25 Jahre Bodmanhaus – Literaturhaus Thurgau

Aus dem Worthaus

Das Literaturhaus Thurgau feiert seinen 25. Geburtstag. Ich gratuliere der Stiftung, dem Haus und allen, die aktiv zum Gelingen des Lebens in diesem Haus beitragen von ganzem Herzen

Dreieinhalb Jahre hatte ich die Ehre und Freude, das Programm des Literaturhauses Thurgau zu kuratieren. In dieser Zeit und lange darüber hinaus wurde dieses Haus zu meinem Herzensort. Dass es nicht nur mir so geht, beweisen die vielen Gästbucheinträge in mein digitales Gästebuch auf literaturblatt.ch:

«Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn in Island und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt» November 2020

Eva Maria Leuenberger und Pamela Mendez

«Danke für die guten Tage im Literaturhaus und das schöne Experiment, danke für deine Offenheit und den Mut, uns einfach mal machen zu lassen! Mit herzlichsten Grüssen, Eva Maria Leuenberger» November 2020

«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen. Joachim Zelter» Dezember 2020

«Schon der Ort, viel beschrieben, zeigte sich an diesem Septemberdonnerstag von seiner zauberhaften Seite: ein mildes Spätsommerlicht über den Dächern, über dem Wasser, über den Wellen, flockig flatterndes Laub – und die Verzauberung drang durch die offenen Fenster in den Raum unterm Dach, mit dem Duft von Meer und Weite, mit Sonne, die auf die Gesichter sich legte. Wieder Lesung vor Menschen; Gesichter, wenn auch noch unter Masken, die ein Mienenspiel verrieten, ein Nicken, ein unter der Maske scheues Lachen, ein Augenspiel, Blicke, zustimmende Gesten, gehaltene Augenblicke, «gestundete» Zeit – Lesezeit. Ein Wunder nach der Pandemieisolation. Urs Faes» September 2021

Thomas Kunst

«So viele Schwäne wie auf dem Untersee am Bodensee sah ich wohl in meinem ganzen Leben in Deutschland nicht zusammen. Bei siebenhundertzwölf hörte ich auf zu zählen, aber auch, weil das Auto sich an seine Geschwindigkeit hielt, herzlichen Dank für alles. Es war ein Fest bei euch! Thomas Kunst» Januar 2022

«Du hast uns zusammengeführt, am Sommersee und im alte Worthaus. Der Abend hat mich gewärmt, die Worte, die verschiedenen Wortklänge haben mich gewärmt, und auch die langen Gespräche über Worte und zwischen den Worten. Ich habe den hellen Abend mitgenommen, vom See und vom Haus mit mir genommen, und einen Namen für unsere Verbindung auf der Wortbühne gefunden: Wahlverwandtschaften. Peter Weibel» Juli 2022

«Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Anja Schmitter» Oktober 2022

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür! Lukas Bärfuss» Februar 2023

Ana Marwan

«Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke! Ana Marwan» März 2023

«Nach zehnstündiger Anreise aus Berlin waren die Stunden in Gottlieben wie eine lange Umarmung. Nadja Küchenmeister» Mai 2023

«Es ist, als käme man nach langer Zeit zu Hause an, wenn man die alten knarrenden Stiegen dieses Riegelhauses hinaufsteigt, und zuoberst vom Giebel her hinausblicken kann auf diese uralte Gletscherlandschaft, dieses Gewässer, das nach 4000 Jahren einen Einbaum freigegeben hat, dieses Weltkulturerbe, den Gnadensee. Tabea Steiner» Juli 2023

Jan Wagner

«Noch sitze ich auf dem prachtvollen Holzbalkon des Gästezimmers mitten zwischen den Baumkronen, auf dem ich gestern Nacht, rauchte ich noch, stundenlang hätte rauchen mögen, und trinke einen Kaffee, ergänzt durch ein ofenwarmes Gipfeli aus dem hübschen Laden nebenan. Dauerhaft Wärme spendete allerdings Eure Gastfreundschaft, der herzliche Empfang, der von Euch gestaltete und rundum beglückende Abend; ein bißchen von diesem Wärme- und Wohlgefühl hoffe ich gen Norden, nach Berlin retten zu können. Jan Wagner» September 2023

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Alice Grünfelder» Dezember 2023

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude. Urs Faes» Dezember 2023

Illustrationen © Lea Le / Literaturhaus Thurgau

Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Alice Grünfelder «Postkarten aus Sri Lanka» 3/3

Füsse
gehen barfuss den sandigen Weg hinauf, begleitet wird das Mädchen von zwei Schwestern, Freundinnen vielleicht, ihr Kopf unter einem Tuch, und damit kein Blick in die Zukunft.

Boote
schweben fast, als die Flut sie holt, so leicht ist ihr Fang, das Meer rollt und rollt, am Himmel ein Kinderdrachen, sein langer Schwanz aus schwarzen Müllsäcken zusammengeklebt.

***

Bäume («Postkarten aus Sri Lanka» 2/3)
mit dunklen Striemen, Schnittwunden tropfen schon lange nicht mehr, damit anderswo schwarzer Gummi rollt.

Tee
Sträucher, in zahllosen Reihen wie Striche am Hang, Grünspitzen werden gepflückt, Säcke warten am Strassenrand – Rast nur in Waldtempeln, wenig mehr als ein hochgestellter Stein mit gelber Bauchbinde unter wiegenden Baumkronen.

***

Schuss («Postkarten aus Sri Lanka» 1/3)
und schon kommen Menschen um eine Wegbiegung, Schuss, tragen ein längliches Etwas auf ihren Schultern, Schuss, Schuss, ein „big man“ sei gestorben, sagt eine Frau, meint sie „tall“ oder „big“, immerhin ragt ein weisser Haarschopf hervor, noch ein Schuss, auf einem Strommast klebt die Todesanzeige, 90 Jahre ist er geworden, der Weg ins Jenseits muss ihm freigeschossen werden.

***

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd – studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane, zuletzt bei dtv «Jahrhundertsommer«. Das Buch «Wolken über Taiwan» (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage. Diverse Auszeichnungen, u.a. nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Postkarten aus Taiwan

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder «Postkarten aus Sri Lanka» 2/3

Bäume
mit dunklen Striemen, Schnittwunden tropfen schon lange nicht mehr, damit anderswo schwarzer Gummi rollt.

Tee
Sträucher, in zahllosen Reihen wie Striche am Hang, Grünspitzen werden gepflückt, Säcke warten am Strassenrand – Rast nur in Waldtempeln, wenig mehr als ein hochgestellter Stein mit gelber Bauchbinde unter wiegenden Baumkronen.

***

Schuss («Postkarten aus Sri Lanka» 1/3)
und schon kommen Menschen um eine Wegbiegung, Schuss, tragen ein längliches Etwas auf ihren Schultern, Schuss, Schuss, ein „big man“ sei gestorben, sagt eine Frau, meint sie „tall“ oder „big“, immerhin ragt ein weisser Haarschopf hervor, noch ein Schuss, auf einem Strommast klebt die Todesanzeige, 90 Jahre ist er geworden, der Weg ins Jenseits muss ihm freigeschossen werden.

***

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd – studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane, zuletzt bei dtv «Jahrhundertsommer«. Das Buch «Wolken über Taiwan» (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage. Diverse Auszeichnungen, u.a. nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Postkarten aus Taiwan

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder «Postkarten aus Sri Lanka» 1/3

Schuss
und schon kommen Menschen um eine Wegbiegung, Schuss, tragen ein längliches Etwas auf ihren Schultern, Schuss, Schuss, ein „big man“ sei gestorben, sagt eine Frau, meint sie „tall“ oder „big“, immerhin ragt ein weisser Haarschopf hervor, noch ein Schuss, auf einem Strommast klebt die Todesanzeige, 90 Jahre ist er geworden, der Weg ins Jenseits muss ihm freigeschossen werden.

***

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd – studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane, zuletzt bei dtv «Jahrhundertsommer«. Das Buch «Wolken über Taiwan» (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage. Diverse Auszeichnungen, u.a. nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Postkarten aus Taiwan

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Alice Grünfelder

Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Alice Grünfelder „Jahrhundertsommer“, dtv

In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.

Gastbeitrag
von Franco Supino 

Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.

Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).

Alice Grünfelder «Jahrhundertsommer», dtv, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-423-28345-8

Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.

Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!

Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt

Was macht ein Land, das von einer Grossmacht bedroht wird? Was, wenn die Bedrohungen eines Landes von ganz vielen Mächten ausgehen? Alice Grünfelder schreibt mit einem Herz voller Leidenschaft.

Erstaunlich, wie wenig deutsche Buchveröffentlichungen über Taiwan in den letzten Jahren erschienen sind. Auch erstaunlich, wie wenig Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, aus Taiwan ins Deutsche übersetzt wurde. Eine der löblichen Ausnahmen ist der bei Matthes & Seitz von Wu Ming-Yi erschienene Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ein Autor, Künstler, Umweltaktivist und Professor, der schon für den Man Booker International Prize nominiert wurde, bei uns aber weitgehend unbekannt blieb. Wesentlich bekannter im deutschen Sprachraum ist Stephan Thome, der viele Jahre und immer wieder auf der Insel Taiwan lebt und seinen Roman „Pflaumenregen“ dort spielen lässt.

Dass sich die Sinologin, Germanistin und Schriftstellerin Alice Grünfelder seit Jahrzehnten mit Taiwan beschäftigt, ist nicht weiter verwunderlich. Aber sehr wohl erstaunlich ist die Art und Weise, wie Alice Grünfelder sich mit diesem Inselstaat zwischen den Fronten der Grossmächte beschäftigt.
Sie tut das in der Tradition der klassischen Pinselnotizen, biji, essayistischer Miniaturen, die Reiseeindrücke, Gedanken, Beobachtungen, Anekdoten, Betrachtungen bis hin zu Gedichten und eigentlichen Reportagen in einem Buch versammelt, in Überschriften alphabetisch geordnet. „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ ist weder Reiseführer noch Sachbuch. Da ist mehr als Faszination für ein Land, das gleich auf mehreren Ebenen bedroht ist und wird. Aus Alice Grünfelders Buch ist Liebe zu spüren, die Liebe für ein Land, eine ganz besondere Insel, eine Geschichte und mit Sicherheit auch die Liebe für einen David, der angesichts eines riesigen Goliaths weder in Lethargie noch Depression verfällt.

Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt, 2022, 260 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-85869-943-5

Taiwan, eine Insel wesentlich kleiner als die Schweiz aber mit dreimal höherer Bevölkerungszahl, ist ein hoch technisierter Staat, von den wenigsten Staaten als solcher anerkannt und ganz im Gegensatz zu seinem übermächtigen und aggressiven Grossnachbarn seit einem Vierteljahrhundert ein weitgehend demokratisch funktionierender Vielvölkerstaat. Seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von fremden Mächten besetzt, droht die Volksrepublik China offen mit der gewaltsamen Eroberung der Insel. Dass solche Drohungen ernst zu nehmen sind, beweist uns die Geschichte nicht erst seit der Annektierung der Krim durch Russland und den Eroberungs- und Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine. Aber ganz offensichtlich lässt sich die Inselbevölkerung Taiwans durch die unmissverständlichen Drohgebärden des Einparteistaats China nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Taiwan prosperiert. Nicht nur dank ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Produktion von Computerchips.

Alice Grünfelder wollte eigentlich wegen eines Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr, zur Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse auf die Insel. Ich werde nichts über Taiwan schreiben. Nur Postkarten, das muss genügen, schreibt sie unter dem Titel „Schreiben“. Und nun ist doch viel mehr aus dem halben Jahr geworden; eine Annäherung an ein Land, eine Kultur, die wechselseitige Geschichte, die Landschaft und die vielfältigen Bedrohungen. Die Stürme, die Taifune, die Erdbeben, die Vulkane, die Unwetter, der steigenden Meeresspiegel, die klimatischen Veränderungen – und China.

Was sie schreibt, ist behutsam und voller Respekt, eingetaucht in Liebe für ein Land, dass sich selbstbewusst und demokratisch allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Bedrohungen stellt. „Wolken über Taiwan“ ist eine Annäherung mit Mehrfachperspektive, eine vielfältige Einladung, sich mit einem Land zu beschäftigen, das sich all den Bedrohungen stemmt, geschrieben von einer Frau, die mit literarischen Stimmen umzugehen weiss.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt «Vietnam fürs Handgepäck» (2012) und «Flügelschlag des Schmetterlings» (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman «Wüstengängerin» erschien 2018, der Essay «Wird unser MUT langen» 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI
Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VII

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alice Grünfelder