Lana Lux «Kukolka», Aufbau

Es ist die Geschichte von Samira. Das kleine Mädchen wächst im Waisenhaus auf, haut mit sechs ab und gerät von einem Seelengefängnis in ein nächstes. Eine lange Geschichte, von der wir sonst nur ganz kurz in der Presse lesen; Kinderprostitution, Menschenhandel, Verwahrlosung. Ein Buch, das ebenso fasziniert wie bestürzt.

Es ist ein hartes Buch, das mich unerwartet heftig mitriss, das ich las mit einer Mischung aus Betroffenheit, Ekel und Faszination.

Betroffenheit: «Weil die Leute da draussen nicht deine Freunde sind. Kapiert? Sie waren es nie und werden es nie sein.»

Nichts im jungen Leben Samiras erinnert an Normalität. Nichts. Sie wächst in einem Waisenhaus in der Ukraine in den 90er Jahren auf, in dem nicht nur die Betten und Böden kalt sind. Frauen richten kleine Kinder zu willigen Puppen ab, einzig dazu da, mit möglichst kleinem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen, wenn an Samstagen «hoher Besuch» kommt, mit der Absicht diese Verlorenen zu adoptieren. Mit sechs haut sie aus dem Waisenhaus ab, ohne jede Ahnung, wie die Welt ausserhalb dieser Mauern funktioniert. Am Bahnhof wird sie von Rocky, einem kleinen Ganoven aufgegabelt. Er nennt Samira «Kukolka», sein Püppchen, und lässt sie mit anderen Kindern auf den Strassen der Stadt klauen, betteln und singen, um sie in seiner Unberechenbarkeit auch einmal zurechtzuschlagen. Wieder haut sie ab, wieder «gerettet», von ihrem Prinzen, der sie singen hört, ihr Geschenke macht, sie badet und für Tage in seiner Wohnung einsperrt, «damit sie sich erholen kann». Samira ist 10 und getrieben von ihrem Wunsch, ihre einzige Freundin Marina aus der Zeit im Waisenhaus wiederzufinden. Eines jener Mädchen, das an einem der Samstage neue Eltern aus Deutschland bekam und plötzlich verschwand. Aber Dina ist wie Rocky wieder nur ein Blender, der die 12jährige zum Anschaffen zwingt, um ihn vor seinen angeblichen Häschern zu retten. Das Karussell dreht sich unaufhaltsam. Samira, die kaum je ehrliche Zuwendung erfährt, sich in einer Welt der Ruchlosigkeit, Gewalt und Perversion behaupten muss, nichts ausser ihrem Namen und einen Brief von Marina besitzt, strauchelt ungewollt, geschupst, gestossen, gezwungen und geschlagen, von einer Katastrophe zu nächsten. Ein Schicksal, dass sie mit Tausenden teilt, die mit falschen Versprechungen an den Strassenstrich und in Bordelle gezerrt werden.

Ekel: «Jeder hat eine Mama.» «Ich nicht.» «Doch, es gibt immer eine Fotze, aus der man rauskam.»

Meine Welt ist genauso real wie jene Samiras. Leider. So wie Olga Grjasnowa in ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern» mir als Leser das Schicksal zweier syrischer Flüchtlinge vor Augen führt, so tut es Lana Lux mit «Kukolka» mit jenem von osteuropäischen, minderjährigen Zwangsprostituierten. Der Ekel darüber, was Unmenschlichkeit, Gier und seelische Verkommenheit anrichten können, wirkt bei der Lektüre von «Kukolka» beinahe körperlich schmerzhaft. Soll man sich die Lektüre dieses Romans antun? Wo sind die Grenzen zwischen Voyeurismus und echter Betroffenheit? Was tu ich mit dem, was sich während der Lektüre ansammelt? Immerhin ist es bedeutend mehr als eine Zeitungsmeldung oder ein zweiminütiger Klipp. Lana Lux fordert mich mit ihrem hemmungs- und schonungslosen Schreiben heraus. Und Samira, das Mädchen mit den schönen blaugrünen Augen, berührt mich mehr, als ich mir bei all den gnadenlos realistischen Szenen der Unmenschlichkeit zugestehen möchte. Samiras Schicksal ist ein Teil meiner Welt, obwohl ich mich sonst mehr ärgere über Drängeler im Supermarkt oder nasse Socken beim Wandern. Bücher wie «Kukolka» braucht es. Sie peitschen mich aus meiner satten Zufriedenheit.

Faszination: «Samira, wiederholte ich, und es klang, als würde ich den Namen aus einer Plastikfolie auswickeln.»

«Kukolka» ist nicht zuletzt ein moderner Schicksals- oder Abenteuerroman, der sich ganz der aktuellen Realität verschrieben hat. Beim Lesen trieb mich eine ähnliche Faszination wie damls als Kind, als ich «Die schwarzen Brüder» von Lisa Tetzner, «Die rote Zora» von Kurt Held oder als Jugendlicher «Papillon» von Henri Charrière gelesen hatte. Ich lese, weil ich wissen will, ob sie/er es schafft. Nur ist heute die Desillusionierung so stark, dass sich der Schmerz nicht verringern lässt angesichts der vielen Schicksale, die es nicht «schaffen». Ob «Kukolka» tröstet, bezweifle ich. Darf es nicht.

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

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