Doris Konradi «Aber die Insel», Elsinor

Monte Sano, eine Insel weit draussen im Atlantik, ein einziges Hotel über einer Bucht, zu erreichen nur mit einer Fähre. Paula hat tief in die Tasche gegriffen, um dort hin zu kommen, möglichst weit weg von dem Schlamassel, aus dem sie sich zuhause nicht mehr zu winden wusste. Eine Reise, weit über die Grenzen hinaus.

Paula ist Richterin und nimmt sich eine Auszeit. Vielleicht auch ein bisschen mehr als eine Auszeit. Vielleicht auch nicht bloss eine Auszeit von alldem, was sie immer weniger frei atmen liess. Kurz bevor sie ihre Sachen packte, machte man ihr auch noch den Vorwurf, ihr fehle es an Empathie. Ausgerechnet. Und da war auch noch Henrik. In maximaler Distanz will sie ihre gebeutelte Seele baumeln lassen, die Sonne geniessen, ein Buch lesen, ein bisschen spazieren.

Das Hotel auf der Insel ist in die Jahre gekommen, obwohl man davon im Hotel selbst nichts merkt. Nicht einmal 40 Zimmer, ein ausgesuchtes Unterhaltungsprogramm, Gastronomie vom Feinsten, die Insel ein einziger Garten. Auf der anderen Seite der Insel soll sich eine Forschungsstation befinden, abgeriegelt, von der Hotelseite her nicht zu erreichen. Und weil das Hotel der einzige Grund ist, hierher zu kommen, bleibt der Steg in der Buch auch meistens leer. Aber Paula langweilt sich schnell. Mag sein, dass es an daran liegt, dass sie allein angereist ist, dass sie keine Lust verspürt, an den organisierten Geselligkeiten teilzunehmen, dass sie gar niemanden kennenlernen will, dass sie ihre Ruhe haben will. Zur Langeweile gesellt sich der Frust darüber, dass Paula genau spürt, dass die grösstmögliche Distanz nur ein dumpfer Versuch ist, etwas zurückzulassen, was man doch überall mit sich herumschleppt. Irgendwann fügt sie sich in den Hotelrhythmus, weil sie merkt, dass sie hier nicht finden wird, worauf sie hoffte. Ausser den wenigen Momenten in jener Bucht, etwas vom Hotel entfernt, im leisen Schauer einer undeutlichen Bedrohung.

Doris Konradi «Aber die Insel», Elsinor, 2022, 200 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-942788-69-4

Aber dann plötzlich überstürzen sich die Ereignisse. Paula versäumt die ausgemachte Fähre zurück aufs Festland. Weil ihr Zimmer bereits wieder vermietet ist, wird sie in eine leeren Personalzimmer einquartiert. Und als sie nach einer langen Nacht aufwacht, ist nicht nur das Fenster von einem eigenartigen Niederschlag trübe, sondern das ganze Hotel leer. Aus einem nicht beschlagenen Fenster sieht sie, dass kein Blatt geblieben ist, die ganze Insel von einer Art Schnee bedeckt, alle Bäume kahl und die Sonne nur durch einen Schleier sichtbar. Irgendetwas musste passiert sein. Man hatte das Hotel evakuiert – und sie vergessen.

Weil Paula annehmen muss, dass alles ausserhalb des Gebäudes lebensfeindlich geworden ist, bunkert sie sich ein, stets in der Hoffnung, irgendwann werde irgendwer auftauchen, um sie zurück in ihr Leben zu bringen. Aber niemand kommt. Nach Wochen ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt macht sich Paula mit dem was an haltbarem Proviant übriggeblieben ist auf auf die andere Seite der Insel. Hin zu dieser Forschungsanstalt, 100 Kilometer quer durch ein totes Eiland, stets mit der Angst, sich mit zu vergiften. Ein Tripp, der mit schwindenden Vorräten zu einem Tripp in den flirrenden Wahrnehmungen zwischen Wahnsinn, Panik und Momenten glasklarer Einsichten wird. Und in ebenjener unwirklichen Umgebung begegnet sie den Geistern unmittelbar, vor denen sie mit ihrer Reise zu Beginn entfliehen wollte.

Doris Konradis Roman „Aber die Insel“ ist kein Abenteuerroman, und doch ist er einer. Ein Abenteuer einer Verwandlung. Paula beginnt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ultimativ. „Aber die Insel“ ist keine Robinsonade, und doch ist er eine, eine Gestrandete, Ausgesetzte, Verlorene, Vergessene. „Aber die Insel“ ist auch kein Endzeit- oder Ökoroman, aber vielleicht doch. Paula erfährt nach und nach, was die Gründe für die Zerstörungen, das ausgelöschte Leben auf der Insel sein müssen. Paula wandelt sich zu einer anderen. In den Monaten auf der Insel ändert sich alles, am meisten in ihr selbst.

Ich nahm das Buch rein zufällig in die Hand, begann zu blättern und hätte es nach nicht einmal einer Seite auf die Seite gelegt. Aber ich blieb hängen, erstaunt, beeindruckt, verblüfft. Doris Konradis Roman ist sprachlich überzeugend ohne Irritation konstruiert, eine Reise in die Tiefe ohne störendes oder effekthaschendes Beigemüse. Ein Roman, der ein Wagnis beschreibt, ein Roman mutig geschrieben!

Interview

Inselgeschichten, in der Literatur oder im Film, haben eine lange Tradition und strahlen ungeheure Faszination aus. Nicht zuletzt darum, weil das Geschehen auf einen scheinbar überblickbaren Kleinkosmos reduziert wird. Was war die Initialzündung zum Schreiben dieses Romans? Eine „Inselerfahrung»?
Mehr als die Insel stand am Anfang des Schreibens das Urlaubshotel im Vordergrund. Ein Ort des Luxus‘, der in seinen Abläufen überall auf der Welt ähnlich ist. Sich etwas leisten, den Urlaub, eine Auszeit, das gute Leben in exotischer Umgebung, ist zu einem Credo unserer Lebensweise geworden. Viele haben diesen Wunsch, aber global betrachtet bringt uns diese Art zu denken in eine zunehmend ausweglosere Lage.

Eine junge Frau flieht vor ihrem Leben. Sie ist Richterin. Doch eigentlich eine Aufgabe, mit der man Ordnung in eine Schieflache bringen soll. Ausgerechnet sie, die sich in maximale Distanz zu ihrem bisherigen Leben zu bringen versuchte, kämpft sich auf einer Insel durch ein aus allen Fugen geratenes Gleichgewicht, quer durch eine Insel, auf der die Apokalypse einbrach, alles Leben ausgelöscht wurde. Sie begrenzen die Katastrophe auf eine Insel. Von einer Insel kann man sich retten. Von der Erde kaum. Wollten Sie ihrer Protagonisten die eine Chance nicht verwehren?
Es ist richtig, dass ich offene Enden mag, es gern dem Leser, der Leserin überlasse, welche Schlüsse gezogen werden. Das ist vielleicht die Hoffnung, ohne die ich selbst nicht leben möchte, die Hoffnung darauf, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, Lösungen zu finden. Inzwischen liegt mir eine endzeitliche Klimadystopie und Naturzerstörung zu nah an dem, was wir in der Realität erleben, um darüber zu schreiben. Über reale Politik mag ich oft gar nicht nachdenken, als Schriftstellerin brauche ich diese Hoffnung.

Viele Bilder aus Ihrem Roman sind archetypisch. Eine Inselidylle, ein Mensch kämpft sich allein durch die Katastrophe, allein in einem Hotel, die Welt im Würgegriff derer, die sich über die Ordnung der Natur hinwegsetzen… Ihr Roman ist eine Versuchsanordnung: Was passiert mit einem Individuum, wenn man aller Sicherheit beraubt wird. Das sind existenzielle Fragen. Fragen, die mit weltweiten Pandemien und Klimaängsten nachvollziehbar sind. Sind wir letztlich mit uns allein?
Es wird viel von individueller Freiheit gesprochen, dazu gehört auf der anderen Seite auch das Alleinsein. Doch oft fehlt der Mut, es für sich selbst zu bejahen und Verantwortung zu übernehmen. Meistens höre ich „die Politik“ muss etwas tun, „der Staat“ ist in der Pflicht. Hinter diesen Phrasen kann man sich als Individuum gut verstecken. Ich finde es wichtig, das Denken nicht zu begrenzen, was auch beinhaltet, sich seinen Ängsten auszusetzen und Sicherheit nicht als selbstverständlich anzusehen.

Schon als Zitat vor Ihrem Roman steht ein Satz von Wolfgang Herrndorf; „Als Gegensatz zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passendes Wort wäre im Grunde Einsamkeit». Viele Menschen haben während der Pandemie erfahren, was Einsamkeit bedeutet. Wie nahe sie an der „Zivilisation» ist, wie schnell wir in Einsamkeit hineinfallen, auf eine Insel in uns selbst. Wir leben zwar in einer Welt, die so fleissig kommuniziert wie noch nie. Gleichzeitig vereinsamen Menschen mitten drin. Ihre Protagonistin erwacht gleich mehrfach. Was müssen wir tun, dass wir aufwachen?
Das Zitat von Wolfgang Herrndorf drückt viel von dem aus, was mir beim Schreiben des Romans durch den Kopf ging. Zivilisation bedeutet, in einem Regelsystem mit anderen zu leben. Meine Protagonistin erlebt, dass diese Regeln nicht mehr gelten in ihrer Situation. Sie ist dadurch gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen als bisher, was auch frühere Entscheidungen in Frage stellt. Das, was wir Zivilisation nennen, ist stark positiv konnotiert, hat aber auch hingeführt, wo wir heute stehen. Einen Schritt zurücktreten und wahrnehmen, was geschieht lohnt sich in jedem Fall.

Ein Strand, ein Hotel, Sonne, gutes Essen, ein perfektes Unterhaltungsangebot – so, wie sich die meisten den perfekten Urlaub vorstellen. Und dann implodiert das Geschehen. Nichts erinnert an die Hochglanzidylle. Aus der Idylle, dem Paradies wird eine Hölle. Ist „Schreiben» so wie das „Lesen» nicht auch ein Fluchtversuch?
Für mich ist Fiktion – und Kunst überhaupt – keine Flucht. In der Fiktion kann ich genau diesen Schritt zurücktreten und damit vielleicht die Dinge klarer sehen. Nicht umsonst bekämpfen Despoten immer die Kunst in all ihren Ausdrucksformen, so auch die Literatur. Denken wir nur an Afghanistan, mit welcher Macht Frauen das Lesen vorenthalten wird. Jede Kunst kann subversiv sein oder zum Nachdenken anregen. Vor allem aber vermittelt sie ein Gefühl für das, was ist oder was sein könnte. Für mich kondensiert sich in der Fiktion die Essenz des Lebens.

Doris Konradi (1961) lebt als freie Autorin in Köln. Nach ihrem Abschluss als Diplomvolkswirtin wandte sie sich der Arbeit in kulturellen Organisationen zu, bildete sich fort in Drehbuchschreiben, tanzte viele Jahre bei der Wigman-Schülerin Katharine Sehnert, lernte Cellospielen. Dem Schreiben widmete sie sich nach der Geburt ihrer zweiten Tochter. Die erste Kurzgeschichte «Freunde von Lula» gewann den 3. Preis beim Bettina-von-Arnim Wettbewerb 2003. Danach folgte ihr Debütroman «Fehlt denn jemand». Seit 2014 interdisziplinäre Projekte mit Künstler:innen aus verschiedenen Bereichen. Für ihre Arbeit erhielt Doris Konradi zahlreiche Auszeichnungen.

Beitragsbild © Malin Kundi

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche

Bleiben wir letztlich alle allein? Verspechen wir uns im Gefüge „Familie“ nicht viel zu viel? Katja Schönherrs Roman „Alles ist noch zu wenig“ erzählt aus dem „Kampfgebiet Familie“, von den Kollateralschäden permanenten Verdrängens und der Unfähigkeit, das Gegenüber zu akzeptieren. Ein Roman, der nichts beschönt!

Inge ist 84 Jahre alt und wohnt allein in einem Haus auf dem Land, in der ostdeutschen Provinz. Dass man sie fand, war dem Umstand zu verdanken, dass die Nachbarin Ulrike zwischendurch zum Rechten schaut. Oberschenkelhalsbruch. Inge liegt im Spital. Irgendwann wird sie zurückkehren müssen, in das Haus mit Treppe, zurück in ein Haus, das sie so für lange Zeit nicht halten können wird. Inge hat zwei Söhne, Jens und Carsten. Jens, zwei Jahre älter als Carsten, hat sich schon vor Jahren im Streit auf die andere Seite des Atlantiks abgesetzt, möglichst weit weg. Und Carsten lebt von seiner Ex getrennt in der Stadt und teilt das Sorgerecht für seine halbwüchsige Tochter.

Inge telefoniert Carsten. Sie braucht ihn. Auch wenn Carsten wie so oft eine Dienstreise vorschiebt, um dem zu entfliehen, was ihn an ein Leben kettet, dem er nicht wirklich entfliehen kann. Er lügt gegen seine Ex, seine Tochter Lissa, lästig werdende Liebschaften und seiner Mutter. Aber irgendwann steht er dann doch da, weil er der einzig Verbliebene ist und bringt seine Mutter zurück in ein Haus, das für Carsten zum Gefängnis wird. Zwischen ihm und seiner Mutter haben sich über die Jahrzehnte Mechanismen eingeschliffen, die nicht zu überwinden sind; sein permanent schlechtes Gewissen und ihre ewig schlechte Laune, sein linkisches Tun und ihre dauernde Unzufriedenheit.

„Mit Mutter zu reden, ist wie der Versuch, einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten: Nie kriegt man es richtig hin.“

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche, 2022, 320 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7160-2801-8

Carsten zieht während Lissas Ferien zusammen mit seiner Tochter ins Haus seiner Mutter, für ein paar Tage, höchstens einige Wochen. Weg von seiner Arbeit, einer Firma für Frischhaltefolien, einem perfekten Feindbild seiner zur Klimaaktivistin werdenden Tochter. Carsten spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzieht, eine Schlinge, die ihm den Atem nimmt, weil alles in seinem Leben zum Kampf geworden ist; die vergiftete Beziehung zu seiner handicapierten Mutter, zu seinem verlorenen Bruder, seiner hämischen Ex und seiner aufmüpfigen Tochter. Aber auch an seiner Arbeitsstelle spürt er eisigen Gegenwind. Erst recht jetzt, wo ihn seine Mutter zwingt, seinen Arbeitsplatz im Nirgendwo einzurichten, abgeschnitten von der Welt.

Was von Familie übriggeblieben ist, ist ein Trümmerfeld. Sein Bruder Jens haute damals ab, weil die Eltern nicht wahrhaben wollten, dass Jens anders war als die anderen Männer. Der Bruch seines Bruders damals war aber auch nur der letzte Schritt einer langen Leidensgeschichte, die sich auch in der Familie abspielte. Inge weiss um ihre Fehler, um ihre Schwächen. Carsten weiss es auch. Und Lissa spürt, dass nicht sie es sein kann, die die Felsbrocken und Trümmersteine ins Rollen bringt. Dass Carsten in seiner Verzweiflung und seiner beruflichen Not auch immer wieder die Hilfe der Nachbarin sucht, die mit einer sterbenden Mutter unter dem gleichen Dach genauso wenig vom Glück begünstigt wird, vertieft das Misstrauen zwischen Carsten und seiner Mutter Inge nur noch mehr. Nicht zuletzt darum, weil die Nachbarin einst ein Verhältnis mit ihrem Sohn hatte.

„Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf die Fähigkeiten, die sie angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitigs Verständnis versagt.“

„Alles ist noch zu wenig“ beschreibt eine innerfamiliäre Pattsituation. Einen Ausnahmezustand, ohne sichtbaren Ausweg. Ein Kampfgebiet, das durch keine Friedenstruppe entwaffnet werden kann. „Alles ist noch zu wenig“ stellt die Frage, ob man als Sohn oder Tochter verdammt ist, um jeden Preis seinen „hinfällig“ gewordenen Eltern zu helfen. Ob man als Mutter oder Vater das uneingeschränkte Recht hat, Hilfe einzufordern, koste es, was es wolle. Niemand wählt sich seine Familie selber aus. Wie schafft man es, sich aus einer solchen Situation zu schälen? Reicht es, vom Gegenüber eine Veränderung, einen ersten Schritt, ein Entgegenkommen zu erwarten?

Katja Schönherr erzählt mit viel Empathie und grossem psychologischen Feingefühl. Sie schildert nicht auf Kosten ihrer Figuren, im Gegenteil. Ich als Leser leide mit. Man wünscht sich bei der Lektüre förmlich, die Protagonistïnnen anstossen zu können. Ihnen allen fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, den ersten Schritt zu tun. Sie alle warten und harren, bis die Verwerfungen wie tektonische Platten Erdbeben verursachen. Sie alle stecken fest in ihrem Zorn.

Interview

Ihr Roman beschreibt auch den Knick innerhalb der Generationen. Inge wuchs in einer Zeit auf, in der es noch eine Selbstverständlichkeit zu sein schien, dass sich nachfolgende Generationen um die Verwandten kümmern. Inge sagt einmal „Wozu hat man denn Familie?“. Carsten und erst recht seine Tochter Lissa gehören der Generation an, die alles auf die Karten „Individualismus“ und „Selbstverwirklichung“ setzt. So wie Sippe einst eine Rückversicherung war, ist Familie heute bloss noch eine Form der Selbstverwirklichung?
Ich glaube, viele hadern damit, beispielsweise ihre pflegebedürftigen Eltern nicht selbst umsorgen zu können. Viele würden diese „Rückversicherung“ gerne sein. Aber die Lebensumstände machen es ihnen schlichtweg unmöglich: Man wohnt zu weit weg, man muss arbeiten, man zieht gerade die eigenen Kinder gross. Alle haben immer zu tun, niemand sieht Land in seinem Alltag.
Gleichzeitig sind die staatlichen Strukturen für die Versorgung bedürftiger Menschen alles andere als zufriedenstellend. Das Pflegepersonal ist zu knapp bemessen und unterbezahlt etc. 
Für Carsten ist klar, dass er seine Mutter nicht pflegen kann. Er ist dazu nicht bereit, und diese Abgrenzung steht ihm meiner Meinung nach auch zu. Aber er weiss auch, dass er das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter nie wieder loswerden wird.

In Inge und Carstens Geschichte liegen Eiterherde verborgen, die nie aufbrachen, für die man nie den Mut aufbrachte hineinzustechen. Eiterherde, die zu Entzündungsherden wurden. Jens, Carstens Bruder, hat Reissaus genommen. Ein Schicksal vieler Familien, in denen sich Töchter, Söhne, Mütter oder Väter für ewig verabschieden. Was würden Sie jungen Eltern raten, wenn die Sie fragen, was sie tun müssten, um nicht in den Sümpfen einer Familiengeschichte steckenzubleiben?
Ich bin da nicht die beste Ratgeberin;-) Ich stecke ja selbst noch mittendrin in diesem Vorhaben, mit meinen Kindern nicht in irgendwelche ungesunden Muster zu verfallen.
Ich reflektiere zwar viel, aber das heisst nicht, dass es mir jedes Mal gelingt, innerhalb meiner Familie so besonnen zu handeln und geduldig zu reagieren, wie ich es eigentlich gerne möchte.
Das Wichtigste – wie in jeder Beziehung – dürfte aber eine offene Gesprächskultur sein. In der jede und jeder sagen kann, was sie oder ihn stört, was sie oder er braucht. Ausserdem sollte man sich entschuldigen können. Und: Ständiges Beleidigtsein (wie es Inge in meinem Roman tut, einfach, weil sie es nicht anders gelernt hat) ist etwas, das keine Beziehung zum Besseren verändert

„Niemand willigt in seine Geburt ein. Es handelt sich also um keinen Deal, den beide Seiten vorab untereinander ausgehandelt hätten. Deshalb schulden Kindern ihren Eltern nicht mehr, als sie jedem andern Menschen auch schulden: Respekt.“ Das proklamiert Lissa ihrem Vater Carsten gegenüber. Eine klare Ansage. So klar die Ansage oder auch ihre Absicht dahinter ist. Begriffe wie „Respekt“ können aber äusserst schwammig interpretiert werden. Oder nicht?
An diesen Punkt kommt ja auch Lissa: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Was nützt es Lissas Grossmutter denn, respektiert zu werden, wenn gleichzeitig niemand in ihrem Umfeld bereit ist, so für sie zu sorgen, dass sie weiterhin daheim leben kann? Wenn alles darauf hinausläuft, dass sie in ein Heim muss, obwohl sie das überhaupt nicht will? Einen Wunsch, den wahrscheinlich alle nachvollziehen können.

Manchmal ruft meine Mutter an mit dem Kommentar, wenn ich nicht anrufen würde, dann müsse sie es eben tun. Ich gebe zu, ich rufe zu wenig an. Hier ein kleiner Funke permanent schlechten Gewissens, dort ein permanenter Funke leiser Enttäuschung. Ihr Roman erklärt nicht und will schon gar keinen „Lösungsweg“ präsentieren. Ihr Roman beschriebt und tut zuweilen weh. War das Schreiben ein Ordnen oder ein wilder Ritt ins Ungewisse?
Es war ein Ordnen. Ich wusste ziemlich genau, wo ich hinwill. Ich wollte diese drei Generationen (die 15-jährige Lissa, deren Vater Carsten und dessen Mutter Inge) nebeneinanderstellen. Wollte ihre Lebenswelten und Denkweisen zeigen, genauso wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Alle drei haben ihre Wünsche und Anforderungen, aber keine und keiner ist bereit, auch nur ein Stück davon abzuweichen. Kompromisse sind unmöglich.
Die Darstellung im Buch ist natürlich zugespitzt. Aber ich wollte damit aufgreifen, was ich gesamtgesellschaftlich beobachte: Dass jede Generation, jede Interessensgruppe nur an sich denkt, und das Aufeinanderzugehen immer schwieriger wird. 

„Alles ist noch zu wenig“ ist ein bestechend guter Titel. Wahrscheinlich hat Carstens Mutter in ihrem Leben alles gegeben. So wie Carsten. Sie wie seine Töchter Lissa es auch versucht. Bei den einen scheint es zu reichen. Bei den andern reicht es nie. Pech?
Der Titel war nicht meine Idee, sondern die des Verlags. Ich mag ihn auch und bin auch sehr glücklich damit, weil er für jede der drei Hauptfiguren steht. Für Inge ist es immer zu wenig Fürsorge, für Carsten ist es immer zu wenig Freiheit, und für Lissa ist es angesichts der Klimakrise und diverser internationaler Konflikte zu wenig Zukunftsperspektive.

Katja Schönherr, geb. 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman «Marta und Arthur» wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebüt nominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.

Beitragsbild © Suzanne Schwiertz

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese

Edith Gartmann hat mich mit ihrem Debüt tief beeindruckt. Ein Buch wie ein Bergkristall, der das Licht in alle Farben bricht. Ein Buch, das mit grosser Zärtlichkeit aus der Sicht eines Mädchens erzählt, der kaum jemand hilft, ihre noch kleine Welt zu entschlüsseln. Ein Buch, das man nach der Lektüre ans Herz drückt und gar nicht ins Regal schieben will.

Lisa ist zehn und lebt mit ihrem kleinen Bruder, ihren Eltern und ihren Grosseltern, die nicht weit von ihrem Haus wohnen und die sie oft besucht, in einem Tal in den Bergen, weit ab vom urbanen Leben, weit ab von den Annehmlichkeiten eines Lebens in materieller Sorglosigkeit. Ihr Vater führt den kleinen Hof, ihre Mutter versinkt immer wieder in Phasen tiefster Schwermut und irgendwann muss sogar die Grossmutter für ihre letzten Monate in die ungeheizte Kammer neben der Stube genommen werden. In Lisas Familie wird mehr geschwiegen als gesprochen. Fragen finden keine Antwort, weder beim wortkargen, distanzierten Vater, noch bei der so oft in sich versunkenen Mutter, die in einem abgedunkelten Zimmer manchmal tagelang in Ruhe gelassen werden muss.

„Was ist anstrengender, die Wahrheit wissen oder die Wahrheit vergessen?“

Nicht einmal der Fernseher, der in die Stube getragen wird, kann die Stille im Haus vertreiben. Eine Stille, die die Furcht, die Erklärungsnot der beiden Kinder nur noch verstärkt. Lisas einziger Lichtblick ist die Dorfschule, die Lehrerin, ihre freundliche Art und die Bücherkiste, die mit dem gelben Postauto ins Dorf, in die Schule, ins Klassenzimmer gebracht wird. Eine Kiste voller Bücher, die sich die Schulkinder ausleihen, die sie mit auf die langen Schulwege nach Hause nehmen dürfen, Lisa in ein Haus in dem das Ticken der Stubenuhr zum Dröhnen werden kann, in ein Haus, in dem es keine Bücher gibt, nur Geschichten, die wie düstere Ahnungen im dunklen Holz des Hauses eingeschlossen sind. In Büchern öffnet sich Lisa die Welt. Dort werden all die Geschichten erzählt, nach denen sie dürstet, die ihr höchstens der Grossvater erzählt, bei dem es aber immer nur das eine Thema gibt; die Jagd.

„Warum tönt leise manchmal so laut?“

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese, 2022, 96 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-65-9

Zu Weihnachten bekommt Lisa Schokolade, von einer Tante wieder zwei Silberlöffel und von den Eltern eine kleine Schmuckschatulle mit schwarzem Stoff ausgekleidet. Eine leeres Schächtelchen, das Lisa mit Fragen füllt, die sie auf kleine Zettel schreibt und mit dem kleinen Schlüssel, den sie um den Hals trägt, wegschliesst. Nach dem gleichen Weihnachtsfest, auf der Suche nach einer Vase für einen verfrühten Krokus findet Lisa die Weihnachtsplätzchendose, die ihre Mutter nicht mehr finden konnte, die sie versteckte, damit man sie vor dem Fest nicht finden würde. Hinter der Dose im Schrank mit dem Festtagsgeschirr war noch eine Dose. Eine Dose mit einer rosa Schleife, eine Dose mit Briefen, weggesperrten Briefen. Briefe an ihre Grossmutter, Briefe ihrer Grosstante, Briefe über ein früh gestorbenes Kind, einem Kind, das den gleichen Namen wie Lisa trug, einem Kind, das in keiner Geschichte in der Familie vorkommt, schon gar nicht in den Geschichten ihrer Grosseltern.

„Was das Schwierige ist, muss man nicht auch noch wissen.“

Lisa traut sich nicht. Und wenn sie Fragen so stellt, die sich ganz nahe an dieses früh gestorbene Mädchen annähern, beisst sie auf Stein. Der einzige, der wirklich mit Lisa spricht, ist ihr kleiner Bruder. Aber ausgerechnet ihm muss sie Antworten und Geschichten liefern, Erklärungen für all die Schatten, die das Licht wirft. Antworten auf ihre Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, findet sie keine. Der einzige Weg, das Tor zur grossen Welt aufzustossen, bleibt die Hoffnung, Antworten und Geschichten in Büchern zu finden.

„Schongebiet“ ist der Raum zwischen all den unbeantworteten Fragen, den Geheimnissen, dem Leben, das durch das Dunkel tappt. Edith Gartmanns Debüt ist von durchdringender Poesie. Was sie an Bildern evoziert, beeindruckt sehr und hat so gar nichts Unausgegorenes, das einem bei der Lektüre den Genuss trübt. „Schongebiet“ ist geradlinig erzählte, feinsinnige Prosa, die sich nicht am Effekt orientiert, die einem mit fast kindlicher Unvoreingenommenheit mitnimmt in eine Welt, die man als Erwachsener vergessen hat, die die Schriftstellerin Edith Gartmann mit Bildern noch immer mit sich trägt. Ich bin der Autorin unsäglich dankbar für dieses Buch!

Interview

Aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, ist heikel. Es gibt immer wieder AutorInnen, denen das nicht glaubhaft gelingt, ein Umstand, der einem Buch schnell den Glanz rauben kann. Dir gelingt das sehr gut. Nicht zuletzt deshalb, weil Lisa, das Mädchen in einer Welt lebt, die in ein grosses Schweigen eingehüllt ist. Sie stellt die Frage an sich selbst. Wie gelang es dir, jene unsichtbare Grenze nie zu überschreiten, die das Erzählen schnell unglaubhaft macht?
Frühere Fassungen des Textes standen in einer starken Aussenperspektive mit einer auktorialen Erzählerin. Es war dann gerade das Wagnis Ich-Perspektive, das mir half, Aufgesetztes und Unglaubwürdiges wie Belehrung oder Deutung auszumerzen. Wir nehmen jetzt sozusagen aus erstem Mund an Lisas Innenleben teil. Da dieses Innenleben, wie Du es auch erwähnst, zu einem grossen Teil innen bleibt, konnte ich es beim Schreiben besser schützen vor sprachlichen Anpassungen, vor Konvention oder Kitsch.
Ich denke, auch das Alter von Lisa spielt eine Rolle. Oft empfinden Kinder in diesem Alter das Wegbrechen «der magischen Jahre“ als Verlust, sie fühlen sich heimatlos, manche denken, sie seien bestimmt nicht das leibliche Kind dieser Familie. Lisa befindet sich in dieser Phase ihrer Entwicklung, in der sie einerseits noch stark eingebunden, anderseits aber aus der Ur-Kindheit heraus gefallen ist. Sie schaut bereits mit einem Aussenblick auf ihre Familie und kann nur noch in den Spielen mit ihrem kleinen Bruder zurück in die Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Vor diesem Hintergrund bekam ich Raum, auch Widersprüchliches in Lisas Innenwelt glaubhaft zu machen.

Hier die Familie ohne Erklärungen, ohne das Erzählen, wo sich die beiden Kinder selbst die Geschichten erfinden müssen, um das Schweigen auszufüllen. Dort diese Kiste in der Schule, die Lehrerin, der geheimnisvolle Nachbar mit seinem Ferienhaus voller Bücher oder der auf handliche Grösse zugerissene Klozettel aus einer Illustrierten mit einem Foto eines Bücherregals und der noch lesbaren Beschriftung „iftsbibliothek St. Gallen“. Lesen ist viel mehr als eine Kulturtechnik. Bücher sind viel mehr als Unterhaltungsfutter. Wer deinen Roman liest, wird mit Leidenschaft bestätigt. Aber was mit all jenen, die die Geheimnisse der Literatur nicht einmal erahnen?
Verloren für immer…nein, die Literatur ist ja nicht das einzige Tor zu Begeisterung, Identifikation, Gänsehaut, Überlebenswille, Teilnahme, Rausch. Da sind noch die andern Künste, vielleicht auch die Natur oder die Religion. Entscheidend ist, glaube ich, die Sehnsucht. Dann findet sich eines der Tore. Dass offenbar ein immer grösserer Teil unserer Gesellschaft dieses Sehnen und Suchen nicht mehr kennt, oder jedenfalls irgendwie an den Oberflächen haften bleibt, stimmt mich mit Blick auf die Zukunft schon pessimistisch.

Lisa lebt in einem beklemmenden Klima. Ein schweigsamer Vater, der allem aus dem Weg geht. Eine schwermütige Mutter. Auch die Grosseltern können die Tür nicht aufstossen, schon gar nicht der Fernseher. Lisa hat Kraft. Sie überlebt das Schweigen, baut sich ihr eigenes, kleines Glück. Glaubst Du noch immer an die Macht der Literatur?
Zumindest setze ich auf die Kraft des Schöpferischen. Aus dieser Kraft speist sich die Kunst, aber auch das kindliche Spiel, in beiden geht es, meine ich, stark um Hingabe und Freiheit. 
Das Beklemmende und Verlorene spielt sich in Lisas Familie vor allem auf der Beziehungsebene ab. Abgesehen davon sehe ich in ihrem Umfeld aber auch Stärken: das Leben mit den Jahreszeiten, die Rituale, selbst die begrenzte Welt im engen Tal können ihr Halt geben. Vielleicht tragen Spracharmut auf der einen und Naturreichtum auf der andern Seite dazu bei, dass Lisa die Macht der Literatur sucht und findet. 

Ein Bergroman, aber die Berge sind nicht aus Fels. Kein Heimatroman, ohne ein Fitzelchen verklärte Romantik, ein Stück Geschichte eines Mädchens, dem genau jene Heimat fehlt. Und doch sind deine Bilder archetypisch, erzeugen in mir Sepiafarben, als wäre die Geschichte aus tiefster Vergangenheit, als hätte die Gegenwart, die Moderne jenes Tal in den Bergen vergessen. Dein Roman umschifft mit grosser Virtuosität Klischees, Verklärung und Effekte. Entstand das intuitiv oder gab es bewusst Grenzen, die Du beim Schreiben nicht überschreiten wolltest.
«…die Berge nicht aus Fels», welch schönes Bild. 
Wie darauf antworten? Vielleicht so: Als Bergkind befrage ich meine persönliche Beziehung zur Bergwelt seit ich erwachsen bin. Ich kenne mich also zwischen Bergen, bei denen ich auf Granit beisse und Bergen, die ich zu Tobleroneschokolade mache (und allen Stufen dazwischen) ziemlich gut aus. Demnach leiteten mich bei diesem Bergroman wohl beide, Intuition und Bewusstheit.

Lisa stellt Fragen an die Welt. Fragen, die ihr niemand beantwortet. Sie sucht nach Antworten, die ihr verschlossen bleiben. All die Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, würden jede für sich Diskussionen füllen. Ist Dein Schreiben eine Form des „Nach-Antworten-Suchens“?
Ich glaube nicht, jedenfalls interessiert mich das Suchen nach Fragen mehr als das Suchen nach Antworten, gerade auch im Alltag.
Ich bewundere Freunde, Politikerinnen, Pädagogen oder Künstlerinnen, die zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage stellen. Eine solche Frage wirkt inspirierend und rollt den Teppich aus für die nächsten Schritte. Oft sind wir aber so lösungsorientiert unterwegs, dass wir das Fragen überspringen und gleich zur Antwort übergehen wollen.
Mein Schreiben erlebe ich eher als Befragung und nicht als Beantwortung. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn sich dabei für mich Teilantworten ergeben; besonders in der Befragung der Sprache selbst freue ich mich über jedes bisschen Antwort.

Edith Gartmann, geboren 1967, wuchs im Safiental, Graubünden, auf. Ausbildung am Kindergarten-Seminar Chur, anschliessend Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und England. Sie besuchte die neueKUNSTschule Basel mit Schwerpunkt Malerei und absolvierte den Literaturlehrgang der SAL Zürich. Edith Gartmann lebt in Basel.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt

Wie weit hat sich der Mensch von seiner Welt entfremdet? Ist das, was wir Leben nennen, das, was der Bestimmung jener entspricht, die immer mehr das Gefühl haben, es sei Kampf und Abmühen gegen Einsamkeit und dem Gefühl des Verlassenseins? Britta Boerdner fühlt dem „modernen“ Menschen auf den Zahn, schreibt sich in Sphären, die weh tun.

Elena ist umgezogen. Aber sie ist mehr aus ihrem alten Leben ausgezogen, als in einem neuen Zuhause angekommen. Sie ahnt, dass sich die neue Ordnung in ihrem Leben nur dann einrichten lässt, wenn sie sich dem stellt, was sich in Mehrfachschlingen in den vergangenen Monaten um sie festzurrte. Elena ist aus dem alten Leben geflohen, einem Leben, das ihr lange Zeit alles bedeutete, dass sie auszufüllen schien, über das sie sich definierte, das sich ganz selbstverständlich vor ihr auszubreiten schien.

Aber sie musste die Reissleine ziehen, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Es war der Zwang in den freien Fall, ein Schritt ohne Alternative, hinaus aus der Sicherheit, bei der sie sich an ihre Kompetenz, ihre Position, ihren Erfolg zu halten wusste.

«Es gibt keine Ziele, die zu erreichen sind, damit die Beziehung funktioniert – weil wir keine Beziehung haben. Wir können uns frei fühlen.»

Elena arbeitete in einer mittelgrossen IT-Firma in einer Kaderposition, einer Branche, die sich permanenten Umwälzungen ausgesetzt weiss, was sich auch in einer permanenten Anspannung in der Firma ablesen lässt. Für ein besonders heikles Geschäft stellt man ihr einen Consulant, einen Berater zur Seite, den sie sich selbst aus einem Meer von Bewerbern aussuchen kann. Einen um einige Jahre jüngeren Mann, mit dem sie sich aber auf viel mehr einlässt, als das, was beruflich im Büro oder auch einmal in einem Lokal stattfindet. Man trifft sich nach der Arbeit im Hotel, in scheinbar sicherer Distanz zur Welt, die die beiden erkennen könnte. Er ist sportlich, dynamisch, kommt zur Sache, schenkt ihr das, was sie glauben lässt, es gehöre dazu, mache ein Teil des Lebens aus, das ihr zusteht. Er ist verheiratet.

«Manchmal frage ich mich, ob ich mir die Liebe überhaupt noch zutraue.»

Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 256 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-627-00299-2

Damals glaubte Elena, ihrer selbst entsprechend eingerichtet zu haben. Eine Wohnung in einem schmucken Stadthaus, eine Arbeit, eine Stelle mit Perspektive und entsprechender finanzieller Sicherheit. Elena glaubte an dieses Leben, auch wenn sie in stillen Momenten spürte, wie filigran, wie zerbrechlich das Gefüge zu werden drohte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich immer mehr in ihrer Einsamkeit verlor, weil etwas in ihr ahnte, dass das nicht alles sein konnte.

Bis zu jenen Tagen im November, als man sie zu ihrem Chef rief und sich mit einem Mal abzeichnete, dass nichts so bleiben würde, wie sie es sich eingerichtet hatte. Elena wird aus ihrem Leben hinauskatapultiert, rettet sich in ein neues Leben, einen anderen Stadtteil, weit weg von der alten Kulisse, in eine Neubauwohnung, ein Leben, von dem sie hofft, sie würde die Kontrolle zurückgewinnen.

«Manchmal denke ich, wir wollen nichts von der Traurigkeit wissen, die in uns allen steckt.»

„Es geht um eine Frau“ ist die Geschichte der Einsamkeit. Die Geschichte einer Entfremdung. Die Geschichte einer Gesellschaft, die sich an einer künstlichen Welt orientiert, einer Welt, die mit einem Mal abreissen, wegkippen kann. Elena ist die erfolgreiche, dynamische, permanent aktive Frau, die mit einem Mal feststellen muss, dass nichts von dem bleibt, was ihr einstiges Leben ausmachte. Es leben zwar 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Aber nie in der Geschichte der Menschheit zuvor muss „Einsamkeit“ zu einem eigentlichen Krankheitsbild der Gesellschaft erklärt werden. Britta Boerdner schreibt ganz nah an eine Existenz heran, die sich verliert, die zusehen muss, wie man ihr den Boden unter den Füssen wegreisst, wie das Leben sie hinabkippt. Elena fehlt all das, was ihr helfen würde, eine Krise durchzustehen. In ihrem Leben war nie Zeit und Raum für Beziehungen, Freundschaften, ein Zuhause, Bindung.

„Es geht um eine Frau“ ist eine fein gestrickte Gesellschaftsanalyse. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, der mich zur Selbstanalyse zwingt. Ja, es geht um eine Frau. Aber es geht um uns, um mich!

Interview

Ja, tatsächlich „Es geht um eine Frau“. Aber es geht um uns alle, die wir nicht merken, wie sehr wir in einem Hamsterrad rennen, wie sehr wir gefangen sind, wie weit weg wir vom Leben entfernt sind, wie sehr wir uns mit Schein begnügen. Hofft man beim Schreiben eines Romans auf „Bewusstseinserweiterung“, sei es bei sich selbst oder bei jenen, die das Buch lesen?
Natürlich mache ich mir beim Schreiben Gedanken darüber, wie dieses oder jenes aufgefasst werden könnte. Aber ich gehe dabei nicht programmatisch vor im Sinn von Effekt, von Aha-Erlebnissen, die ich bei den Leser*innen hervorrufen will. Wenn der Stoff berührt und zu einer gedanklichen Auseinandersetzung führt oder zu einem emotionalen Erkennen – dann ist das natürlich perfekt, das wünscht sich wahrscheinlich jede Autorin, jeder Autor. Dann stößt der Text auf Resonanzräume oder er öffnet sie. Vielleicht könnte man das auch ganz klassisch als Leerstellen im besten Iser’schen Sinn bezeichnen: Textsegmente, die aneinanderstossen und von den Leser*innen gefüllt und in Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Wenn man diese Arbeit der Leser*innen Bewusstseinserweiterung nennen mag, bin ich dabei, und diese Räume zu schaffen ist auch Teil meiner Arbeit. Allerdings ist dabei nicht meine Absicht, zu lehren oder zu belehren.
Andererseits ist es so, dass ich vieles noch nicht weiss, wenn ich mit dem Schreiben beginne. Natürlich weiss ich, was mein Thema ist. Aber ich stosse erst nach und nach dazu vor, alles zu erfassen. Dabei fügen sich Dinge zueinander oder ergänzen einander, von deren Verbindung ich zuvor noch nichts wusste. Daher lege ich auch keinen Plot fest, an dem ich mich ausrichte, denn das würde mir etliche Entwicklungen nehmen, ich müsste ihn zu oft umschreiben. Generell ist es so, dass sich manche Passagen wie von selbst schreiben, ich weiss dann, das stimmt so, das ist gut, da braucht es kaum noch Änderungen. In diesen Zuständen – die bei mir leider meist nicht sehr lange dauern – ist das Bewusstsein tatsächlich auf eine Weise erweitert. Ich würde es auch als Bewusstseinsverschiebung bezeichnen: Ich habe dann eine absolute Gewissheit darüber, dass es stimmig ist, was ich gerade schreibe, aber ich bin mir während des Schreibens meiner selbst nicht bewusst. Ich bin nur noch Werkzeug, Hebel, ausführende Kraft. Das alles geschieht sehr schnell und muss ausgenutzt werden, solange es geht. Ein wirklich bemerkenswerter Zustand, auf den ich natürlich immer hoffe. Manche nennen es Flow, ich benutze diesen Ausdruck aber nicht gerne. Für mich klingt das oft so, als müsse man sich nur hinsetzen und dann passiert es irgendwie und alles Weitere ist ein Kinderspiel. Das ist nicht so. Eine unablässige Beschäftigung mit dem Personal und dem, was passieren könnte, ist die Voraussetzung dafür. Einerseits Kontrolle also, Anstauen, andererseits dann völliges Loslassen. Erst dann kann etwas fliessen.

© Britta Boerdner

Ihr Roman ist ein Buch über die Einsamkeit. Elena hat sich verloren. Mag sein, dass zwischendurch etwas Einsicht aufblitzt. Abe vor einer wirklichen Richtungsänderung scheint sie sich zu fürchten, denn ein „Neubeginn“ setzt Einsicht nicht unbedingt voraus. Oder täusche ich mich?
Nein, keine Täuschung, das stimmt schon so. Elena vermeidet. Sie ist getrieben von dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen und es dadurch auflösen zu können. Den Schock, in dem sie sich durch das vorangegangene verheerende Geschehen befand, hat sie durch eine beinahe obsessive Suche nach einer neuen Wohnung verdrängt. Auch das Sentenzenhafte, mit dem sie ihre frühere Arbeitswelt und ihre Haltung darin reflektiert, ist reine Kopfsache, es führt nicht zu einer inneren Erkenntnis. Sie befindet sich in einem Schwebezustand, in einer Unsicherheit, die sie durch Alkohol und Beschäftigung zu übergehen versucht. Sie fotografiert, sie schaut Filme und Serien. Das ist ihr als Gegenpol zum früheren Leistungsprinzip genug Neubeginn. Man könnte auch sagen, es geht ihr noch nicht schlecht genug für eine wirkliche Richtungsänderung. Sie könnte sich ja auch professionelle Hilfe suchen. Da sie aber gewohnt ist, sich permanent zu übergehen und damit zumindest beruflich erfolgreich war, kommt sie nicht auf diese Idee. Ihre Furcht vor der Konfrontation ist die Furcht vor Kontrollverlust.
Die Idee zu „Es geht um eine Frau“ kam mir, als ich zum ersten Mal durch das Europaviertel gestreift bin, ein grossteils sehr luxuriöses neues Quartier in Frankfurt am Main, der Stadt, in der ich lebe. In seiner blendend weissen Symmetrie und Sterilität, mit seinen unbelebten Strassen strahlt es eine unglaubliche Leere aus. Mit dieser Leere und diesem Blendwerk wollte ich etwas machen. Ich habe mich gefragt, wie jemand gestimmt sein könnte, der dort hinzieht. Und ich wusste, es müsste jemand sein, der ebenfalls leer ist, bezugs- und beziehungslos. Das Innen sollte also wie das Aussen sein. Ja, es ist ein Buch über die Einsamkeit, aber auch ein Buch über die Frage der Verantwortung für das eigene Leben und das Leben anderer.

Da ist die Welt, die Blase, in der sich ihre Firma bewegt. Eine Welt ausserhalb scheint es nicht zu geben. Sie nimmt zwar die Hitze des Sommers wahr. Aber alles bleibt Kulisse, selbst die Beziehung zu M., die nicht wirklich eine Beziehung ist, mehr ein Instrument zur Befriedigung entsprechender Bedürfnisse. Elena hat sich verloren. Aber eigentlich haben wir uns in einer künstlichen Realität verloren. 

Frankfurter Europaviertel © Britta Boerdner 

Ganz zu Beginn Ihres Romans schreiben sie „Schlafen wollte ich und aufwachen wie neu geboren“. Mit tatsächlicher Auseinandersetzung, mit Konfrontation hat das nichts zu tun. Obwohl das angesichts der tragischen Ereignisse an ihrem Arbeitsplatz mehr als angemessen wäre. Elena flieht. Wie ein Kind, das die Decke übers Gesicht zieht und „Du siehst mich nicht“ ruft. Spiegelt der Roman Pessimismus?
In gewisser Weise ja. Elena flieht auch ganz zum Schluss wieder. Da wechselt sogar der Tonfall, da blitzen in ihren Gedanken banale Ausdrucksweisen auf, Selbstberuhigung durch Lachhaftes und eine stichworthafte Nennung möglicher Reiseziele. Alles zusammen eine Oberflächlichkeit, die fast hysterisch zu nennen ist. Mir schien es einfach nicht richtig und auch zu scheinheilig, ein gutes Ende zu schreiben, eines, das von Innehalten, Selbstwahrnehmung, Mut und einer bewusst daraus entstehenden Veränderung handelt. Hört sich wunderbar an, ein solch möglicher Schluss, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, sich neu zu definieren, wie es in diversen Ratgebern oder Magazinen empfohlen wird. Ändere deinen Style und entdecke dein wahres Ich, Tu endlich das, was du schon immer wolltest, Lerne, Grenzen zu setzen und es wird dir besser gehen und solche Sachen. Vielleicht fügt sich manchmal ein inneres Bild zu einer Erkenntnis, und man denkt, ah, so ist das also mit mir, jetzt verstehe ich. Doch dieses Verstehen muss auch behalten werden und geht doch allzu oft wieder verloren, weil die alten Mechanismen einsetzen. Weil der Alltag alles wieder schluckt, die Anforderungen zu mächtig sind. Tatsächlich etwas Zusammenhängendes von sich zu erfahren ist ein langer Prozess, da ist es mit einem Aha-Moment hie und da nicht getan. Die eigenen Anfälligkeiten, Verführbarkeiten und Schwächen zu erkennen ist schmerzhaft. Nicht jede*r lässt das zu. Und auch, weil jemand, der sich rauszieht und sagt, ich schaff das nicht, ich kann da nicht mehr mitmachen, auch immer noch als Angriff auf die Verhältnisse oder einfach als schwacher Mensch gesehen wird.

Ich hatte im Oktober eine Lesung im Goethe-Institut in Rom, dabei entspann sich ein lebhaftes Gespräch auf meine Frage hin, ob Burnout und Depression in Italien ein gesellschaftliches Thema ist. Die Antwort war ein klares Nein. Burnout sei zwar im Zusammenhang mit Covid im Bereich der Pflegekräfte auch in den Medien diskutiert worden, aber im allgemeineren und auch im privaten Bereich sei es kein Thema. Auf meine weitere Frage, ob man darüber einfach nicht spräche oder ob es wirklich nicht vorkomme, waren die Antworten so schwammig, dass ich mir kein klares Bild davon machen konnte. Ich liess es mal dahingestellt.

Ihr Roman liest sich auch als Kritik an einer Leistungsgesellschaft, die kaum mehr Energie und Freiräume zulässt, um sein Leben für einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ist Schreiben eine Art der Entschleunigung?
Ja und nein. Schreiben zwingt mich einerseits dazu, genau hinzuschauen und gleichzeitig den Dingen ihre Eigenzeit und Entwicklung zuzugestehen. Wenn ich schreibe, beschäftige ich mich unablässig mit dem Stoff, dann laufe ich durch die Stadt oder suche mir etwas, das Impulse setzt, Besuche von Ausstellungen etwa oder Musik und Filme. Meistens kann ich durch diese Anregungen einen Bezug zu meinem Thema herstellen, dann blitzt in den besten Momenten etwas auf, woran ich vorher noch nicht dachte. Das ist tatsächlich eine Art Entschleunigung durch eine andere Art der Wahrnehmung, die in einem eng getakteten Alltag nicht möglich ist. Durch das Schreiben gebe ich die normale Gangart auf und bin doch gleichzeitig viel enger mit meiner Umgebung verknüpft. Nichts mehr mit Entschleunigung zu tun hat allerdings das Editieren. Das ist das „andererseits», die beinharte Arbeit, die viel Kraft kostet, und zwar ganz zeitgebunden.

Britta Boerdner, geboren in Fulda, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und Historische Ethnologie. Ihr Debütroman «Was verborgen bleibt» erschien 2012 bei der FVA. Für «Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam» (FVA 2017) erhielt sie das Inselschreiber-Stipendium der Sylt Foundation und das Stipendium des Hessischen Literaturrates in der Emilia Romagna. Britta Boerdner lebt in Frankfurt am Main.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © To Kuehne

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag

Franco Supinos Eltern kamen einst aus dem Umland von Neapel nach Solothurn. Franco Supino ist nicht nur als Schriftsteller ein neugierig Suchender. Ein Suchender nach dem Warum. Sein aktueller Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherchereise in ein Land, mit dem er viel mehr als seine Sprache teilt.

Mafiafilme wie „Der Pate“, „Once opon a time in America“ oder „Goodfellas“, die etwas von der italienischen Ehrengemeinschaft, die sich ausserhalb jedes Rechtssystems nicht nur in Italien und in den Bronx etablierte, brannten sich in ein kollektives Bewusstsein. Die Camorra ist eine kriminelle Organisation mit Jahrhunderte langer Tradition. Und wenn es eine Stadt gibt, die sich untrennbar mit der Geschichte dieser Mafiafamilie verbunden hat, dann ist es Neapel. Jenes Leben jenseits des Rechtsstaates übt eine Faszination aus, die sich diametral unterscheidet von einer gutbürgerlichen „Spiesserexistenz“ (Auch der Schreibende zählt sich zu den Spiessern!) in der Schweiz.

Und seit man mit Buch und Film zu „Meine geniale Freundin“ gar den Duft dieser Stadt in der Nase zu finden glaubt, trägt auch Neapel selbst eine Aura in sich, die auch mich, der ich noch gar nie in dieser Stadt war, fasziniert. Ausgerechnet eine Stadt, die nicht weit von einem immer noch in der Tiefe aktiven Vulkan pulsiert, eigentlich auf einem Pulverfass, von dem die Wissenschaft schon lange warnt, er könne jederzeit zur Hölle werden.

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag, 2022, 256 Seiten, CHF 33.00, ISBN: 978-3-85869-958-9

Aber vielleicht ist die Realität dieser Stadt die perfekte Metapher: Eine Stadt, die sich nicht um ein Morgen kümmert.
Franco Supinos Familie stammt aus Neapel. Seine Eltern kamen von dort in die Schweiz, und wären, wenn ein schweres Erdbeben im November 1980 nicht alle Rückreisepläne vernichtet hätte, damals wahrscheinlich ins Umland Neapels zurückgekehrt. Franco Supino, damals mitten in der Schulzeit, wohl immer wieder in den Ferien in der Stadt seiner Eltern, wehrte sich gegen die Pläne seiner Eltern. Aber das Beben in Irpinia, nicht weit von Neapel, vernichtete nicht nur das Haus seiner Eltern, sondern eine mögliche Familienexistenz dort. Franco Supino blieb in Solothurn, genauso wie in seinem Schreiben über die Existenzen aller, deren Herz an zwei Orte gebunden ist.

Bis in die Gegenwart gibt es für Franco Supino viele Gründe für einen Besuch in Neapel. Und wie immer bei solchen Besuchen schnappt Franco Supino Bilder und Geschichten von Menschen auf, die sich mit seinem eigenem Leben verschlingen. So wie das Leben von Nì, einem afrikanisch-stämmigen Mann, der während ein paar Jahre eine Rolle in der neapolitanischen Camorra spielte, um dann irgendwann scheinbar unauffindbar von der Bildfläche zu verschwinden. Magisch von dieser Person fasziniert, beginnt sich Franco Supino immer tiefer in die Geschichte um diesen Mann, um die Geschichte der Camorra in diesen Jahren zu interessieren. Eine Geschichte, die auch zu seiner hätte werden können, weil es in dieser Stadt kein Leben ganz ohne die Camorra gibt.

Was wäre wenn? Eine Frage, die dickflüssiger Stoff für Literatur ist. Eine Frage, die sich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen. Was wäre geworden, wenn Franco Supino damals nach Neapel zurückgekehrt wäre? Franco Supino lässt sich in eine Recherche fallen, die sich aus meiner Sicht ganz nahe an die Selbstaufgabe begibt. Jene Faszination, die die Was-wäre-wenn-Frage sich mit den Leben der Familie Esposito, einer jener Dynastien, die während einiger Jahrzehnte die Spielregeln in Neapel bestimmte, vermischt. Franco Supino besucht immer wieder seinen Schneider, jene Sorte Handwerker, die auszusterben drohen. Aber auch diese Besuche scheinen Metapher zu sein, denn Franco Supino probiert Kleider, einen Anzug, schaut sich an in einem Spiegel.

Damals, als die Rückreise nach Süditalien drohte, begann der junge Supino in seiner Verzweiflung gar zu beten. Und die Erde bebte 90 Sekunden lang. Lange genug, um einem Leben eine ungeliebte Wendung zu verunmöglichen. Ein Gebet, das den Autor bis in die Gegenwart begleitet.

Franco Supino macht viele Türen auf, nimmt mich mit auf eine Reise in eine Welt, die sich komplett von der meinigen unterscheidet, eine Reise in das 20. Jahrhundert eines Landes, das eigentlich unser Nachbarland ist, sich aber in vielem wie Leben auf einem anderen Stern anfühlt. Ein Leben, das seine Fäden aber längst bis in die Schweizer Provinz gesponnen hat. Franco Supino hält sich eng an Tatsachen. Sein Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherche, die spannend und mit grosser Empathie geschrieben ist. Unbedingt lesenswert!

© Franco Supino

Interview

Ein Grundmotto vieler Romane ist das „Was wäre wenn“. Was wäre passiert, wenn damals jenes Beben nicht passiert wäre, wenn du mit deinen Eltern zurück in ihre Heimat gezogen wärst, wenn du nicht viel später immer wieder an den Ort deiner Herkunft zurückgekehrt wärst.  Dieses „Was wäre wenn“ wird umso gewichtiger, je mehr man sich mit seiner Herkunft beschäftigt. Sind SchriftstellerInnen mit einem besonderen Gen ausgerüstet, das sie dauernd mit diesem „Was wäre wenn“ beschäftigen lässt?
Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen ein solches Gedankenspiel gar nicht zulässt. Autor:innen schreiben Geschichten, sie leben in Geschichten. Auch viele lesende Menschen tun das. Das ‘Was-wäre-wenn Gen’ stammt aus diesem Leben in Geschichten und hat wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden wären. Mein Gedankenspiel: was wäre aus mir geworden, wenn wir tatsächlich nach Neapel zurückgekehrt und das Erdbeben nicht gewesen wäre, ist der Motor für meine Geschichte, der Erzählanlass – das siehst du ganz richtig. Der Erzähler fühlt sich ja für das Erdbeben sogar verantwortlich!
Lesen ist immer ein «Was wäre wenn», respektive die Aufforderung, ein anderer Mensch zu werden. Eine Aufforderung, die wir während der Lektüre gerne annehmen – und dann kehren wir in unseren Alltag zurück. Weil wir gerne lesen, lieben wir dieses Was- wäre-wenn-Gen – nicht weil wir unglücklich sind und am Leben leiden. Weil das Leben nun mal ist, wie es ist, lesen wir. Das Leben kann man nicht immer verändern, aber wir können lesen. Lesen ist die beste Art, unser Leben zu ändern. Wenigstens eine Zeitlang. Das glaube ich. Das gleiche gilt für mich als Schreibender: Ich will eine gute Geschichte schreiben, ich schreibe nicht, weil ich leide – zum Beispiel an einer ‘gespaltenen’ Identität. Dass Schreiben und Geschichten Erzählen nebenher auch ein Nachdenken auslösen, ist das Geschenk, das gute Literatur mit sich bringt.

Am Begriff „Secondo“ lastet etwas. Ein Klotz, ein Hemmnis. Oder scheint das nur so? Kann „Secondo“ zu einem Geschenk, zu einem Schatz, einer Quelle werden? 
Secondo ist die Möglichkeit, auch Primo zu sein. Ich kann sehr gut den Italiener spielen, wie auch den Schweizer, und sehr gut alles dazwischen. All die Secondos, also all die Menschen, die von der Generation der Eltern eine andere Kultur mitbekommen als die, die ihre Umgebungswelt, in der sie aufwachsen, bereitstellt, sind eine der wichtigsten Bindemittel der Schweiz; ein Bindemittel zwischen Gemeinschaft der hier Lebenden (ob  zu ‘Ur’-Einwohner oder zu anderen Migrant:innen) wie auch zur Gemeinschaft des Herkunftslandes der Familie.  Mushinga Kambundji fühlt sich ebenso als Schweizerin wie Granit Xhaka oder Murat Yakin. Und untereinander sehen sie sich auch als Schweizer:innen, tragen dazu bei, ein gut funktionierendes Land weiter gedeihen zu lassen. Umgekehrt, in den Ursprungsländern, siehe unten, ist es schwierig, ein System Schweiz aufzubauen.

© Franco Supino

Dein Roman, deine Reisen, deine Recherchen, dein Forschen, dein Suchen – alles scheint ein Versuch des Verstehens zu sein. Warum gedeihen seit Jahrhunderten mafiöse Strukturen, nicht nur in Italien, die sich ausserhalb aller gutbürgerlicher Vorstellungen und Gesetzmässigkeiten organisieren? Haben sich Fragen geklärt oder bloss weitere Türen aufgemacht?
Das für mich Unglaublichste ist der Unterschied zwischen der Schweiz und Italien. Es sind Nachbarländer, aber die Lebensumstände sind diametral. Hier in der Schweiz haben alle mehr oder weniger Sicherheit: in Bezug auf Lohn, Arbeit, Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Schule, Staat (im Sinne, dass der ÖV funktioniert, Müllabfuhr, es keine Korruption gibt, o.ä.) – das alles gibt es in Italien nicht oder viel weniger. Es gibt keine Garantie Napoli, dass der Müll abgeholt wird oder die U-Bahn fährt, dass man einen guten Arzt findet, wenn man ihn nicht privat bezahlt – und schon gar nicht als junger Mensch beispielsweise eine Arbeit. Und deshalb fragen sich die Leute: wozu zahle ich eigentlich Steuern?
Die Armut, die Not der Menschen einerseits, die Unfähigkeit des Staates und der absolute Mangel an Vertrauen in den Staat andererseits sind der Nährboden für das organisierte Verbrechen.
Oder, anderes Beispiel: Italien hat jetzt eine Regierung mit einer postfaschistischen Ministerpräsidentin – genau vor 100 Jahren kam Mussolini mit dem Marsch auf Rom an die Macht. Eine wirkliche, durchgehende und durchdringende Distanzierung vom Faschismus gibt es in Italien im Gegensatz zu Deutschland und dem Nationalsozialismus nicht. Viele Italiener:innen denken: Mussolini war nicht so schlimm wie Hitler – er hat vieles auch gut gemacht. In Neapel hat die Mehrheit übrigens für die ‹5 Stelle› gestimmt und nicht etwas rechts – weil sie auf den reddito minimo – das bedingungslose Grundeinkommen – hoffen. Man hat keine Hoffnung mehr in die Politik, hofft auf Gnadengeld, das von irgendwoher kommt.

Sind wir Gefangene unserer Rollen? Was passiert, wenn sich Menschen von ihren angestammten Rollen entfernen oder gar emanzipieren, bekommen wir immer wieder demonstriert. Nicht zuletzt im Literaturbetrieb, wenn ein Buchpreisträger wegen Glitzer und Lippenstift Todesdrohungen erhält. Ist „Spurlos in Neapel“ auch ein Versuch, sich von einer fixen Rolle zu emanzipieren?
Wir sind, was die Umgebung in uns sieht, aus uns macht. Meine Protagonisten, ob der Erzähler oder der Nirone, sie wollen sich in ihrer jeweiligen Umgebung bewähren, beides sind Migranten und werden ein Produkt der Umstände. Einer ein Autor, der andere ein Mafioso. Der Versuch sich davon zu emanzipieren, wenn man mal etwas ‘geworden’ ist,  fällt schwer. Wir können noch so viel tun, was objektiv beweist, zu was wir fähig werden, das wir anders sind und auch etwas anderes könnten, aber die Einschätzung unserer Umwelt grenzen uns ein. Du, Gallus, bist ja ein gutes Beispiel, wie du auch im Literaturbetrieb eine fixe Rolle zugewiesen bekommen hast, die zu verlassen fast nicht möglich ist. Hättest du vor 30 Jahren irgendeinen akademischen Titel erworben, würdest du heute der führende Literaturkritiker des Landes sein und hättest irgendeinen Posten an einer Hochschule oder sonst einer Institution wie Pro Helvetia, BAK, etc.

© Franco Supino

Du bist in der Schweiz aufgewachsen, bewegst dich aber immer wieder zwischen zwei Kulturen. In diesem Hinundher stellt sich die Frage nach Heimat und Zuhause ganz anders, als bei Menschen, bei denen Herkunft und Gegenwart fast deckungsgleich sind. Was macht die Auseinandersetzung mit der „Heimatfrage“ mit dem Schriftsteller und Privatmann Franco Supino?
Entscheidend ist für mich die Sprache, sind die Sprachen: ich bin ein Deutschschweizer, für mich ist die Mundart als mündliche Sprache und das Deutsche als Schriftsprache meine Existenz. Gleichzeitig bin ich einer aus der Umgebung Neapels, rede mit meiner Mutter neapolitanischen Dialekt und lese italienische Bücher, das ist auch meine Heimat. Ich bin gerne beides zu 100%. Als Autor macht diese Auseinandersetzung, dass ich zum Beispiel die Stadt Neapel anders beschreiben und erzählen kann als irgendjemand anders: Als Schweizer und Italiener, als Solothurner und Neapolitaner – und das spürt man hoffentlich im Text. Deshalb habe ich mich auch getraut, dieses Buch zu schreiben.

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman «Musica Leggera» erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Nina Dick

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis

Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.

Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.

Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.

„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5012-0

Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.

Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.

„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte. 

Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.

Interview

Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?

Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“ 

Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.

Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?

Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten. 

Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig. 

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?

32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker

Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder. 

Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.

So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?

Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück. 

Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal… 

In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?

6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker

Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte.
Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.

So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.

Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?

Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder. 

Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden. 

Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. 

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.

«Gesund genug» im Literarischen Quartett

Rezension von «Lügen von gestern und heute» auf literaturblatt.ch

Illustration © leafrei.com

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession

Kann man sich einer Schuld entledigen? Gibt es Busse? Wie schafft es der Mensch, all die Schrecken menschlichen Tuns hinter Fassaden so gut inszeniert zu verbergen? Steven Uhlys Roman „Die Summe des Ganzen“ schlägt ein wie Blitz und Donner zugleich. Möge es danach brennen!

Ein schwarzes Buch mit einem schwarzen Schaf auf dem Cover. Auf der Stirn dieses jungen, schwarzen Schafs prangt ein goldenes Kreuz. Das junge Schaf ist gezeichnet. Das golden schimmernde Kreuz prangt mitten auf der Stirn, unübersehbar, leuchtend in der Schwärze. Das Buch nahm mich schon, bevor ich es zu lesen begann, in seinen Bann. Kaum aus seiner durchsichtigen Hülle gepult, musste ich zu lesen beginnen. Mit Sicherheit, weil es ein Buch von Steven Uhly ist – aber auch weil all meine Assoziationen, die das Buch schon mit seinem Auftritt auslösen, wissen wollten, ob sie im Roman ihre Bestätigung finden.

Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, betreut eine kleine Gemeinde in einem Aussenbezirk Madrids. Noch nicht lange, aber so lange, dass sich seine Tage in immer gleichem Rhythmus abspulen. Dazu gehören die Zeiten im Beichtstuhl der Kirche, stets von 17 bis 18.30 Uhr. Die Menschen, die in dieser Zeit im Dunkel des kleinen Gevierts Erleichterung suchen, ihre grossen und kleinen Sünden offenbaren und auf Erlösung hoffen, sind immer die gleichen. Zum Beispiel José Maía Espín, der seine Frau chronisch betrügt. Oder Señora Barros, die immer und immer wieder über ihren verstorbenen Mann schimpft, ihrem Mann selbst nach seinem Tod immer und immer wieder den Tod wünscht.
Bis jemand Fremder seinen Beichtstuhl betritt, ein junger Mann, der Padre Roque de Guzmán nur zaghaft verrät, welche Sünde, welch finstere Absichten er mit sich herumträgt, weil er den Beichtstuhl meist fluchtartig verlässt, dann wenn „die Summe des Ganzen“ unerträglich wird.

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96639-048-4

Wer katholisch erzogen ist, wird unweigerlich mit jenem eigenartigen dreiteiligen Ding konfrontiert, das an den Seiten einer Kirche hinter Vorhängen und Sichtschutz die Gläubigen einladen soll, Busse zu tun, sich jenen zu öffnen, die als Vertreter Christi ihre Absolution erteilen können, uns weissen uns schwarzen Schafen. Scheinbar kostenlos, nicht wie der Gang zu PsychologInnen. Aber eben doch nicht kostenlos, sowohl die Preisgabe wie das Empfangen, denn was sich Padre Roque de Guzmán anhören muss, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Der junge Mann scheint im Begriff zu sein, sich an seinem Nachhilfeschüler zu vergehen. Der junge Mann erzählt, er wäre verheiratet, habe eine kleine Tochter. Aber selbst die Familie, die Liebe und die Sorge um sie, schütze ihn nicht davor, sehenden Auges ins Verderben zu schreiten. Im Beichtstuhl dieser Kirche spiegeln sich Dramen. Jenes des jungen Mannes, der sich in einem fatalen Sog befindet, dessen schwarzes Loch in seinem Bauch alles schluckt. Aber auch jenes des Beichtvaters. Zum einen weil er weder bei dem jungen Mann noch bei ihm selbst verhindern kann, was als Katastrophe unaufhaltsam rollt, zum andern weil es aufreisst, was sich in die Tiefen des Verdrängens geschoben hat.

Steven Uhlys Roman ist viel mehr als ein Buch über die Abgründe der Pädophilie, auch nicht die Bestätigung dessen, was uns Medien gerne mit Wonne auftischen, wenn sich Kirchenmänner wieder und wieder, selbst nach medial inszenierten Entschuldigungen, die Besserung und Aufklärung versprechen, an Kindern vergehen. Letztlich sind es die Schicksale jener, die in diesem Buch im Hintergrund bleiben, auch wenn Steven Uhly in seinen Schilderungen Schmerzgrenzen berührt. Es gibt Wunden, die sich nie schliessen. Auch dann nicht, wenn man für sie büsst, auch dann nicht, wenn über sie gesprochen wird, auch dann nicht, wenn man sich dafür rächt.

„Die Summe des Ganzen“ ist ein Kammerspiel zweier Männer im Dunkel eines Beichtstuhls. Und ein Lehrstück für mich selbst, denn Steven Uhly straft mich während der Lektüre für mein voreiliges Urteil, zeigt mir, wie sehr ich mich verleiten lasse. «Die Summe des Ganzen“ geht unsäglich tief, zeigt, wie sehr sich der Mensch durch seine egomanischen Triebe offenen Auges in den Abgrund schickt.
Mag sein, dass Steven Uhly Klischees bedient. Aber die katholische Kirche bestätigt fleissig jedes Klischee, immer und immer wieder.

Interview

Sie wohnen in München. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Kleriker an den Abgründen der Pädophilie vorbeigekommen, ganz und gar nicht. Und trotzdem siedeln sie das Geschehen in der spanischen Hauptstadt an mit zwei Protagonisten, die südamerikanischer Herkunft sind, zwei Verlorene. Warum in spanischem Kleid?

Es gibt nur einen Südamerikaner, Lucas Hernández. Der Padre stammt aus der Gegend von Sevilla, ist also Spanier, und Akachukwu ist Nigerianer. Die Konstellation hat verschiedene Gründe. Erstens stammt ein Freund von mir aus jenem Viertel in Madrid. Er wurde als Kind von einem Padre belästigt. Zweitens aber fand die größte und gewalttätigste christliche Missionierung eben dort, in Südamerika, statt. Ihre Opfer sind zahllos. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch über Bartolomé de las Casas schreiben, der das bereits damals erkannte und schier daran verzweifelte – für mich eine der Lichtgestalten der Menschheit. Mein Buch ist insofern eine versteckte Metapher dessen, was Europa in seinen Kolonien tat – erinnern Sie sich daran, dass Akachukwu mehrmals die Engländer erwähnt, die sein Volk zu Christen gemacht hätten. Ich habe diese Metapher nicht weiter ausgearbeitet, weil ich wegen der Stringenz des Handlungsverlaufs Prioritäten setzen musste. Aber wer aufmerksam liest, der findet es.

Abgründe tragen wir alle mit uns herum. Niemand ist vor ihnen geschützt. Warum gelingt es Menschen nicht, rechtzeitig das Ruder herumzureissen? Warum verletzen wir andere im Wissen darum, dass unser Tun unentschuldbar ist? Und warum ausgerechnet jene, die uns den Weg zum Frieden weisen wollen, Kinder? Warum die Kirche, die die sich die Nächstenliebe übergross auf ihr Banner geschrieben hat?

Das sind sehr tiefgründige Fragen, ich werde versuchen, sie im Rahmen meiner eher bescheidenen Fähigkeiten zu beantworten: Ich glaube an das Gute im Menschen, doch ich glaube auch, dass uns das nichts bringt, wenn wir es nicht in uns selbst entdecken. Erinnern Sie sich an den schmutzigen Teller, den der Padre erwähnt? Ich glaube der Teller ist wie das Gute im Menschen: Er verliert seine glatte saubere Oberfläche nie, doch wenn sie vom Schmutz unserer schlechten Gewohnheiten, unserer Ängste und Wünsche, unseres Zorns oder Grolls, unserer Gier und unserer fehlenden Disziplin überdeckt wird, verschwindet sie, sprich: sind wir uns ihrer nicht bewusst. Und je länger wir unseren schlechten Gewohnheiten nachgeben, desto stärker werden sie, wie Essensreste, die zu lange auf dem Teller getrocknet sind, und desto schwerer wird es, ihn zu spülen.

Was die Kirche betrifft, so glaube ich, dass sie einem Missverständnis aufsitzt: Gott ist ein geistiges Wesen, sein Reich ist das spirituelle Universum des Menschen. Die Kirche hat daraus jedoch ein materielles Reich gemacht mit Besitztümern, Begehrlichkeiten und der Notwendigkeit, ihre Pfründe zu verteidigen. Eine solche Konstellation zieht immer auch Machtmenschen und Heuchler an, wie überall sonst auch. Und der Zölibat fügt dem einen weiteren Aspekt hinzu: materielle, sprich: körperliche Macht, erotische Macht. Es gibt meines Wissens keine wirkliche Prüfung jener Menschen, die den Zölibat akzeptieren. Warum will jemand auf seine Geschlechtlichkeit verzichten? Sex ist meiner Erfahrung nach die intimste Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, vielleicht sogar die Essenz der Kommunikation überhaupt. Beim Sex wird man immer mit der Wahrheit konfrontiert – der eigenen und der des anderen. Warum will jemand freiwillig darauf verzichten? Aus Angst? Warum kann jemand Liebe nur im Rahmen eines Machtgefälles empfinden? Vielleicht weil er eine traumatische Ohnmachtserfahrung gemacht hat, die er zu verdrängen versucht?

Bestimmt gibt es Menschen, die jenseits des Geschlechtlichen sind, es wirklich nicht mehr brauchen, doch viele werden es nicht sein. Die Kirche aber will im Prinzip endlos wachsen – darin unterscheidet sie sich weder von Imperien noch von multinationalen Unternehmen. Sie braucht also sehr viele Priester, und vielleicht liegt da ein ganz einfacher Konflikt zwischen den Statuten und dem Wachstumspotenzial vor: So viele zölibatäre Priester kann es gar nicht geben. Und die übrigen?

Priester betreiben Seelsorge, sie sollten, wie Therapeuten auch, zunächst einmal sich selbst therapieren lassen, und zwar durch weltliche Therapeuten. Erinnern Sie sich an die Stelle, an der der Padre dem Sünder empfiehlt, eine Therapie zu machen? Wenn Sie bedenken, dass das Buch wie ein Spiegelkabinett angelegt ist – der Sünder spiegelt die Gedanken- und Gefühlswelt des Priesters -, dann sagt er das eigentlich zu sich selbst.

Die Kirche hat aufgrund ihres Missverständnisses ein fast schon dogmatisches Problem mit der Psychotherapie, denn auch die Psychotherapie verspricht Befreiung vom Leid, allerdings ohne Gott. Doch die Psychotherapie ist weltlich, sie steht gar nicht in Konkurrenz zu Gott, weil Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kirche nicht längst eine Therapie für alle angehenden Priester verpflichtend gemacht hat.

Verletzungen gibt es. Sie vernarben. Manche vergisst man. Und manche eitern ein Leben lang. Pädophilie provoziert selbst als Thema enorme Aggressionen. Kein Verbrechen entblösst so sehr die menschliche Fratze, sei es bei Tätern oder bei AnklägerInnen. Schon klar, wenn man ins Gesicht eines Kindes schaut und sich dessen Verletzbarkeit bewusst wird. Sie stechen mit Ihrem Roman mitten ins Herz, gleich vielfach. Da hätte doch einiges schiefgehen können!

Ich glaube wie gesagt nicht an die menschliche Fratze. Ich glaube, das Böse entsteht immer dort, wo wir uns selbst nicht erkennen. Ignoranz ist meiner Meinung nach die wahre Wurzel des Bösen: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Vielleicht ist es deshalb nicht schiefgegangen. Der Padre hat letztlich keine Ahnung, was er wirklich braucht. Er hat sich dem Glauben verschrieben, aber vielleicht war das die falsche Entscheidung, zumindest zu dem Zeitpunkt, als er sie traf. Das Problem, was er seitdem hat, besteht darin, dass er keine Handhabe für sein Begehren entwickelt. Solche unnatürlichen Neigungen verdecken meiner Meinung nach stets das eigentliche Problem, das oftmals ganz anders geartet ist. Ich denke, der Padre hat nicht erkannt, dass Lieben wichtiger ist, als geliebt zu werden. Um das zu erkennen, muss man als Kind geliebt worden sein. Und es gibt so viele Menschen, die ohne diese Gewissheit aufwachsen. Der Glaube allein kann ihnen nicht helfen, weil sie stets Gefahr laufen, auch ihn zu benutzen, um ihr eigentliches Problem zu kompensieren. Erinnern Sie sich daran, dass er immer wieder versucht, Selbstlosigkeit zu üben. Aber wenn das Selbst nicht gesund ist, muss man sich zuerst darum kümmern, es zu heilen, bevor man sich selbst zugunsten anderer vergessen kann. Dem Padre ist all dies nicht bewusst, und die Bibel liefert auch keine Methode, denn sie richtet sich an Menschen, die schon so weit sind, dass sie das Wort Gottes ungefiltert in sich aufnehmen können.

Was Lucas betrifft: Seine Gefühlswelt ist mir im Laufe einer fast dreißigjährigen intensiven  Freundschaft mit einem Opfer und seinen Angehörigen immer näher gekommen. Ich wusste also, wovon ich sprach.

Nicht die Rache bringt Erlösung, nicht die Entlarvung, nicht die Überführung. Etwas von dieser Erlösung bringt ein Mann mit dem Namen Akachukwu. Wie kam es zu diesem Namen?

Akachukwus Charakter ist einem nigerianischen Freund nachempfunden. Sein Name ist das Ergebnis einer Recherche. Ich wollte, dass er bedeutsam wäre, vor allem für Lucas.

Es geht in Ihrem Roman um weit mehr als Pädophilie. Das eigentliche Thema ist „Schuld“. Ein Thema, ein Wort, mit dem die Kirche während Jahrhunderten Angst und Schrecken verbreitete, womit man Menschen zu Schafen werden lassen konnte, weil niemand jenes schwarze Schaf sein wollte, auf das der Zorn Gottes und seiner Kirche mit Sicherheit zielen würde. Ist die Emanzipation aus den Krallen der ewigen Schuldzuweisungen vergeblich?

José Saramago schrieb in seinem Meisterwerk „Das Evangelium nach Jesus Christus“, die Schuld sei wie ein Wolf, der sich durch die Generationen frisst. Ich glaube, Schuld ist ein universales Phänomen, eine Funktion oder ein Reflex unseres Gewissens, unseres Wissens um die Wahrheit über das Richtige und das Falsche, Gut und Böse, Mitgefühl und Egoismus. Wir Menschen werden immer in Furcht davor leben, uns schuldig zu machen, wir werden immer darum kämpfen, unschuldig zu sein, ob mit Kirche oder ohne. Und gleichzeitig werden wir doch immer wieder Schuld auf uns laden, weil wir Menschen sind. Die Beichte ist eigentlich etwas sehr Sinnvolles. Wenn die Kirchenoberhäupter nur nicht aus der Genesis die Erbsünde gebastelt hätten. Ich glaube, die Kinder sind der Beweis dafür, dass wir nicht sündig zur Welt kommen. Und das wiederum ist der Beweis dafür, dass die Sexualität nichts Sündiges ist. Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt zwar unweigerlich ein Bewusstsein von Schuld und Unschuld mit sich. Doch ich glaube nicht, dass es jemals einen paradiesischen Zustand gegeben hat, der frei davon war. Ich glaube nicht an den Sündenfall, er ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, dass der alttestamentarische Gott in seiner Essenz anders ist als der christliche Gott. Dies und seine Eifersucht, seine Rachsucht. Ich glaube, der christliche Glaube sollte ausschließlich auf dem Neuen Testament basieren. Das wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube sich weiter entwickeln kann.

Die katholische Kirche befindet sich hier natürlich in einem Dilemma: Sie kann nicht auf das Alte Testament verzichten, und deshalb kann sie die Beichte nicht zu einer echten Reinigung von aller Schuld entwickeln. Das wäre aber etwas sehr Gutes. Ich glaube, die Aufgabe des Priesters besteht nicht darin, die Sünden seiner Schutzbefohlenen zu kennen, sondern ihnen ein Ritual zu geben, mit dessen Hilfe sie sich von ihren Schuldgefühlen befreien können – mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Therapeut ohne Ausbildung und ohne Handhabe, was sie bis heute leider geblieben sind.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman »Mein Leben in Aspik« ist 2010 und »Adams Fuge«, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 bei uns erschienen. »Glückskind« (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt.

Beitragsbild © Matthias Bothor

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese #SchweizerBuchpreis 22/3

Ein alter Mann, eine Kaninchenpistole, ein Polizist und doch kein Krimi. Thomas Röthlisberger beweist, dass man mit sämtlichen Ingredienzen eines Krimis nicht unweigerlich einen solchen daraus entstehen lassen muss. „Steine zählen“ ist ein Roman über das Erstarren in Sackgassen.

Matti wohnt in einer in Schräglage geratenen Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees im Süden Finnlands, weit ab vom Schuss. Ausser einem Hund gibt es keine Tiere mehr auf dem Hof. Die letzten waren ein paar Hühner, die der Fuchs holte. Der Maschendrahtzaun ist niedergerissen und rostig. Matti sitzt in der Küche mit seinem besten Freund, dem Alkohol und zerdrückt die toten Fliegen auf seinem zugestellten Küchentisch. Irgendwie ist auch er eine der Fliegen, die das Leben zerquetschte. Von seiner Kraft ist nichts geblieben. Und seit seine Frau Märta den Hof verliess, ihn selbst hatte sie schon lange verlassen, sind nicht nur die Flaschen auf dem Küchentisch stehen geblieben. Und weil er, der kaum mehr etwas ohne seine Brille sieht, das Gewehr in die Hand nahm, als sich Märta davonmachte, das Gewehr, das eigentlich bloss auf den Fuchs wartete, der sich auch ohne Hühner noch immer auf dem Gelände herumtrieb, und sich ein Schuss löste, von dem Märta nicht wissen konnte, wie nah die Kugel an ihr vorbeisauste, taucht auch noch die Polizei auf. Henrik, der lokale Polizeibeamte.

Von Matti Nieminen ist nicht viel geblieben. Ein verkorktes Leben, ein Körper, der zu nichts mehr taugt, eine Frau, die ihn verliess, ein Sohn, der nur auftaucht, wenn er Geld braucht und die Gewissheit, dem verkrusteten Panzer nie mehr entfliehen zu können. Selbst der Hund zieht vor ihm den Schwanz ein.

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese, 2022, 176 Seiten, CHR 30.90, ISBN 978-3-906907-55-0

Aber auch für Märta, die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite aushielt, ist die Flucht vom Hof keine Befreiung. Die hätte Jahrzehnte früher stattfinden sollen, wahrscheinlich schon vor der überstürzten Heirat mit Matti, der ihr Jahre nachgestiegen war, den sie nicht wollte, dann aber haben musste, weil in ihr etwas wuchs, das nicht sein durfte. Sie ist im Gästezimmer ihrer Schwester gestrandet, die ihr die Katastrophe schon immer prophezeite und nie an die Redlichkeit jenes Mannes glaubte, der schon damals dem Alkohol näher stand als den Menschen. Eigentlich hätte es Pekka sein sollen, damals. Aber Martas Eltern, ihr Vater polterten unmissverständlich. Und als sich Pekka mit dem ganzen Dorf anlegte und mit Protz und Pomp im Dorf auftauchte, als man ihn in seiner Bank unlauterer Geschäfte überführte, war die Sache gelaufen, aller Versprechen zum Trotz.

Und da ist noch Olli, Märtas Sohn, das Kind, mit dem sie schon bei der Trauung mit Matti schwanger war, von dem niemand wissen durfte, nur der Arzt, der ihr eine „Frühgeburt“ diagnostizierte. Auch Olli schaffte es nicht. Vierzig und im Elend, manchmal bekifft, machmal nur betrunken, ohne Arbeit, von seiner Freundin sitzen gelassen. Matti wusste immer, dass Olli nicht das Resultat seiner Manneskraft war. Olli lebt von der Sozialhilfe und wenn das Geld zu gar nichts mehr reicht, macht er sich zum Hof in der Nähe des Vehkajärvi-Sees auf, in der Hoffnung, dass ihm seine Mutter etwas zusteckt. Von Matti gibt es nichts, schon gar kein Geld.

Am Schluss des Romans liegt Matti in einer Blutlache vor seinem Haus im Dreck. Er lebt noch. Und Hendrik, der Polizist, muss herausfinden, ob es wirklich ein Suizidversuch war.

Thomas Röthlisbergers Roman „Steine zählen“ ist hartes Brot. Wer wie Matti alt ist und ahnt, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, resümiert. Aber in Mattis Leben gibt es bloss Steine. Die auf dem Hof kickt er weg, wenn er nicht mit dem Stock nicht hängen bleibt. Aber eigentlich bleibt jeder Stein. Steine in der Erinnerung, Steine im Herzen, Steine im Bauch. Als ob nie mehr richtig Licht in das Leben jenes Mannes dringen würde. Ein finnischer Winter. Irgendwann bleiben die Chancen aus, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Irgendwann hat die Ödnis einem im Würgegriff.
Thomas Röthlisberger schreibt sich in ein Setting hinein, dass sich wie eine Seelen-Dystopie liest. Und Thomas Röthlisberger kann es!!!

Interview

Hätte Ihr Roman nicht auch im Toggenburg oder im Kandertal spielen können? Warum der finnische Süden? Was verbindet Sie mit Finnland?
Eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme (Schliesslich habe ich bisher bereits vier Romane geschrieben, die «dort oben» spielen, der letzte liegt über 15 Jahre zurück). Aber die Frage ist sicher berechtigt – ich habe gerade bei «Steine zählen» nach der ersten Niederschrift versucht, die Geschichte aus dem Norden herauszulösen. Naheliegend wäre für mich aus familiärer Hinsicht das Emmental gewesen. Ich machte mir eine Liste mit den Namen der finnischen Protagonisten und der Örtlichkeiten und gab ihnen hiesige Namen. Aber die Landschaft funktionierte als Hintergrund und Kulisse nicht, und die Menschen, die plötzlich wie bei Gotthelf hiessen und sich durch eine enge Voralpenlandschaft bewegten, erinnerten mich an eine Art Heimatliteratur, mit der ich mich nie wirklich anfreunden konnte. Die Charaktere, die ich in den (engen) Weiten Finnlands angetroffen hatte, liessen sich weder mit ihrem Naturell, noch mit der Landschaft hierher verpflanzen. Die Liste, die ich angefertigt hatte, öffnete mir die Augen und räumte radikal mit den eigenen Zweifeln auf (ich vernichtete die Liste deshalb sehr rasch wieder).
Schon nach dem ersten Aufenthalt in Finnland wusste ich, dass da noch mehrere folgen würden. Was mich mit Finnland verbindet? Sibelius, Alvar Aalto, Kaurismäki, die Leningrad Cowboys und Nightwish. Aber ganz abgesehen davon reicht ein Blick auf den Buchumschlag an, diese einmalige Stimmung an den Sommerabenden, das reicht, um eine seltsame, melancholische Sehnsucht auszulösen. Aber dann gibt es auf der anderen Seite des Sees das dunkle Ufer, den Wald, der das Licht verschluckt und wo, wie man ahnt, Menschen wohnen, die nicht nur wegen diesem Sonnenuntergang hier leben. Trotzdem figuriert Finnland an der Spitze, wenn es darum geht, welche Staatsbürger im eigenen Land am glücklichsten sind …

Matti ist ein Gespenst seiner selbst geworden. Einsam, eingeschlossen, ausgeschlossen. Wenn er über den Platz vor seinem Haus schlurft, kickt er Steine weg, Steine, die aber irgendwie immer wieder da sind. Die Steine in seinem Leben sind zu unverrückbaren Felsbrocken geworden. Ist Schreiben nicht auch eine Form von Steine zählen?
Literatur ist häufig Arbeit im Steinbruch, ein Suchen nach dem optimalen Stein, ein Darstellen und Verschieben von eigenen und fremden Steinen und Klötzen. Verbunden mit Frust nach längerer Schinderei, aber auch mit Freude über den unerwarteten Fund eines Edelsteins.

Ihr Roman spielt im ungleichseitigen Viereck Matti-Märta-Olli-Henrik. Eine Familie, die nie wirklich eine Familie ist, toxisch – und ein Polizist, der nichts lieber als zu seiner Familie möchte, der genau weiss, wie zerbrechlich Familienglück sein kann. „Steine zählen“ ist ein Familienroman, eine Geschichte darüber wie sehr Konventionen, Traditionen und Ängste das Leben bedrängen, einen Menschen in unumkehrbar Enge treiben können. Kratzen Sie mit Strategie am „Idyll Familie“?
Beim Schreiben zeichnet man ja häufig gewisse Vorfälle und Charaktere überspitzt. Und man benötigt üblicherweise auch eine grössere Anzahl selber gelebter Jahre, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Aber Strategie? Eher nein. Oder unbewusst. Einflüsse aus der eigenen Familie, Aufgeschnapptes aus der Umgebung – es muss sehr vieles zusammenkommen, bis das Rezept stimmt. Und ja: Wer vom Leben erzählt, kann nicht nur Gutes berichten.

Bei einem Krimi wären das Verbrechen und die Motive, das Rätsel um die Ermittlung im Zentrum. In „Steine zählen“ sind es Innenwelten, die menschlichen Abgründe, die Unumkehrbarkeit der Zeit. Matti erscheint böse, Olli unrettbar und Märta verbrüht. Wann wird Verwundung unheilbar?
Eine schwierige und individuell sehr unterschiedlich zu beantwortende Frage: Wahrscheinlich wenn der Urheber der Verwundung selber infolge Verwundung agiert, wenn Grenzen überschritten werden und Verzeihung keine Option ist.

Es gibt das Leben in den Köpfen und Herzen. Und es gibt das „richtige Leben“, wie Märta es bezeichnet, jenes, das sich einem entgegenstellt, das Pläne zunichte macht. Warum ist Märta 40 Jahre lang geblieben? Ist das die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Oder passiert das auch heute noch?
Konventionen als Ursache waren über Jahrhunderte hinweg Hemmnisse. Dass man wider Willen ein vorgeschriebenes Leben akzeptieren muss, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne wirkliche Zukunft, ist nach wie vor aktuell. Und ich nehme da unser eigenes Land nicht aus … Da kann der Rückzug in ein inneres (Kopf- und/oder Herz-) Leben Ausweg oder Kraftort sein.

Buchtrailer

Thomas Röthlisberger, ­geboren 1954, lebt in Bern, hat seit 1991 mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind «nur die haut schützt den schläfer» (Gedichte, 2009), «Zuckerglück» (Roman, 2010) und «Die letzten Inseln vor dem Nordpol» (Erzählungen, 2014) und «Das Licht hinter den Bergen» (Roman, 2021). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

Illustrationen © leafrei.com

Felix Kucher «Vegetarianer», Picus

Er war Maler und Messias. Er glaubte an eine bessere Welt, ein Neben- und Miteinander von Mensch und Natur, an die Erneuerung von Gesellschaft und Kultur. Karl Wilhelm Diefenbach, Kulturrebell, Vegetarier und Anhänger der freien Liebe, Sozialreformer und Pazifist – Kohlrabiapostel! „Vegetarianer“ von Felix Kucher ist Zeitgeschichte, damals und jetzt!

Im späten 19. Jahrhundert bis in das nächste Jahrhundert hinein gediehen überall in Europa Zellen, in denen neue Lebens-, Gemeinschafts- und Sozialformen entstanden. Die einen wurden gross, andere blieben klein. So kann man den Kommunismus als Bewegung definieren, die aus feudalen Macht- und Ohnmachtsstrukturen ausbrechen wollte, sich in einer Neuorientierung Befreiung versprach. Aber auch kleine und Kleinstbewegungen blühten für kurze Zeit auf, wie jene auf dem Monte Verità im Süden der Schweiz, wo sich IdealistInnen und Weltverbesserer neu auszuprobieren versuchten als alternative Lebensgemeinschaft. Namen wie Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, D.H. Lawrence, Hugo Ball oder Hans Arp suchten dort ihr Glück.

Von der Geschichte fast vergessen ist der deutsche Maler Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 in der hessischen Stadt Hadamar geboren, zum Maler ausgebildet an die Akademie der bildenden Künste in München. Ein Mann, der schon mit dreissig Jahren nicht nur mit seiner Malerei die Welt auf den Kopf stellen wollte, sondern mit einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft. Er verkündete die Rettung der Menschheit, wenn sie dem Fleischkonsum entsage, keine Tiere mehr sinnlos morde, sooft als möglich „nackig wandle“, sich dem heilenden Sonnenlicht ausliefere und sich fortan den Versprechungen der modernen Medizin, ihren Pillen und Impfungen entgegenstelle und ganz und gar der heilenden Kraft der Natur vertraue. So wie er sich als Maler zu etablieren versuchte, endlich über die braven Auftragsarbeiten eines Portätisten hinauswachsen wollte, so war er ganz und gar von seinem Sendungsbewusstsein überzeugt, der Welt jene Antworten zu geben, die den Wandel zum Guten hervorrufen würden.

Felix Kucher «Vegetarianer», Picus, 2022, 230 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2120-4

Felix Kucher erzählt in seinem Roman „Vegetarianer“ die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mannes. Dabei will Felix Kucher aber nicht einfach nacherzählen, ein Leben aus dem Vergessen zurückholen. Karl Wilhelm Diefenbach starb 1913 vergessen und gescheitert auf der Insel Capri. Diefenbach ist Beispiel dafür, was ungebrochenes Sendungsbewusstsein, egozentrischer Drang aus seiner Existenz Bedeutung zu generieren und nur selten aufblitzenden Empathie bewirken können. Beispiele in der Gegenwart gibt es viele. Was sich in Zeiten der Pandemie und darüber hinaus an Heilbringern und Besserwissern in digitalen Foren tummelte, kann schwindlig machen. Nicht das Felix Kucher die Kritik gegen ungebremsten Fleischkonsum ins Lächerliche ziehen würde, nicht einmal Diefenbachs unbeirrbareren Widerstand gegen die Errungenschaften der modernen Medizin. Kucher geht es um die Person, um diesen einen Mann, der alles und jede(n) zu instrumentalisieren versuchte, der unumstösslich an seine eigene Unfehlbarkeit glaubte und alles Scheitern dem Unbill der Zeit in die Schuhe schob. Diefenbach hatte Kinder mehrerer Frauen, die ihn liebten, hatte Freunde, die für ihn während Jahren durch dick und dünn gingen, Zugewandte, die an ihn glaubten, sowohl als Maler wie als Weltverbesserer. Immer wieder kam er durch den Verkauf seiner Bilder zu Geld, fand Menschen, die ihn finanziell unterstützten. Immer wieder öffneten sich Türen, boten sich Chancen. Aber statt sich mit dem Erreichten anzufreunden, richtete sich der Blick in immer neue Sphären, schienen Grenzen für Karl Wilhelm Diefenbach nicht zu gelten. Schlussendlich starb Diefenbach allein.

Felix Kuchers Roman „Vegetarianer“ ist ein Sittenbild einer Zeit des Aufbruchs. Was im 19. Jahrhundert durch die aufbrechende Industrialisierung und Technisierung Elend und Armut, Entfremdung und Sehnsüchte nach einem Aufbruch verursachte, lässt sich spielend in die Gegenwart transformieren. „Vergetarianer“ ist sorgfältig erzählt, das Abenteuer eines Unbeirrbaren, das Zeugnis eines stillen Scheiterns. Felix Kuchers Roman ist aber keine Künstlerbiographie und will weder Wirken noch Leben Diefenbachs rekapitulieren. Ein Roman ist ein Roman. Und Romane sind stets Fiktion. Selbst dann, wenn sich Autoren an Fakten orientieren.

Karl Wilhelm Diefenbach mit seiner Familie auf seiner Wanderung durch die Alpen (Foto mit freundlicher Genehmigung Deutsches Monte Verità Archiv Freudenstein)

Interview

Neue Gesellschaftsformen suchte man im ausgehenden 19. Jahrhundert an vielen Orten. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Hier die Industrialisierung und Technisierung, dort die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, der Nähe zur Natur. Wie kamen sie zur Figur dieses Weltverbesserers?
In einem Reiseführer zur Insel Capri fand ich schon Ende der 1980er Jahre den Hinweis auf seltsame dunkle und depressive Bilder eines deutschen Malers, die in der Certosa San Giacomo auf Capri hängen. Ich war ein paar Mal auf Capri, aber erst 2017 schaffte ich es in die Certosa und nahm die Bilder in Augenschein. Daraufhin begann ich mich mit der Person Diefenbachs zu beschäftigen und habe dann sehr viel recherchiert.

Es gibt vielerlei Verbindungen, Parallelen zur Gegenwart. Man sieht sie auch heute, die Weltverbesserer, die Besserwisser, die Instrumentalisierer, die Suggestiven. Entspricht das nicht der schlichten Sehnsucht nach dem Messianischen?
Darüber mag ich kein Urteil sprechen. Sicher sind in Zeiten, wo die Technik die menschliche Lebenswelt zu bestimmen droht, die Sehnsüchte nach naturnahen Zuständen grösser und Menschen mit lebensreformerischen Ansätzen, die ein „Zurück zur Natur“ predigen, sind womöglich erfolgreicher.
Parallelen zur Gegenwart gibt es tatsächlich sehr viele. Tatsächlich wurden damals Nahrungsmittel wie Hafermilch, Bircher-Müsli oder Heilmethoden wie Schüssler-Salze erfunden und beworben. 

Hinter Karl Wilhelm Diefenbach zieht sich eine Spur mit Verwerfungen. Seien sie personell oder wirtschaftlich. Was hätte Karl Wilhelm Diefenbach an seinem Sterbebett wohl geflüstert (Ich weiss, die Frage ist rein rhetorisch, denn ausgerechnet er, der sich stets an einer gesunden Ernährung orientierte, starb an einem Darmverschluss!) hätte man ihn gefragt, wie er über sein Leben denke?
Diefenbach war ein Visionär, der durchaus wusste, wie man Dinge effektvoll inszeniert und vermarktet. Finanziell war er bei seinen Unternehmungen nicht immer erfolgreich und auch Frauen hat er eher ausgenutzt. Ich denke, er wäre auch am Sterbebett überzeugt davon gewesen, das Richtige vertreten zu haben, auch wenn er seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügen konnte.

Wir leben wie damals in einer Zeit der Orientierungssuche. Man stellt die Medizin wie damals unter Generalverdacht, wettert gegen Zügellosigkeit und kritisiert zu recht die Folgen eines absolut unkritischen Fleischkonsums. Aber Einsicht und Korrektur kann niemals von aussen erreicht werden, auch wenn uns das Bildungswesen anderes verspricht. Karl Wilhelm Diefenbach agierte absolut patriarchisch und hierarchisch. Warum?
Einerseits liegt es in der Zeit begründet: Es handelt sich bei seinen Kommunen schliesslich nicht um hierarchielose Hippie-Gemeinschaften, sondern eher um eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit einer starken Führerfigur. Lebensreform, Veganismus und Naturheilkunde tragen deutlich religöse Züge, Diefenbach tritt oft wie ein alttestamentlicher Prophet auf. Anders war das in dieser Zeit eben nicht denkbar.
Andererseits funktionieren solche Gemeinschaften wahrscheinlich nicht anti-autoritär, man denke an die Sekten der 60er Jahre wie Mun oder Children of God.

Betrachtet man heute die Bilder des Malers Karl Wilhelm Diefenbach, dann wirken seine Arbeiten verklärt, aufgeladen und entrückt. Etwas, was der Bildenden Kunst heute völlig fremd zu sein scheint. Heute will und muss man provozieren. Ihr Buch hält sich ganz eng an die Geschichte dieses Mannes. Sie haben als Schriftsteller weder verklärt, noch aufgeladen oder entrückt. Was reizt sie an dieser Form des Erzählens?
Ich denke nicht, dass Diefenbach mit seinen symbolistischen Bildern unbedingt provozieren wollte. Ganz sicher wollte er den Betrachter beeindrucken, überwältigen, ja, zu seiner Lehre bekehren. Die Bilder künden nach seiner Meinung von einem neuen Zeitalter, das gerade anbricht.
Betreffend die Form des Erzählens habe ich einerseits eine Kunstsprache verwendet, die bewusst etwas altertümlich klingen soll und dem Ton nachempfunden ist, in dem Diefenbach seine Briefe schrieb. Ob ich neutral erzählt habe, schwer zu sagen. Verklärt habe ich Diefenbach sicher nicht, da er ja auch unangenehme Seiten hat. Versucht habe ich eine leise Ironie, die – so hoffe ich – nie ins Lächerlichmachen abgleitet.

Ist man sich als Autor der zu gewärtigen Reaktionen auf ein Buch bewusst, die ein solcher Roman auslösen kann, wenn die einen Seiten eines Lebens im Licht stehen und andere in den Augen anderer unterbelichtet bleiben?
Es gibt kaum etwas, was einen als Autor noch überraschen kann. Einerseits gibt es immer abweichende Meinungen von Lesern, wenn historische Persönlichkeiten behandelt werden, andererseits gibt es Leser, die sich des Unterschieds zwischen Historie und Fiktion nicht bewusst sind. Das passiert mir bei meinen Romanen immer wieder.

Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. Im Picus Verlag erschienen seine Romane «Malcontenta», «Kamnik» und «Sie haben mich nicht gekriegt».

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Beitragsbild © Paul Feuersänger