Tabea Steiner mit «Immer zwei und zwei» im Literaturhaus Thurgau

«Es ist, als käme man nach langer Zeit zu Hause an, wenn man die alten knarrenden Stiegen dieses Riegelhauses hinaufsteigt, und zuoberst vom Giebel her hinausblicken kann auf diese uralte Gletscherlandschaft, dieses Gewässer, das nach 4000 Jahren einen Einbaum freigegeben hat, dieses Weltkulturerbe, den Gnadensee. Gallus Frei und sein Team machen diesem Kleinod mit ihrer Herzlichkeit alle Ehre.» Tabea Steiner

Tabea Steiner im Gespräch mit der Moderatorin Cornelia Mechler

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof ganz in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival Literaare, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg», der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Gründe genug, um die umtriebige Schriftstellerin und Streiterin für das gute Buch nach Gottlieben einzuladen.

Natali ist Lehrerin, verheiratet, Mutter zweier kleiner Töchter und fest eingebunden in ihrem Leben und ihrer Glaubensgemeinschaft. Die Freikirche ist fixer Bestandteil der Wochenroutine, vor dem Essen spricht ihr Ehemann Manuel das Gebet und die Kinder gehen selbstverständlich in die Sonntagsschule. Doch alles ändert sich, als sich Natali verliebt — in eine Frau.

Die Gemeinschaft der Freikirche: Man schaut aufeinander. Die Mitglieder helfen und unterstützen sich – sofern sich alle an die klaren Vorschriften halten und nicht ausscheren. Tabea Steiners Roman ist keine Abrechnung mit Freikirchen, aber zeigt sehr wohl die negativen Seiten, sei es das Vorherrschen des Patriarchalen oder der Enge, aus der einer solchen Gemeinschaft schnell Zwang, Restriktion und ein Bewusstsein wird, dass das Aussen zum Bösen, die Gemeinschaft als letzte Bastion des Guten stilisiert. Sex vor der Ehe ist verpönt, der Mann gilt als Oberhaupt der Familie, und «Geschichten» mit denen komplexe Fragen einfach erklärt werden, wenn der Leiter in der Sonntagsschule Natalis Töchtern mit seiner Beschreibung eines strafenden Gottes schlaflose Nächte bereitet, sind Programm.

Der Roman war für die Autorin ein grundsätzliches Nachdenken über Strukturen und Dynamiken einer kirchlichen Gemeinschaft. Es sollte keine «Ausbruchsgeschichte» sein, kein «Befreiungsroman», weder für die Protagonistin noch für sie selbst, wie in Romanen wie «Unorthodox» von Deborah Feldmann. Und doch ist der Roman weit mehr als einer über die Problematik von Freikirchen. Gruppierungen, die für sich das Wahre, Echte, Richtige beanspruchen und alle «Aussenstehenden» bedauern oder gar verurteilen, gibt es überall. Sei es in der Politik, in gesellschaftlichen Fragen, Corona hat es mehr als deutlich vor Augen geführt, selbst beim Lifestyle.

Ein Roman, der mit Äusserlichkeiten Inneres beschreibt, sein Personal weder analysiert noch ausleuchtet, mir als Leser das Maximum an Interpretationsspielraum lässt, genau das Gegenteil dessen, was solch eng gefasste Gemeinschaften erlauben. Scheinbar leicht und flockig darüber, wie sehr man Lebensentwürfe einer Ordnung, einer Struktur zu opfern bereit ist, in einer Zeit, die Offenheit, Toleranz und Vielfalt propagiert.

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic