wieder am angestammten Platz: Das schöne Schreibpult, der volle Bücherschrank, das schlichte Sofa, die sieben bescheidenen Tische und Tischchen, Stühle, Accessoires und der gesamte übrige Schmuck des randvoll gefüllten Zimmers. Das Arbeitszimmer soll den Raum so zeigen, wie ihn Emanuel von Bodman beim Tode hinterlassen hat, und wie er von seiner Gattin Clara in liebevollem Angedenken fast unverändert belassen wurde. Das Interieur ist gemäss dem Charakter des Hauses bewusst nicht restauriert und auf Perfektion getrimmt worden. Die über zwanzig Möbelstücke sind lediglich vom Fachmann gereinigt und wo nötig geflickt worden; einzig den Vorhängen widmete man erhöhte Aufmerksamkeit mit einer aufwendigen Restaurierung.

Schreibende Paare: Dana Grigorcea und Perikles Monioudis

Ein neues Format im Literaturhaus Thurgau ist «Schreibende Paare». Erste Gäste auf der Bühne sind Dana Grigorcea und Perikles Monioudis. Ein schreibendes Paar, das Liebe und Leidenschaft weit über ihr Leben als Paar verbindet. Liebe und Leidenschaft für die Literatur.

2018 begeisterte Dana Grigorcea LeserInnen und Kritik mit dem Buch «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen», einer Novelle, in der sie Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“ aus dem Jahr 1899 ins Zürich der Gegenwart transformierte. Eine Verwandlung, die die Gewichte der Novelle von damals vertauscht und die doch viel vom Liebreiz Tschechows Novelle übernimmt. Eine Lektüre für einen Abend. Ein Stück Literatur als hätte ein Musiker ein Stück neu arrangiert. Die Liebe zweier Menschen, die zur Lüge zwingt.
Ein warmer Frühlingstag am See. Hungrig nach Sonne und Wärme sitzen die Menschen in Cafés und spazieren an der Seepromenade. An einem der Tische treffen sich Anna, die Ballerina, mit ihrem Hündchen und Gürkan, der Gärtner. Sie verheiratet mit einem Arzt, er, ein Kurde, vor vielen Jahren mit seiner Familie aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Sie beide in einer Atempause. Entgegen ihren Gewohnheiten wird aus der Zufälligkeit ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem Anna nicht nur zuhört. Gürkan fasziniert; sein Gesicht, seine Stimme und die scheue Art, die ihn von den sonstigen Avancen anderer Männer abhebt. Anna fühlt sich hingezogen, nicht nur weil er jünger als sie zu sein scheint. Sie treffen sich wieder, immer wieder, fast jeden Tag.

Perikles Monioudis veröffentlicht schon seit dreissig Jahren Romane, Erzählungen, Theater und Essays ist vielfach ausgezeichnet und veröffentlichte 2019 die Erzählung «Azra und Kosmàs», keine Liebesgeschichte, aber die Geschichte einer Begegnung. Kosmàs Gros, einst ein umtriebiger, erfolgreicher und berühmter Schriftsteller lebt alt geworden zurückgezogen in Berlin. Auf der Flucht vor dem Erkanntwerden, auf der Flucht vor sich selbst. Azra ist Ärztin in einem Berliner Krankenhaus und steht eines Tages am Bett des Schriftstellers, der nach einem Unfall eingeliefert wurde. Kosmàs mit griechischen Wurzeln, Azra mit tunesischen Wurzeln. Beide tragen Vergangenheiten und Wurzeln mit sich herum. Kosmàs versucht sich an verlorene Sätze zu erinnern, Azra an ihr Versprechen als Ärztin.
Azra und Kosmàs treffen sich an der griechischen Küste wieder, dort wo sich Schwimmwesten türmen und behelfsmässige Zelte die Ankömmlinge von der anderen Seite des Meeres am Strand erwarten. Azra und Kosmàs, beide zwischen Flucht und Suche.

2019 gründeten Dana Grigorcea und Perikles Monioudis den Verlag «Telegramme für Literatur» und beweisen, dass die Leidenschaft für das Buch weit über das Schreiben hinausgehen kann.

Dana Grigorcea und Perikles Monioudis lesen an diesem Abend aus ihren Büchern und diskutieren am 14. November im Literaturhaus Thurgau über das Schreiben, die Literatur und ihre Bücher – und was die Schriftstellerei für ihre Beziehung bedeutet.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag erschienen, 2018 die Novelle «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen». Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, und Kindern in Zürich.

Perikles Monioudis wurde 1966 in Glarus, Schweiz, geboren und hat Soziologie und Politische Wissenschaften in Zürich studiert. Nach zwölf Jahren in Berlin lebt er mit Frau und Kindern wieder in Zürich. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane und Erzählbände («Palladium», «Eis», «Die Trüffelsucherin», «Deutschlandflug» u.v.a.) wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schriftsteller­verbandes und der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im Rimbaud Verlag sind bisher erschienen zuletzt «Azra und Kosmás» (2019), bei dtv die Romane «Frederick» und «Land» und beim Deutschen Kunstverlag die Biografie «Robert Walser».

Rezension von «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen auf literaturblatt.ch

Rezension von «Robert Walser» auf literaturblatt.ch

Webseite von Dana Grigorcea

Webseite von Perikles Monioudis

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Kalmann» im Literaturhaus Thurgau

Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“ , seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.

Im Wissen darum, dass es absolut nicht selbstverständlich ist, dass der Betrieb eines Literaturhauses in diesen Zeiten aufrecht erhalten werden kann und darf, war der Abend mit Joachim B. Schmidt gut besucht und zeigt, wie sehr man gerade jetzt nach Kultur lechzt. Ein Abend mit Literatur. Ein Abend in Island in einem kleinen Dorf ganz im Norden der Insel, die nicht nur beim Schriftsteller selbst ein Sehnsuchtsort ist. Ein Abend mit Leidenschaft und Witz, mit Spontaneität und tiefen Bildern!

„Kalmann“ ist mehr als ein Buch. Vielleicht ist „Kalmann“ sogar ein Lebensgefühl. Wenn Joachim B. Schmidt aus seinem Roman liest, wird Kalmann lebendig, sein Grossvater, das Meer, die Kälte, Raufarhövn, dieses Dorf, das auch in Wirklichkeit auf verlorenem Posten steht, heruntergewirtschaftet, vergessen, irgendwie auf der anderen Seite der Zivilisation.

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Joachim B. Schmidt wollte eigentlich einen Krimi schreiben. Auch ein bisschen aus der Verzweiflung heraus, dass sich seine ersten drei Romane nicht annähernd so verkaufen liessen, dass eine Familie sich damit nur ein Zubrot verdient hätte. Mit einem Krimi, einem Islandkrimi, hätte es klappen sollen. Das eine klappte, das andere nicht. Denn obwohl reichlich Blut fliesst, die Polizei zuweilen mit einem Grossaufgebot auftaucht, Drogen in Unmengen versteckt werden, ist „Kalmann“ kein Krimi geworden. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte an eine Insel, an die Menschen, an einen Ort, an diesen einen Menschen, der zufrieden in seinem Häuschen lebt, Polarfüchse vom Dorf fern hält und manchmal mit Petra hinaus aufs Wasser fährt um Grönlandhaie zu fangen, die er nach dem Rezept seines Grossvaters zu Gammelhai verarbeitet. Kein Krimi, aber der Erfolg seines Romans stellte sich trotzdem ein. Vielleicht deshalb erst recht.

Wer den Zeiten zum Trotz doch noch Zeuge einer der zauberhaften Lesungen mit Joachim B. Schmidt lauschen möchte, findet Infos dazu auf seiner Webseite.

Lesen Sie „Kalmann“!

«Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.»
Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

«Was gibt es Schöneres, als mit einem Freund die Bühne zu teilen. Takk fyrir mig, kæri Gallus. Der Auftritt im Bodman-Haus wird mir in guter Erinnerung bleiben, mehr noch: DAS Highlight auf meiner Schweiz-Tournee 2020. Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser

Manchmal muss man weg, um irgendwann zurückzukommen, zurückzukommen auf das, was einst passierte, an den Ort, an dem es passierte, zu den Menschen, von denen man sich entfernen musste. Vielleicht wäre Gras über die Sache gewachsen. Vielleicht wären die Geschehnisse in den Sedimenten der Vergangenheit eingesunken. Aber er kommt zurück, in vielerlei Hinsicht zurück.

In Thilo Krauses erstem Roman „Elbwärts“ geht auch der Autor „zurück“, denn Thilo Krause, geboren in Sachsens Hauptstadt Dresden wohnt und wirkt schon lange in der Schweiz, arbeitet neben seinem Wirken als Dichter bei den Technischen Betrieben der Stadt Zürich. Sein Protagonist geht zurück an die Elbe, elbwärts, ohne je an dem Ort anzukommen, den er sich vor seiner Rückkehr ausmalte. Denn er kehrt zurück mit seiner Familie, mit seiner Freundin Christine und dem Kind, in ein Haus mit Apfelhain, einem Haus, das alles hätte, um ein neues Zuhause zu werden, nicht weit von der Stadt-die-keine-ist, nicht weit von dem Fels, der seinem Freund Vito damals zum Verhängnis wurde. Damals, kurz vor dem Mauerfall, als sich die berstende DDR ein letztes Mal aufbäumte.

„Als wir weg waren, schien es hier zu sein, und nun, da wir hier sind, ist es, was weiss ich wo.“

Aber nach der Rückkehr ist nichts so, wie es hätte sein sollen. Die Beziehung zu Christine erstickt in Streitereien, das Leben als Hausmann und Heimwerker scheitert und die Vergangenheit, die nicht zurückzulassen ist, sticht und provoziert aus jedem Winkel an der Elbe, sei es zuhause, im Dorf bei den alten, bekannten Gesichtern, den Glatzköpfen, die sich wie eine Krankheit ausbreiten, in den Wäldern oder um die Felsen, in die er und Vito, sein Freund aus Kinder- und Jugendtagen, hinaufkletterten.

„Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf zu verschwinden.“

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser, 2020, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26755-8

Vito und er gingen damals noch zur Schule, waren Freunde wie Pech und Schwefel. Nach der Schule machten sie sich auf zu den Kalkfelsen über dem Elbtal, unter der Festung, kletterten, wollten sein wie die Grossen, mit Seilen, die sie aus den Waschküchen der Mütter klauten. Bis zu jenem Tag, der alles kippte. Als Vito hätte nachklettern sollen. Als er oben wartete und nur dieses eine dumpfe Geräusch hörte. Als Vito abstürzte, liegen blieb, Blut verlor. Als er ihn auf seinen Rücken packte und zurück ins Dorf schleppte. Als man ihn ins Spital brachte und bei der Operation irgendetwas nicht lief, wie es hätte sein sollen. Als Vito im Spital sein Bein verlor, man ihm ein Bein amputierte, seinen Freund amputierte, als Vitos Mutter ihn für das verantwortlich machte, was am Felsen niemals hätte passieren dürfen.
Vitos Absturz wird zum Absturz beider. Vor versammelter Schule wird gebrandmarkt und ausgesondert.

„Wenn es dunkel wurde, schlich ich zu mir nach Hause wie ein Dieb, denn das war ich: ein Dieb, der Vito das Bein geklaut hatte.“

Nach Jahren zurück, sucht er erneut die Nähe zu Vito. Vito ist Tischler geworden, im Ort, wenn auch nicht der Alte geblieben. Als es den Moment endlich gibt, an dem er sich traut, zurück ins Leben seines alten Freundes zu treten, ist es Vito, der „oben auf dem Fels“ steht, ist es sein alter Freund, der einbeinig beide Füsse auf dem Boden hat, während ihm die Gegenwart wegrutscht.

Eine Geschichte, die berührt, eine Sprache, die bezaubert. Dass der Dichter und Sprachkünstler Thilo Krause nicht einfach eine Geschichte erzählen will, wird nicht nur in der Art seines Erzählens klar, auch im Sound, in der Prägnanz. Seien es einzelne Sätze, die wie Blitze aus dem Text schiessen und an mir hängen bleiben oder Dialoge, die viel mehr erzählen, als nur das, was gesprochen wird. „Elbwärts“ ist ein Abtasten der Landschaften, der inneren und äusseren Landschaften: „Elbwärts“ will nichts klären, nichts erklären. „Elbwärts“ ist der Strom des Erzählens, diese langsam fliessende Bewegung, der man sich nicht entziehen kann. Wunderbar.

Begründung der Jury zur Verleihung des Robert Walser Preises 2020:
«Krause erzählt auf höchst eindringliche und sprachlich stimmige Weise von der Rückkehr an den zugleich vertrauten und fremd gewordenen Ort der Kindheit im Elbsandsteingebirge nahe der tschechischen Grenze und von der unvermeidlichen Konfrontation mit einem die Existenz überschattenden, in Schweigen eingemauerten Jugendtrauma. In Bildern von grosser dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen.»
Die deutschsprachige Jury bildeten unter dem Vorsitz von Stefan Humbel, Jürg Altwegg, Andreas Langenbacher, Camille Lüscher und Anne Weber.

Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2005 veröffentlicht er literarische Texte in Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (u.a. Die Zeit, Zürcher Tagesanzeiger) und Anthologien. Für seine Gedichte wurde Thilo Krause 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet. Bei Hanser erschien 2018 sein Gedichtband «Was wir reden, wenn es gewittert», für den er den Peter Huchel-Preis erhielt. 

Webseite des Autors

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes

Raufarhövn liegt ganz im Norden Islands. Dort wacht Kalmann über Raufarhövn. Ein Kaff, das im weissen Nichts zu verschwinden droht. Doch als Kalmann mit dem Verschwinden des Dorfkönigs konfrontiert wird und er fremdes Blut von seinen Händen putzen muss, drohen Helikopter den Frieden aus dem Dorf zu fegen. „Kalmann“ ist ein Geschenk!

Wenn es in Island Frühling ist, ist es noch immer kalt. Mitteleuropäische Frühlingsgefühle würden erfrieren. Aber Kalmann kennt nichts anderes. Er wohnt schon immer in Raufarövn (gesprochen: Reuwarhöbb), weit weg von Reykjavik, der Hauptstadt des Inselstaates. Kalmann gehört zum Dorf. Man nennt ihn Sheriff, weil er mit einem Cowboyhut und einem Sheriffstern durch die Landschaft zieht, manchmal auf der Jagd nach einem Polarfuchs, manchmal aber einfach, weil ihn etwas zieht. Manchmal auch mit seinem kleinen Boot aufs Meer, wo er mit eingelegten Fleischködern Grönlandhaie fischt und seinen Fang zu Gammelhai verarbeitet, einem isländischen Gericht, das aber nur echten IsländerInnen eine Gaumenfreude sein kann. Von seinem Grossvater hat er das Rezept. Aber der ist in einem Altersheim, ein- und weggesperrt. Sein Grossvater ist das einzige im Leben Kalmanns, das wirklich zählt. Freunde gibt es nicht, höchstens Noì, aber den trifft er nur im Netz – und eine Frau will ihn nicht. 

© Joachim B. Schmidt

Eigentlich heisst Kalmann Kalmann Óðinnsson. Aber in Raufarhövn ist Kalmann nur Kalmann. Ein Sonderling, einer, den man gewähren lässt, der keiner Fliege was zu Leide tun kann, der seine Sonderbarkeiten immer nach dem gleichen Muster haben will, zum Beispiel den immer gleichen Tisch für seinen Hamburger im Imbiss, auch wenn dieser Tisch von den einzigen Gästen sonst belegt ist. Und Kalmann ist ehrlich, so ehrlich wie niemand sonst, nimmt alle beim Wort.

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Eines Tages findet Kalmann auf einem seiner Streifzüge auf der Ebene Melrakkaslétta mitten im Schneegestöber eine grosse Blutlache. Während der Schnee rundum ansetzt, schmilzt er auf dem Blut, dass auch für Kalmann nicht von einem Tier sein kann. Viel zu viel. Und Abdrücke im Schnee, hinunter zum Hafen. Kalmann erzählt es im Dorf. Und weil dort der einzige Mann mit Geld fehlt, muss es Róbert McKencie sein, dem das Hotel gehört, der die Rechte für die Fischgründe um Raufarhövn verhökert und wie niemand sonst im Dorf Feinde genug hat. Der, der nicht weit vom Dorf mit dem Bau eines modernen Steinkreises begonnen hat, dem Arctic Henge, einem Monument für den rettenden Tourismus in einer Gegend, die sonst nicht viel oder fast nichts zu bieten hat (Der Arctic Henge existiert wirklich!).

Das sonst so geregelte und stille Leben Kalmanns gerät aus dem Gleichgewicht. Plötzlich ist Polizei im Dorf und er, der Sheriff, im Brennpunkt ihres Interesses. Nicht weil er zu den Verdächtigen zählt, sondern weil die Ermittlerin Birne aus der Stadt schnell spürt, dass Kalmann bei der Wahrheit bleibt, sich niemals in ein Lügengeflecht begeben würde. Selbst als in einem Hai, den Kalmann aus dem Meer fischt, eine abgeschnittene Hand auftaucht, selbst als im Meer eine Tonne mit Rauschgift gefunden wird, selbst als ein Helikopter in Raufarhövn landet und ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten über Kalmann herfallen.

© Joachim B. Schmidt

„Kalmann“ ist kein Krimi, selbst wenn gewisse Ingredienzen daran erinnern. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an einen Sonderling, an einen Menschen, der nicht so tickt wie alle andern. Kalmann ist ein Original, mag sein, dass es dafür auch eine ziemlich abwertende medizinische Bezeichnung gibt. Aber Kalmann in Raufarhövn hat wenigstens Platz in seinem Dorf, wird nicht in eine Institution eingegliedert, weil man ihm eine Existenz im allgemeinen Wahnsinn der Gegenwart nicht zutraut. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an Joachim B. Schmidts neue Heimat, „seine“ Insel, die Leere, die Ödnis. Joachim B. Schmidt liebt Island so wie es ist, nicht so wie es einmal war, auch wenn er sich als Reiseführer und Journalist bestens in der isländischen Geschichte auskennt.

Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.

12. Literaturblatt

„Kalmann“ ist höchstes Lesevergnügen! Noch vor ein paar Jahren meinte Joachim B. Schmidt in einem Interview auf literaturblatt.ch: «Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.» Es waren drei Romane, Romane, die das Zeug hatten, die all jene begeisterten, die ein Exemplar davon gelesen hatten, die sich an einer seiner Lesungen in der Schweiz betören liessen. Aber wenn einem kleinen Verlag (Landverlag) schlicht Ressourcen und Mittel fehlen, um Türen weit aufzureissen, dann ist es nicht verwunderlich, dass Qualität allein nicht ausreichen kann, selbst mit einer Einladung an die Solothurner Literaturtage 2013. Am Verlag damals lag es nicht, sondern an den Ohren und Augen, die nicht hören und lesen wollten! Damals war es sein erster Roman «Küstennähe», von dem ich auf meinem 12. Literaturblatt schrieb: «Der junge Bündner Autor, der auf Island mit seiner Familie lebt und schreibt, hat mehr als ein Buch über isländische Gegenwart geschrieben. Es geht um das Geheimnis wirklicher Beziehungen, das Geheimnis um Liebe und Freundschaft, nicht zuletzt um die Liebe des «Helden» zu sich selbst. Und das alles so meisterlich geschrieben, dass man staunt und hofft, einen neuen Stern am Literaturhimmel entdeckt zu haben.«

Und nun ist zu hoffen, dass es Joachim B. Schmidt doch noch geschafft hat, dass er seine Schriftstellerei nicht aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, weil eine Familie zu ernähren ist, an den Nagel hängt. Die Zeichen stehen gut!

© Joachim B. Schmidt

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist, Autor dreier Romane, die in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental erschienen und diverser Kurzgeschichten. 2007 ist er nach Island ausgewandert, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.

Webseite des Autors

Rezension von «Moosflüstern» auf literaturblatt.ch

Programm Literaturhaus Thurgau

Illustration © Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Risse in der Idylle; Krimilesung von Sandra Hughes an der Kulturnacht Amriswil

«Spätestens wenn man sie nicht mehr hat, merkt man, wie wichtig sie ist.» Das gilt auch für Kultur – oder erst recht. Und es braucht schon eine ordentliche Portion Mut und Aufwand, in diesen Zeiten eine Kulturveranstaltung zu organisieren, die einen ganzen Ort mitnehmen soll. Die kleine Stadt Amriswil im Herzen des Thurgaus trotzte allen Ängsten und lud ein zur 2. Amriwiler Kulturnacht.

«Es war eine Meister- und Monsterleistung wie die verschiedenen Plattformen sich engagiert und organisiert haben. Es war eine Stimmung der Superlativen, alle haben sich gegenseitig geholfen, waren dankbar für die Durchführung, bereicherten sich an der kulturellen Vielfalt, waren berührt und begeistert von Begegnungen. Und auch das wunderbare Herbstwetter hat zum Geniessen eingeladen. Endlich wieder Leben mit Kultur!», schrieb die OK-Präsidentin und Stadträtin Madeleine Rickenbach in einer Mail an all jene, die sich in die Liste der VeranstalterInnen eingeschrieben haben.

Als ich zusammen mit der Schriftstellerin Sandra Hughes über den Marktplatz auf das Pentorama zuging, musste die Schriftstellerin erst einmal stehen bleiben und ihr Handy zücken, um ein Foto von dem Veranstaltungsort zu schiessen. «Das glaubt mir kein Mensch!» Wenige Wochen vor der Durchführung der Kulturnacht hatte man uns am ursprünglichen Ort «ausgeladen», weil eine coronakonforme Durchführung einer Lesung nicht gewährleistet werden konnte. So verschob man kurzerhand ins Pentorama, in eine Halle, die voll mehrere tausend BesucherInnen fassen kann. Eine Krimilesung in einer Halle? Würde das gut gehen?

Es ging gut. Auch wenn sich der Ansturm auf die Lesung in Grenzen hielt, war doch die Konkurrenz von Dutzenden anderer Veranstaltungen im Ort gross, vielfältig und potent. Sandra Hughes nahm die Lauschenden mit nach Meride in die Pastamanufktur der Familie Savelli ,einer alteingesessenen Pastadynastie im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Die junge Kindergärtnerin Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und fürs Dorf, das sich in Schockstarre befindet.

Sandra Hughes neues Ermittlerduo, die eigenwillige Emma Tschopp aus der Region Basel und der Tessiner Commissario Bianchi, wird auch in weiteren Krimis gemeinsam ermitteln. Die Fährte ist gelegt!
Eine gelungene Lesung vor aufmerksamem Publikum. Ein angeregtes Gespräch über menschliche Abgründe und das Glück des Schreibens. Vielen Dank an Sandra Hughes und die Gäste im Pentorama!

Rezension von «Tessiner Verwicklungen» auf literaturblatt.ch

alle Fotos © Bettina Schnerr

«Was uns betrifft» Laura Vogt im Literaturhaus Thurgau

Laura Vogt las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem bei Zytglogge erschienenen Roman «Was uns betrifft». Eine Reise in die Seele einer zerrissenen Frau, einer Frau, die aufbricht. Eine Lesung, die beeindruckte, weil es Laura Vogt schafft, Themen zu Literatur werden zu lassen, die sonst gerne aussen vor bleiben.

„Was uns betrifft“ betrifft mich, betrifft jeden, der Laura Vogts Roman liest. Vielleicht, weil das Buch von den Urängsten einer jungen Frau erzählt, einer werdenden und gewordenen Mutter. Vielleicht weil der Roman nichts beschönigt und Fragen stellt. Vielleicht weil Ihr Roman derart ehrlich ist, nicht verklärt und idealisiert. Vielleicht aber auch, weil Laura Vogt einen Roman geschrieben hat, den sie nie hätte schreiben können, wäre sie nicht selbst Mutter geworden. 

Schon die erste Szene im ersten Teil ihres Romans fährt einem in den Unterleib. Rahel, die junge Protagonistin sitzt in einer Lesung und mir wird geschildert, wie sich in ihrem Unterleib ein männliches Spermium mit der Eizelle Rahels vereint. Als hätte man dem Erzählmotor schon zu Beginn eine Einspritzung verpasst. Ein Einstieg, der einem als Bild unauslöschlich hängen bleibt.

Es sind drei Frauen im Roman der jungen Ostschweizerin; Verena, die an Krebs erkrankte Mutter, Rahel die Protagonistin und Fenna ihre Schwester. In keinem der drei Frauenleben scheinen Männer eine wirklich gute Rolle zu spielen. Martin, Rahels Freund setzt sich ab. Verena trennt sich von Erik, Rahels Vater, schon früh. Und Fenna kämpft sich an Luc ab. Als ob unter allem die Einsicht stünde, dass Beziehungen zwischen Menschen permanentes Wagnis sind und bleiben. Vielleicht sogar die Mahnung, endlich von den festgefahrenen Vorstellungen von „Familie“ Abstand zu nehmen.



Laura Vogt schreibt sich extrem nahe an ihre Protagonistin, bildlich und emotional. „Was uns berifft“ ist ein Buch von selten weiblicher Dominanz. Ein Buch, dass so nie von einem Mann hätte geschrieben werden können und deshalb für den Mann zu einem wahren Leseabenteuer werden kann.

Rezension auf literaturblatt.ch

Interview mit Laura Vogt auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Ameisen unterm Brennglas» Jens Steiner diskutierte mit und las.

Jens Steiner ist noch wenige Tage Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau. Die Stiftung stellte ihm während zweier Monate die kleine Wohnung im Literaturhaus Thurgau zur kreativen Verfügung. So war die Kulturstiftung auch Trägerin der Lesung, die vom Literaturhaus Thurgau mit dem neuen Format «Literatur am Tisch» kombiniert wurde.

Bei anderer Gelegenheit schrieb Bettina Spoerri, Schriftstellerin, über das neue Format: „Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele AutorInnen genau für sie: für Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen … Dabei war es spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren.“

Vor der Lesung unterm Dach trafen sich so ein Dutzend Interessierte bei Wein, Käse und Brot, solche, die das Buch gelesen hatten und sich gerne mit dem Schriftsteller in eine Diskussion verwickeln liessen. Kein Schriftsteller schreibt nur für sich. Aber vielleicht lesen wirklich Literaturinteressierte auch nicht bloss für sich. Literatur ist mehr als Unterhaltung, sondern Auseinandersetzung. Und die geschieht nur, wenn man über das Gelesene spricht. Jens Steiner lies sich darauf ein und für das muntere Dutzend in der «Stube» des Literaturhauses war es eine Offenbarung.

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Das kleine Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht. Jens Steiners Roman bohrt in die Sedimentschichten der Gesellschaft, in die tiefen Schichten, dorthin, wo Hitze entsteht; Wut, Zorn, Frustration. Er verwendet sein Schreiben als Okular, als Vergrösserungsglas, das uns die Kleinigkeiten, die feinen Details vors Auge bringt.

Beitrag auf thurgaukultur.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau