«Wo die Musik spielt», ein Rückblick von Yaël Inokai

«Mein Roman wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Stimmen. Jede hat ihren eigenen Klang, ihre eigene Melodie. Nora, Adam und Yann werden von der Gegenwart in die Vergangenheit geworfen, hin und zurück. Jeder Absatz hat sein eigenes Tempo. „Mahlstrom“ ist ein Geflecht; die größte Herausforderung war es stets, die Stimmen miteinander zu verweben, so, dass es stimmt. Ich saß oft abends alleine vor dem Text und habe ihn laut gelesen. Nur wenn er stimmte, jedes Wort und jedes Satzzeichen, klang er auch.
Ob das Schreiben von Texten dem Schreiben von Musikstücken gleicht, kann ich nur vermuten. Musik schreibe ich nicht. Ich glaube aber, dass beides Komponieren ist. Vielleicht ist Musik nicht unbedingt Wort. Aber Wörter sind ganz bestimmt Musik.

Am 9. Juni traf ich im Theater 111 ein, ein ehemaliges Kino, ein Kleinod mit roten Sesseln, in das man sich sofort verliebt. Man hat Erinnerungen an diesen Ort, obwohl man noch nie da war, denkt an die vielen Hände, die sich im Dunkel gegenseitig gesucht und gehalten haben müssen.
Christian Berger, Dominic Doppler und ich bespielten an diesem Abend den Saal. Wir machten Musik: Sie auf ihren Instrumenten, ich aus meinem Roman.

Wie fühlt es sich an, nicht in die Stille hinein zu lesen? Erst ist es erstaunlich. Und dann, ganz schnell, hat man sich an den Klang der anderen gewöhnt. Man geht in seinem Text spazieren. Manchmal spüre ich intuitiv, dass ich loslassen könnte, schweigen, nur für einen Moment – aber ich traue mich nicht. Warum? Ist man es sich gewohnt, an seinem Buch zu kleben, auch wenn man die Erzählstimmen eigentlich schon auswendig kann? Hat man Angst davor, ohne nichts auf dieser Bühne zu stehen? Einmal wage ich es, und schließe die Augen. Und als wäre ich ein Kind, verschwindet tatsächlich für einen Moment die ganze Welt.

Das Buch wurde nicht vorgestellt. Mit keinem Wort gesagt, um was es geht. Anfangs vergaß ich sogar, meinen Passagen ihren jeweiligen Erzähler voranzusetzen. Ich grübelte nicht einen Moment, ob man versteht, was ich hier lese. Ich konnte diesem Text blind vertrauen. Christian und Dominic boten Begleitschutz.

Ein Wehmutstropfen bleibt: Es ist vorbei. Aber vielleicht, so hoffe ich, kann ich dereinst wieder per Mittagsflug in Zürich eintreffen, mich mit dem Zug nach St. Gallen bringen lassen, den Bus besteigen, der mich hoch zu den Weihern fährt, wo ich mich rücklings und ohne nachzudenken ins Wasser fallen lasse. Von dort aus werde ich erst den Blick zum Bodensee bestaunen, dann die klassische Badiverpflegung begehen – Pommes Frites, Cola und Eis – und gut genährt da hin aufbrechen, wo die Zeit stehen bleibt, wo man sagen kann: Ich hab zwei Stunden hier gesessen oder ein ganzes Filmuniversum durchschritten, ich hab einen Abend hier verbracht oder ein komplettes Romanleben: ins Theater 111.» Yaël Inokai

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Infos zu den folgenden Lesungen im Theater 111