Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VII

Alice Grünfelder ist (noch) in Taiwan auf Spurensuche und schickte ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Diesmal, zum letzten Mal, versuchte sie es wieder mit Briefmarke und Stempel. Erfolglos. Dafür wieder digitanolog!

Taiwan – zum Letzten:
Eine Teeaffäre: Der Alte thront vor dem Teegeschirr
gießt Wasser vom Kännchen ins Schälchen
klopft den Wasserhahn gerade das Wasser fließt über
die Sonne geht auf, aber zu spät, wir sehen nur noch,
wie sie sich über den Drachenrücken schiebt und in Wolken verschwindet
er lächelt dazu und zieht erst die Augenbrauen in seinem Gesicht hoch
runzligkantig, als wir ihm von einer Schlange erzählen.

Design und Typo: Hsuan Liang Lin

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VI

Beitragsbild ©Alice Grünfelder 

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie noch immer keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das auch diesmal ohne Stempel.

Ruhe und hoch das Paddel vor dem Stich
ins Wasser ein Ruck zurück die Trommel dazu.

Ruhe ist, weil nichts gehört
er nicht und auch nicht die anderen
wundwaid rechten
den Mächtgen und Gefälligen
in Arm und Wort fallen.
Er fechtet mit Worten statt mit Degen
merkt nicht den Stich in den Rücken
bevor er vertrieben.

Hoch in den Bergen windet er
Girlanden aus Gladiolen
aus Efeu ein Gewand
streift umher in üppiger Einsiedelei
niemand hört ihn mehr.
Bambus splittert, Herbstastern stechen
Sommer und Winter im Einerlei.

© aus einer unveröffentlichten Rhapsodie auf Qu Yuan

Das Drachenbootfest wird am 5. Tag des 5. Monats nach dem chinesischen Mondkalender zu Ehren des Beamten und Urvaters der chinesischen Lyrik Qu Yuan gefeiert – dieses Jahr also am 25. Juni. Aus dieser historischen Legende wuchs die Tradition des Festes: Vom König wegen seiner Kritik an dessen Politik ins Exil geschickt, stürzte sich Qu Yuan mit einem Stein um den Hals in den Fluss, als seine Heimat von fremden Truppen erobert wurde. Damit ihn die Fische nicht fressen, trommelten die Fischer und warfen Nahrungsreste ins Wasser. Zum Fest werden heute Zongzi (Bambusblätter mit diversen Füllungen) gegessen und duftende Beutel gegen diverse Seuchen aufgehängt. Jeder kennt Qu Yuan, nur wenige kennen seine Schriften.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» IV

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» V

Beitragsbild ©Alice Grünfelder (absichtlich auf den Kopf gestellt)

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

Shilin 士林

(Lang-Haiku)

Surrende Morgen
im Wald der Gelehrten wie
ein Dorf in der Stadt
Tofuverkäufer richten
die Stände Nudeln werden
geschlürft Kinder auf
Motorrollern zur Schule
gefahren derweil
das Café an der Ecke
geschlossen wegen
der Krise alte
Frauen und Männer schwingen
Arme und Beine
im Kinderwagen sitzt ein
Hund Frauen wollen
keine Männer regieren
besonnen das Land.
Warum werden Graffiti
bald weiss übermalt?
Die hohen Betonmauern
schützen vorm Fluss wenn
der Taifun Wasser
in die Stadt treibt weit schwingen
Brücken zähmen die
Natur Mensch gefangen
im löchrigen Netz.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan IV

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

LINIEN ziehen durch meine Gedanken, Linien auch beim Blick aus dem Fenster, Gitterlinien zwar, nicht einmal zwanghaft strukturierend oder einengend, eher ein Zurückgeworfensein auf sich selbst, damit die Gedanken nicht davonflattern.

ALS (Flug-)Linien gekappt wurden, ging ich eines Morgens hinunter zum Fluss und zog mit meinen Armen Linien durch die Luft, ließ die letzte Brokatübung ausklingen, als von weither Schlagermusik nahte. Eine Frau mit Sonnenbrille trotz bewölktem Himmel, gelber Nylonjacke, geblümtem Rock hängte eine Plastiktüte an den Baum, darin schepperte die Musik weiter. Sie bückte sich, zog ihre Jacke aus, schwang ihre Arme und klatschte in die Hände, nestelte an der Tüte herum, doch ich hoffte vergebens, dass sie die Musik abstellen würde. Mit hoch erhobenem Kopf zog ich – wie lächerlich! – davon.

UND meinte doch kurz zuvor, im glücklichen Nichts-mehr-Wollen angekommen zu sein.

Blick aus dem Fenster © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Der Unwetterer – Biji* über den Maler Adolf Stäbli»

Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.

Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.

Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.

Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?

Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.

Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug

Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.

„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?

Biji = Pinselnotiz, chinesische literarische Gattung, essayistische Miniaturen, verdichten Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen assoziativ.

Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.

20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.

Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

Ziviler Ungehorsam für den Frieden.
Ein Essay von Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Webseite der Autorin

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Collage von A. Grünfelder

Glück ist…

… wenn die sichelförmigen Holzplättchen im Tempel richtig fallen
und eine Frage mit Ja oder Nein beantwortet wird.

… wenn zum Ausfüllen eines Formulars die Behörde drei Lesebrillen
mit drei verschiedenen Dioptrien zur Verfügung stellt.

…. wenn einer sein Schwein mit einem Glücksbringer am Halsband
im Park spazieren führt.

… wenn die Erde einmal nicht bebt.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» I

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II

«Was haben wilde Erdbeeren, wilde Lilien und Sonnenblumen gemeinsam?» Es sind Namen dreier Bewegungen Taiwans, die jedes Mal zu einem unblutigen, wenngleich spektakulären Machtwechsel führten. Wie zeigt sich nun der in der Vergangenheit erprobte Widerstand? Und wie sehen die Zeichen von Non-Konformismus im turbokapitalistischen Alltag der Inselrepublik aus?

Mit diesen Fragen im Koffer macht sich die Schriftstellerin Alice Grünfelder in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Erste Irritationen

Wo ist Ost und West wenn
der Nebel in die Stadt drückt
kein Sonnenlicht im
mehrstöckigen Labyrinth
Google Maps ein schwacher Trost

Glocke und Drache
im Osten mit Weihrauch um
Glück bitten Krankheit
und Angst mit Geld verscheuchen
so die Regeln in Tempeln?

 

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan»

«Was haben wilde Erdbeeren, wilde Lilien und Sonnenblumen gemeinsam? Es sind Namen dreier Bewegungen Taiwans, die jedes Mal zu einem unblutigen, wenngleich spektakulären Machtwechsel führten. Wie zeigt sich nun der in der Vergangenheit erprobte Widerstand? Und wie sehen die Zeichen von Non-Konformismus im turbokapitalistischen Alltag der Inselrepublik aus?

Mit diesen Fragen im Koffer gehe ich in Taiwan auf Spurensuche und werde mein Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichten, die ich per Postkarte ans literaturblatt.ch schicke – jeden Monat eine.

Alice Grünfelder»

Alice Grünfelder reist. Anders als die meisten Reisenden sonst nicht zur Zerstreuung, sondern zur Konzentration auf ganz bestimmte Themen, die in ihr Schreiben hineinfliessen. Weil ich von dieser Reise erfuhr, entstand die Idee, dass Alice Grünfelder ganz spezielle Kartengrüsse aus dem für die meisten fremden Land schicken könnte. Kartengrüsse, die über das Oberflächliche hinaus in die Tiefe blicken lassen sollen. So freue ich mich, dass die Schriftstellerin uns mitnimmt auf ihre Reise.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt «Sri Lanka. Geschichten und Berichte» (2014) und «Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen» (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» (Verlag edition8).

Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)

«Ich bin masslos enttäuscht» – eine Einschätzung

Bei der Lesung der Grande Dame der Holländischen Literatur Margret de Moor sassen eine Mutter mit ihrer Tochter in der Reihe vor mir, beide mit Brillen im Haar, die Junge mit schulterfreier, weisser Bluse. «Ich bin masslos enttäuscht. Ich habe geschrieben und angerufen. Aber alle hatten sie eine Ausrede. Ich bin enttäuscht von meiner Generation.»

Ich konnte mich ihrer lautstarken Entrüstung nicht entziehen. Die Lesung würde gleich beginnen. Sie, die junge Frau vor mir, wetterte weiter in Richtung ihrer Mutter. «Hast du gesehen, wer hier ist und wer hier fehlt? Meine Generation. Jene, die dauernd hausieren, was sie alles gelesen haben. Ich bin enttäuscht.» Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte mich eingemischt, hätte der Enttäuschung der jungen Frau beigepflichtet. Nicht um sie zu beschwichtigen, sondern um Öl ins Feuer zu giessen.

Die junge Frau hat recht. Auch wenn die Organisatorinnen und Organisatoren der 40. Solothurner Literaturtage nicht einmal in den Windeln waren, als das Festival vor 40 Jahren ins Leben gerufen wurde, sind die Besucher und Besucherinnen durchschnittlich deutlich im Rentenalter; durchaus frisch und jung geblieben, beweglich und offen. Aber ganz offensichtlich die aussterbende Generation derer, die sich von der Literatur aus der Komfortzone locken lassen. Keine Generation las so viel wie die junge heute. Aber es scheint nicht zu reichen für die Geheimnisse der Literatur.

Dabei sind sie da, die Stimmen, die Aktualität mit Literatur verbinden. Auch in den frischen Stimmen der Schweizer Literatur. Zwei Beispiele:

Alice Grünfelder, einst Buchhändlerin, dann Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, arbeitete lange beim Unionsverlag Zürich als Herausgebende der «Türkischen Bibliothek». Ihre Leidenschaft ist Asien. Eine Leidenschaft, die sie einen ersten Roman schreiben liess – «Die Wüstengängerin».
Anfang der 90er Jahre reist die Studentin Roxana  entlang der Seidenstrasse, um unbekannte buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen als Beweis dafür, dass die Region dort nicht «immer» islamisch war. Zwanzig Jahr später reist Linda wegen eines Entwicklungsprojekts ebenfalls nach Xinjiang und stösst dabei auf die Spuren Roxanas.
So sehr das Schicksal der Uiguren aus dem Bewusstsein des Westens gefallen ist, so leidenschaftlich verpackt die Autorin die letzten zwanzig Jahre Geschichte eines Volkes, das vergessen von der Weltöffentlichkeit um seine Rechte kämpft. Das Gebiet der Uiguren war über Jahrhunderte immer wieder Durchgangsland, sowohl wirtschaftlich wie militärisch. Die chinesischen Repressalien heute und in den vergangenen Jahrzehnten sind strategisch. Die Gegend muss «ruhig» bleiben, um all die geopolitischen Absichten Chinas durchzusetzen.
Alice Grünfelders Auftritt im schmucken Stadttheater Solothurns hat Eindruck gemacht. Nicht nur weil das orange Vorsatzpapier ihres Romans, das textile Buchzeichen, ihr pelziger Fingerring und die orange Hose mit chinesisch anmutenden Stickereien Ton in Ton zueinander passten. Eine Wüstengängerin erzählt von «der Wüstengängerin», eine leidenschaftliche Frau von einer leidenschaftlichen Frau. Ein Roman, der eine politische Dimension beinhaltet, ohne zu belehren, der nicht nur dokumentieren will, ebenso unterhalten. Ein Roman, der fasziniert und mehrfach erstaunt.

Auch bei der 1979 geborenen Regula Portillo ist das Stadttheater proppenvoll. Ob Heimspiel, weil sie im Kanton Solothurn aufwuchs oder angelockt vom Mut einer jungen Frau, die ein Stück Geschichte Lateinamerikas aus der Sicht von Schweizern erzählt, bleibe dahingestellt.
Eine Parallelerzählung von Eltern und Töchtern, von einem zehnmonatigen Aufenthalt eines Ehepaars in Nicaragua während der Revolution, den Kämpfen zwischen Sandinisten und von den USA unterstützten Contras. Und den Töchtern, die nach dem Tod der Eltern das Haus räumen und erst da entdecken, dass die Eltern in ihrer verschwiegenen Vergangenheit ganz andere Leben führten. Sie entdecken die Hinterlassenschaft zweier Brigadisten aus der Schweiz, eines Paars, das in einer ganz anderen Welt an den Umständen von Revolution und Zerrissenheit zu zerbrechen drohte.
Viva Nicaragua! Viva la Revolución! Eine Mission voller Enthusiasmus, die an der Wirklichkeit zu scheitern drohte. Eine zehnmonatige Reise der Eltern in den 90ern in ein Land, in dem Umsturz, Revolution und neue Ideen das erreichen sollten, was in vieler Hinsicht nicht einmal im Heimatland zu erreichen war.
«Warum verschwand Jahrzehnte später das, was zuvor eine ganze Generation beschäftigte?», war eine der Motivationen der jungen Autorin Regula Portillo. 800 Schweizerinnen und Schweizer zogen damals nach Nicaragua, in der Absicht, sich an historischen Prozessen zu beteiligen. Eine Revolution, die in Lateinamerika stattfand, aber in den Herzen eingeschlossen in viele Länder zurückgetragen wurde, eingehüllt von Enttäuschung und Kränkung.
Nicht einfach ein Roman über die Revolution in Nicaragua! Wie weit dürfen wir uns in die Geschicke eines «fremden» Landes einmischen? Was nehmen Eltern mit dem Sterben mit ins Grab? Wo bleiben all die Geschichten, die unwiderruflich dem Vergessen drohen? Auch ein Roman über die Rolle der Frau, über ein Paar, das sich aussetzt, das Scheitern, über den Tod.

Ich bin nicht enttäuscht. Aber im Grunde genauso ratlos wie die junge Frau im Landhaussaal in der Reihe vor mir. Während Solothurn unter der Vorsommersonne voll mit jungen Menschen ist, die am Ufer der Aare ihre Seele baumeln lassen, bleiben die «Alten» unter sich. Und wenn die Solothurner Literaturtage dereinst auch das Pensionsalter erreichen sollten, bleibt die Frage existenziell, wie die jungen Generationen von Literatur erfolgreich infiziert werden sollen.

Titelbild: Alice Grünfelder und Moderatorin Bernadette Conrad