Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis

Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.

Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.

Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.

„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5012-0

Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.

Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.

„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte. 

Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.

Interview

Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?

Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“ 

Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.

Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?

Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten. 

Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig. 

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?

32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker

Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder. 

Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.

So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?

Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück. 

Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal… 

In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?

6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker

Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte.
Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.

So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.

Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?

Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder. 

Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden. 

Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. 

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.

«Gesund genug» im Literarischen Quartett

Rezension von «Lügen von gestern und heute» auf literaturblatt.ch

Illustration © leafrei.com

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession

Kann man sich einer Schuld entledigen? Gibt es Busse? Wie schafft es der Mensch, all die Schrecken menschlichen Tuns hinter Fassaden so gut inszeniert zu verbergen? Steven Uhlys Roman „Die Summe des Ganzen“ schlägt ein wie Blitz und Donner zugleich. Möge es danach brennen!

Ein schwarzes Buch mit einem schwarzen Schaf auf dem Cover. Auf der Stirn dieses jungen, schwarzen Schafs prangt ein goldenes Kreuz. Das junge Schaf ist gezeichnet. Das golden schimmernde Kreuz prangt mitten auf der Stirn, unübersehbar, leuchtend in der Schwärze. Das Buch nahm mich schon, bevor ich es zu lesen begann, in seinen Bann. Kaum aus seiner durchsichtigen Hülle gepult, musste ich zu lesen beginnen. Mit Sicherheit, weil es ein Buch von Steven Uhly ist – aber auch weil all meine Assoziationen, die das Buch schon mit seinem Auftritt auslösen, wissen wollten, ob sie im Roman ihre Bestätigung finden.

Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, betreut eine kleine Gemeinde in einem Aussenbezirk Madrids. Noch nicht lange, aber so lange, dass sich seine Tage in immer gleichem Rhythmus abspulen. Dazu gehören die Zeiten im Beichtstuhl der Kirche, stets von 17 bis 18.30 Uhr. Die Menschen, die in dieser Zeit im Dunkel des kleinen Gevierts Erleichterung suchen, ihre grossen und kleinen Sünden offenbaren und auf Erlösung hoffen, sind immer die gleichen. Zum Beispiel José Maía Espín, der seine Frau chronisch betrügt. Oder Señora Barros, die immer und immer wieder über ihren verstorbenen Mann schimpft, ihrem Mann selbst nach seinem Tod immer und immer wieder den Tod wünscht.
Bis jemand Fremder seinen Beichtstuhl betritt, ein junger Mann, der Padre Roque de Guzmán nur zaghaft verrät, welche Sünde, welch finstere Absichten er mit sich herumträgt, weil er den Beichtstuhl meist fluchtartig verlässt, dann wenn „die Summe des Ganzen“ unerträglich wird.

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96639-048-4

Wer katholisch erzogen ist, wird unweigerlich mit jenem eigenartigen dreiteiligen Ding konfrontiert, das an den Seiten einer Kirche hinter Vorhängen und Sichtschutz die Gläubigen einladen soll, Busse zu tun, sich jenen zu öffnen, die als Vertreter Christi ihre Absolution erteilen können, uns weissen uns schwarzen Schafen. Scheinbar kostenlos, nicht wie der Gang zu PsychologInnen. Aber eben doch nicht kostenlos, sowohl die Preisgabe wie das Empfangen, denn was sich Padre Roque de Guzmán anhören muss, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Der junge Mann scheint im Begriff zu sein, sich an seinem Nachhilfeschüler zu vergehen. Der junge Mann erzählt, er wäre verheiratet, habe eine kleine Tochter. Aber selbst die Familie, die Liebe und die Sorge um sie, schütze ihn nicht davor, sehenden Auges ins Verderben zu schreiten. Im Beichtstuhl dieser Kirche spiegeln sich Dramen. Jenes des jungen Mannes, der sich in einem fatalen Sog befindet, dessen schwarzes Loch in seinem Bauch alles schluckt. Aber auch jenes des Beichtvaters. Zum einen weil er weder bei dem jungen Mann noch bei ihm selbst verhindern kann, was als Katastrophe unaufhaltsam rollt, zum andern weil es aufreisst, was sich in die Tiefen des Verdrängens geschoben hat.

Steven Uhlys Roman ist viel mehr als ein Buch über die Abgründe der Pädophilie, auch nicht die Bestätigung dessen, was uns Medien gerne mit Wonne auftischen, wenn sich Kirchenmänner wieder und wieder, selbst nach medial inszenierten Entschuldigungen, die Besserung und Aufklärung versprechen, an Kindern vergehen. Letztlich sind es die Schicksale jener, die in diesem Buch im Hintergrund bleiben, auch wenn Steven Uhly in seinen Schilderungen Schmerzgrenzen berührt. Es gibt Wunden, die sich nie schliessen. Auch dann nicht, wenn man für sie büsst, auch dann nicht, wenn über sie gesprochen wird, auch dann nicht, wenn man sich dafür rächt.

„Die Summe des Ganzen“ ist ein Kammerspiel zweier Männer im Dunkel eines Beichtstuhls. Und ein Lehrstück für mich selbst, denn Steven Uhly straft mich während der Lektüre für mein voreiliges Urteil, zeigt mir, wie sehr ich mich verleiten lasse. «Die Summe des Ganzen“ geht unsäglich tief, zeigt, wie sehr sich der Mensch durch seine egomanischen Triebe offenen Auges in den Abgrund schickt.
Mag sein, dass Steven Uhly Klischees bedient. Aber die katholische Kirche bestätigt fleissig jedes Klischee, immer und immer wieder.

Interview

Sie wohnen in München. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Kleriker an den Abgründen der Pädophilie vorbeigekommen, ganz und gar nicht. Und trotzdem siedeln sie das Geschehen in der spanischen Hauptstadt an mit zwei Protagonisten, die südamerikanischer Herkunft sind, zwei Verlorene. Warum in spanischem Kleid?

Es gibt nur einen Südamerikaner, Lucas Hernández. Der Padre stammt aus der Gegend von Sevilla, ist also Spanier, und Akachukwu ist Nigerianer. Die Konstellation hat verschiedene Gründe. Erstens stammt ein Freund von mir aus jenem Viertel in Madrid. Er wurde als Kind von einem Padre belästigt. Zweitens aber fand die größte und gewalttätigste christliche Missionierung eben dort, in Südamerika, statt. Ihre Opfer sind zahllos. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch über Bartolomé de las Casas schreiben, der das bereits damals erkannte und schier daran verzweifelte – für mich eine der Lichtgestalten der Menschheit. Mein Buch ist insofern eine versteckte Metapher dessen, was Europa in seinen Kolonien tat – erinnern Sie sich daran, dass Akachukwu mehrmals die Engländer erwähnt, die sein Volk zu Christen gemacht hätten. Ich habe diese Metapher nicht weiter ausgearbeitet, weil ich wegen der Stringenz des Handlungsverlaufs Prioritäten setzen musste. Aber wer aufmerksam liest, der findet es.

Abgründe tragen wir alle mit uns herum. Niemand ist vor ihnen geschützt. Warum gelingt es Menschen nicht, rechtzeitig das Ruder herumzureissen? Warum verletzen wir andere im Wissen darum, dass unser Tun unentschuldbar ist? Und warum ausgerechnet jene, die uns den Weg zum Frieden weisen wollen, Kinder? Warum die Kirche, die die sich die Nächstenliebe übergross auf ihr Banner geschrieben hat?

Das sind sehr tiefgründige Fragen, ich werde versuchen, sie im Rahmen meiner eher bescheidenen Fähigkeiten zu beantworten: Ich glaube an das Gute im Menschen, doch ich glaube auch, dass uns das nichts bringt, wenn wir es nicht in uns selbst entdecken. Erinnern Sie sich an den schmutzigen Teller, den der Padre erwähnt? Ich glaube der Teller ist wie das Gute im Menschen: Er verliert seine glatte saubere Oberfläche nie, doch wenn sie vom Schmutz unserer schlechten Gewohnheiten, unserer Ängste und Wünsche, unseres Zorns oder Grolls, unserer Gier und unserer fehlenden Disziplin überdeckt wird, verschwindet sie, sprich: sind wir uns ihrer nicht bewusst. Und je länger wir unseren schlechten Gewohnheiten nachgeben, desto stärker werden sie, wie Essensreste, die zu lange auf dem Teller getrocknet sind, und desto schwerer wird es, ihn zu spülen.

Was die Kirche betrifft, so glaube ich, dass sie einem Missverständnis aufsitzt: Gott ist ein geistiges Wesen, sein Reich ist das spirituelle Universum des Menschen. Die Kirche hat daraus jedoch ein materielles Reich gemacht mit Besitztümern, Begehrlichkeiten und der Notwendigkeit, ihre Pfründe zu verteidigen. Eine solche Konstellation zieht immer auch Machtmenschen und Heuchler an, wie überall sonst auch. Und der Zölibat fügt dem einen weiteren Aspekt hinzu: materielle, sprich: körperliche Macht, erotische Macht. Es gibt meines Wissens keine wirkliche Prüfung jener Menschen, die den Zölibat akzeptieren. Warum will jemand auf seine Geschlechtlichkeit verzichten? Sex ist meiner Erfahrung nach die intimste Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, vielleicht sogar die Essenz der Kommunikation überhaupt. Beim Sex wird man immer mit der Wahrheit konfrontiert – der eigenen und der des anderen. Warum will jemand freiwillig darauf verzichten? Aus Angst? Warum kann jemand Liebe nur im Rahmen eines Machtgefälles empfinden? Vielleicht weil er eine traumatische Ohnmachtserfahrung gemacht hat, die er zu verdrängen versucht?

Bestimmt gibt es Menschen, die jenseits des Geschlechtlichen sind, es wirklich nicht mehr brauchen, doch viele werden es nicht sein. Die Kirche aber will im Prinzip endlos wachsen – darin unterscheidet sie sich weder von Imperien noch von multinationalen Unternehmen. Sie braucht also sehr viele Priester, und vielleicht liegt da ein ganz einfacher Konflikt zwischen den Statuten und dem Wachstumspotenzial vor: So viele zölibatäre Priester kann es gar nicht geben. Und die übrigen?

Priester betreiben Seelsorge, sie sollten, wie Therapeuten auch, zunächst einmal sich selbst therapieren lassen, und zwar durch weltliche Therapeuten. Erinnern Sie sich an die Stelle, an der der Padre dem Sünder empfiehlt, eine Therapie zu machen? Wenn Sie bedenken, dass das Buch wie ein Spiegelkabinett angelegt ist – der Sünder spiegelt die Gedanken- und Gefühlswelt des Priesters -, dann sagt er das eigentlich zu sich selbst.

Die Kirche hat aufgrund ihres Missverständnisses ein fast schon dogmatisches Problem mit der Psychotherapie, denn auch die Psychotherapie verspricht Befreiung vom Leid, allerdings ohne Gott. Doch die Psychotherapie ist weltlich, sie steht gar nicht in Konkurrenz zu Gott, weil Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kirche nicht längst eine Therapie für alle angehenden Priester verpflichtend gemacht hat.

Verletzungen gibt es. Sie vernarben. Manche vergisst man. Und manche eitern ein Leben lang. Pädophilie provoziert selbst als Thema enorme Aggressionen. Kein Verbrechen entblösst so sehr die menschliche Fratze, sei es bei Tätern oder bei AnklägerInnen. Schon klar, wenn man ins Gesicht eines Kindes schaut und sich dessen Verletzbarkeit bewusst wird. Sie stechen mit Ihrem Roman mitten ins Herz, gleich vielfach. Da hätte doch einiges schiefgehen können!

Ich glaube wie gesagt nicht an die menschliche Fratze. Ich glaube, das Böse entsteht immer dort, wo wir uns selbst nicht erkennen. Ignoranz ist meiner Meinung nach die wahre Wurzel des Bösen: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Vielleicht ist es deshalb nicht schiefgegangen. Der Padre hat letztlich keine Ahnung, was er wirklich braucht. Er hat sich dem Glauben verschrieben, aber vielleicht war das die falsche Entscheidung, zumindest zu dem Zeitpunkt, als er sie traf. Das Problem, was er seitdem hat, besteht darin, dass er keine Handhabe für sein Begehren entwickelt. Solche unnatürlichen Neigungen verdecken meiner Meinung nach stets das eigentliche Problem, das oftmals ganz anders geartet ist. Ich denke, der Padre hat nicht erkannt, dass Lieben wichtiger ist, als geliebt zu werden. Um das zu erkennen, muss man als Kind geliebt worden sein. Und es gibt so viele Menschen, die ohne diese Gewissheit aufwachsen. Der Glaube allein kann ihnen nicht helfen, weil sie stets Gefahr laufen, auch ihn zu benutzen, um ihr eigentliches Problem zu kompensieren. Erinnern Sie sich daran, dass er immer wieder versucht, Selbstlosigkeit zu üben. Aber wenn das Selbst nicht gesund ist, muss man sich zuerst darum kümmern, es zu heilen, bevor man sich selbst zugunsten anderer vergessen kann. Dem Padre ist all dies nicht bewusst, und die Bibel liefert auch keine Methode, denn sie richtet sich an Menschen, die schon so weit sind, dass sie das Wort Gottes ungefiltert in sich aufnehmen können.

Was Lucas betrifft: Seine Gefühlswelt ist mir im Laufe einer fast dreißigjährigen intensiven  Freundschaft mit einem Opfer und seinen Angehörigen immer näher gekommen. Ich wusste also, wovon ich sprach.

Nicht die Rache bringt Erlösung, nicht die Entlarvung, nicht die Überführung. Etwas von dieser Erlösung bringt ein Mann mit dem Namen Akachukwu. Wie kam es zu diesem Namen?

Akachukwus Charakter ist einem nigerianischen Freund nachempfunden. Sein Name ist das Ergebnis einer Recherche. Ich wollte, dass er bedeutsam wäre, vor allem für Lucas.

Es geht in Ihrem Roman um weit mehr als Pädophilie. Das eigentliche Thema ist „Schuld“. Ein Thema, ein Wort, mit dem die Kirche während Jahrhunderten Angst und Schrecken verbreitete, womit man Menschen zu Schafen werden lassen konnte, weil niemand jenes schwarze Schaf sein wollte, auf das der Zorn Gottes und seiner Kirche mit Sicherheit zielen würde. Ist die Emanzipation aus den Krallen der ewigen Schuldzuweisungen vergeblich?

José Saramago schrieb in seinem Meisterwerk „Das Evangelium nach Jesus Christus“, die Schuld sei wie ein Wolf, der sich durch die Generationen frisst. Ich glaube, Schuld ist ein universales Phänomen, eine Funktion oder ein Reflex unseres Gewissens, unseres Wissens um die Wahrheit über das Richtige und das Falsche, Gut und Böse, Mitgefühl und Egoismus. Wir Menschen werden immer in Furcht davor leben, uns schuldig zu machen, wir werden immer darum kämpfen, unschuldig zu sein, ob mit Kirche oder ohne. Und gleichzeitig werden wir doch immer wieder Schuld auf uns laden, weil wir Menschen sind. Die Beichte ist eigentlich etwas sehr Sinnvolles. Wenn die Kirchenoberhäupter nur nicht aus der Genesis die Erbsünde gebastelt hätten. Ich glaube, die Kinder sind der Beweis dafür, dass wir nicht sündig zur Welt kommen. Und das wiederum ist der Beweis dafür, dass die Sexualität nichts Sündiges ist. Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt zwar unweigerlich ein Bewusstsein von Schuld und Unschuld mit sich. Doch ich glaube nicht, dass es jemals einen paradiesischen Zustand gegeben hat, der frei davon war. Ich glaube nicht an den Sündenfall, er ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, dass der alttestamentarische Gott in seiner Essenz anders ist als der christliche Gott. Dies und seine Eifersucht, seine Rachsucht. Ich glaube, der christliche Glaube sollte ausschließlich auf dem Neuen Testament basieren. Das wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube sich weiter entwickeln kann.

Die katholische Kirche befindet sich hier natürlich in einem Dilemma: Sie kann nicht auf das Alte Testament verzichten, und deshalb kann sie die Beichte nicht zu einer echten Reinigung von aller Schuld entwickeln. Das wäre aber etwas sehr Gutes. Ich glaube, die Aufgabe des Priesters besteht nicht darin, die Sünden seiner Schutzbefohlenen zu kennen, sondern ihnen ein Ritual zu geben, mit dessen Hilfe sie sich von ihren Schuldgefühlen befreien können – mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Therapeut ohne Ausbildung und ohne Handhabe, was sie bis heute leider geblieben sind.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman »Mein Leben in Aspik« ist 2010 und »Adams Fuge«, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 bei uns erschienen. »Glückskind« (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt.

Beitragsbild © Matthias Bothor

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese #SchweizerBuchpreis 22/3

Ein alter Mann, eine Kaninchenpistole, ein Polizist und doch kein Krimi. Thomas Röthlisberger beweist, dass man mit sämtlichen Ingredienzen eines Krimis nicht unweigerlich einen solchen daraus entstehen lassen muss. „Steine zählen“ ist ein Roman über das Erstarren in Sackgassen.

Matti wohnt in einer in Schräglage geratenen Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees im Süden Finnlands, weit ab vom Schuss. Ausser einem Hund gibt es keine Tiere mehr auf dem Hof. Die letzten waren ein paar Hühner, die der Fuchs holte. Der Maschendrahtzaun ist niedergerissen und rostig. Matti sitzt in der Küche mit seinem besten Freund, dem Alkohol und zerdrückt die toten Fliegen auf seinem zugestellten Küchentisch. Irgendwie ist auch er eine der Fliegen, die das Leben zerquetschte. Von seiner Kraft ist nichts geblieben. Und seit seine Frau Märta den Hof verliess, ihn selbst hatte sie schon lange verlassen, sind nicht nur die Flaschen auf dem Küchentisch stehen geblieben. Und weil er, der kaum mehr etwas ohne seine Brille sieht, das Gewehr in die Hand nahm, als sich Märta davonmachte, das Gewehr, das eigentlich bloss auf den Fuchs wartete, der sich auch ohne Hühner noch immer auf dem Gelände herumtrieb, und sich ein Schuss löste, von dem Märta nicht wissen konnte, wie nah die Kugel an ihr vorbeisauste, taucht auch noch die Polizei auf. Henrik, der lokale Polizeibeamte.

Von Matti Nieminen ist nicht viel geblieben. Ein verkorktes Leben, ein Körper, der zu nichts mehr taugt, eine Frau, die ihn verliess, ein Sohn, der nur auftaucht, wenn er Geld braucht und die Gewissheit, dem verkrusteten Panzer nie mehr entfliehen zu können. Selbst der Hund zieht vor ihm den Schwanz ein.

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese, 2022, 176 Seiten, CHR 30.90, ISBN 978-3-906907-55-0

Aber auch für Märta, die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite aushielt, ist die Flucht vom Hof keine Befreiung. Die hätte Jahrzehnte früher stattfinden sollen, wahrscheinlich schon vor der überstürzten Heirat mit Matti, der ihr Jahre nachgestiegen war, den sie nicht wollte, dann aber haben musste, weil in ihr etwas wuchs, das nicht sein durfte. Sie ist im Gästezimmer ihrer Schwester gestrandet, die ihr die Katastrophe schon immer prophezeite und nie an die Redlichkeit jenes Mannes glaubte, der schon damals dem Alkohol näher stand als den Menschen. Eigentlich hätte es Pekka sein sollen, damals. Aber Martas Eltern, ihr Vater polterten unmissverständlich. Und als sich Pekka mit dem ganzen Dorf anlegte und mit Protz und Pomp im Dorf auftauchte, als man ihn in seiner Bank unlauterer Geschäfte überführte, war die Sache gelaufen, aller Versprechen zum Trotz.

Und da ist noch Olli, Märtas Sohn, das Kind, mit dem sie schon bei der Trauung mit Matti schwanger war, von dem niemand wissen durfte, nur der Arzt, der ihr eine „Frühgeburt“ diagnostizierte. Auch Olli schaffte es nicht. Vierzig und im Elend, manchmal bekifft, machmal nur betrunken, ohne Arbeit, von seiner Freundin sitzen gelassen. Matti wusste immer, dass Olli nicht das Resultat seiner Manneskraft war. Olli lebt von der Sozialhilfe und wenn das Geld zu gar nichts mehr reicht, macht er sich zum Hof in der Nähe des Vehkajärvi-Sees auf, in der Hoffnung, dass ihm seine Mutter etwas zusteckt. Von Matti gibt es nichts, schon gar kein Geld.

Am Schluss des Romans liegt Matti in einer Blutlache vor seinem Haus im Dreck. Er lebt noch. Und Hendrik, der Polizist, muss herausfinden, ob es wirklich ein Suizidversuch war.

Thomas Röthlisbergers Roman „Steine zählen“ ist hartes Brot. Wer wie Matti alt ist und ahnt, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, resümiert. Aber in Mattis Leben gibt es bloss Steine. Die auf dem Hof kickt er weg, wenn er nicht mit dem Stock nicht hängen bleibt. Aber eigentlich bleibt jeder Stein. Steine in der Erinnerung, Steine im Herzen, Steine im Bauch. Als ob nie mehr richtig Licht in das Leben jenes Mannes dringen würde. Ein finnischer Winter. Irgendwann bleiben die Chancen aus, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Irgendwann hat die Ödnis einem im Würgegriff.
Thomas Röthlisberger schreibt sich in ein Setting hinein, dass sich wie eine Seelen-Dystopie liest. Und Thomas Röthlisberger kann es!!!

Interview

Hätte Ihr Roman nicht auch im Toggenburg oder im Kandertal spielen können? Warum der finnische Süden? Was verbindet Sie mit Finnland?
Eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme (Schliesslich habe ich bisher bereits vier Romane geschrieben, die «dort oben» spielen, der letzte liegt über 15 Jahre zurück). Aber die Frage ist sicher berechtigt – ich habe gerade bei «Steine zählen» nach der ersten Niederschrift versucht, die Geschichte aus dem Norden herauszulösen. Naheliegend wäre für mich aus familiärer Hinsicht das Emmental gewesen. Ich machte mir eine Liste mit den Namen der finnischen Protagonisten und der Örtlichkeiten und gab ihnen hiesige Namen. Aber die Landschaft funktionierte als Hintergrund und Kulisse nicht, und die Menschen, die plötzlich wie bei Gotthelf hiessen und sich durch eine enge Voralpenlandschaft bewegten, erinnerten mich an eine Art Heimatliteratur, mit der ich mich nie wirklich anfreunden konnte. Die Charaktere, die ich in den (engen) Weiten Finnlands angetroffen hatte, liessen sich weder mit ihrem Naturell, noch mit der Landschaft hierher verpflanzen. Die Liste, die ich angefertigt hatte, öffnete mir die Augen und räumte radikal mit den eigenen Zweifeln auf (ich vernichtete die Liste deshalb sehr rasch wieder).
Schon nach dem ersten Aufenthalt in Finnland wusste ich, dass da noch mehrere folgen würden. Was mich mit Finnland verbindet? Sibelius, Alvar Aalto, Kaurismäki, die Leningrad Cowboys und Nightwish. Aber ganz abgesehen davon reicht ein Blick auf den Buchumschlag an, diese einmalige Stimmung an den Sommerabenden, das reicht, um eine seltsame, melancholische Sehnsucht auszulösen. Aber dann gibt es auf der anderen Seite des Sees das dunkle Ufer, den Wald, der das Licht verschluckt und wo, wie man ahnt, Menschen wohnen, die nicht nur wegen diesem Sonnenuntergang hier leben. Trotzdem figuriert Finnland an der Spitze, wenn es darum geht, welche Staatsbürger im eigenen Land am glücklichsten sind …

Matti ist ein Gespenst seiner selbst geworden. Einsam, eingeschlossen, ausgeschlossen. Wenn er über den Platz vor seinem Haus schlurft, kickt er Steine weg, Steine, die aber irgendwie immer wieder da sind. Die Steine in seinem Leben sind zu unverrückbaren Felsbrocken geworden. Ist Schreiben nicht auch eine Form von Steine zählen?
Literatur ist häufig Arbeit im Steinbruch, ein Suchen nach dem optimalen Stein, ein Darstellen und Verschieben von eigenen und fremden Steinen und Klötzen. Verbunden mit Frust nach längerer Schinderei, aber auch mit Freude über den unerwarteten Fund eines Edelsteins.

Ihr Roman spielt im ungleichseitigen Viereck Matti-Märta-Olli-Henrik. Eine Familie, die nie wirklich eine Familie ist, toxisch – und ein Polizist, der nichts lieber als zu seiner Familie möchte, der genau weiss, wie zerbrechlich Familienglück sein kann. „Steine zählen“ ist ein Familienroman, eine Geschichte darüber wie sehr Konventionen, Traditionen und Ängste das Leben bedrängen, einen Menschen in unumkehrbar Enge treiben können. Kratzen Sie mit Strategie am „Idyll Familie“?
Beim Schreiben zeichnet man ja häufig gewisse Vorfälle und Charaktere überspitzt. Und man benötigt üblicherweise auch eine grössere Anzahl selber gelebter Jahre, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Aber Strategie? Eher nein. Oder unbewusst. Einflüsse aus der eigenen Familie, Aufgeschnapptes aus der Umgebung – es muss sehr vieles zusammenkommen, bis das Rezept stimmt. Und ja: Wer vom Leben erzählt, kann nicht nur Gutes berichten.

Bei einem Krimi wären das Verbrechen und die Motive, das Rätsel um die Ermittlung im Zentrum. In „Steine zählen“ sind es Innenwelten, die menschlichen Abgründe, die Unumkehrbarkeit der Zeit. Matti erscheint böse, Olli unrettbar und Märta verbrüht. Wann wird Verwundung unheilbar?
Eine schwierige und individuell sehr unterschiedlich zu beantwortende Frage: Wahrscheinlich wenn der Urheber der Verwundung selber infolge Verwundung agiert, wenn Grenzen überschritten werden und Verzeihung keine Option ist.

Es gibt das Leben in den Köpfen und Herzen. Und es gibt das „richtige Leben“, wie Märta es bezeichnet, jenes, das sich einem entgegenstellt, das Pläne zunichte macht. Warum ist Märta 40 Jahre lang geblieben? Ist das die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Oder passiert das auch heute noch?
Konventionen als Ursache waren über Jahrhunderte hinweg Hemmnisse. Dass man wider Willen ein vorgeschriebenes Leben akzeptieren muss, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne wirkliche Zukunft, ist nach wie vor aktuell. Und ich nehme da unser eigenes Land nicht aus … Da kann der Rückzug in ein inneres (Kopf- und/oder Herz-) Leben Ausweg oder Kraftort sein.

Buchtrailer

Thomas Röthlisberger, ­geboren 1954, lebt in Bern, hat seit 1991 mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind «nur die haut schützt den schläfer» (Gedichte, 2009), «Zuckerglück» (Roman, 2010) und «Die letzten Inseln vor dem Nordpol» (Erzählungen, 2014) und «Das Licht hinter den Bergen» (Roman, 2021). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

Illustrationen © leafrei.com

Felix Kucher «Vegetarianer», Picus

Er war Maler und Messias. Er glaubte an eine bessere Welt, ein Neben- und Miteinander von Mensch und Natur, an die Erneuerung von Gesellschaft und Kultur. Karl Wilhelm Diefenbach, Kulturrebell, Vegetarier und Anhänger der freien Liebe, Sozialreformer und Pazifist – Kohlrabiapostel! „Vegetarianer“ von Felix Kucher ist Zeitgeschichte, damals und jetzt!

Im späten 19. Jahrhundert bis in das nächste Jahrhundert hinein gediehen überall in Europa Zellen, in denen neue Lebens-, Gemeinschafts- und Sozialformen entstanden. Die einen wurden gross, andere blieben klein. So kann man den Kommunismus als Bewegung definieren, die aus feudalen Macht- und Ohnmachtsstrukturen ausbrechen wollte, sich in einer Neuorientierung Befreiung versprach. Aber auch kleine und Kleinstbewegungen blühten für kurze Zeit auf, wie jene auf dem Monte Verità im Süden der Schweiz, wo sich IdealistInnen und Weltverbesserer neu auszuprobieren versuchten als alternative Lebensgemeinschaft. Namen wie Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, D.H. Lawrence, Hugo Ball oder Hans Arp suchten dort ihr Glück.

Von der Geschichte fast vergessen ist der deutsche Maler Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 in der hessischen Stadt Hadamar geboren, zum Maler ausgebildet an die Akademie der bildenden Künste in München. Ein Mann, der schon mit dreissig Jahren nicht nur mit seiner Malerei die Welt auf den Kopf stellen wollte, sondern mit einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft. Er verkündete die Rettung der Menschheit, wenn sie dem Fleischkonsum entsage, keine Tiere mehr sinnlos morde, sooft als möglich „nackig wandle“, sich dem heilenden Sonnenlicht ausliefere und sich fortan den Versprechungen der modernen Medizin, ihren Pillen und Impfungen entgegenstelle und ganz und gar der heilenden Kraft der Natur vertraue. So wie er sich als Maler zu etablieren versuchte, endlich über die braven Auftragsarbeiten eines Portätisten hinauswachsen wollte, so war er ganz und gar von seinem Sendungsbewusstsein überzeugt, der Welt jene Antworten zu geben, die den Wandel zum Guten hervorrufen würden.

Felix Kucher «Vegetarianer», Picus, 2022, 230 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2120-4

Felix Kucher erzählt in seinem Roman „Vegetarianer“ die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mannes. Dabei will Felix Kucher aber nicht einfach nacherzählen, ein Leben aus dem Vergessen zurückholen. Karl Wilhelm Diefenbach starb 1913 vergessen und gescheitert auf der Insel Capri. Diefenbach ist Beispiel dafür, was ungebrochenes Sendungsbewusstsein, egozentrischer Drang aus seiner Existenz Bedeutung zu generieren und nur selten aufblitzenden Empathie bewirken können. Beispiele in der Gegenwart gibt es viele. Was sich in Zeiten der Pandemie und darüber hinaus an Heilbringern und Besserwissern in digitalen Foren tummelte, kann schwindlig machen. Nicht das Felix Kucher die Kritik gegen ungebremsten Fleischkonsum ins Lächerliche ziehen würde, nicht einmal Diefenbachs unbeirrbareren Widerstand gegen die Errungenschaften der modernen Medizin. Kucher geht es um die Person, um diesen einen Mann, der alles und jede(n) zu instrumentalisieren versuchte, der unumstösslich an seine eigene Unfehlbarkeit glaubte und alles Scheitern dem Unbill der Zeit in die Schuhe schob. Diefenbach hatte Kinder mehrerer Frauen, die ihn liebten, hatte Freunde, die für ihn während Jahren durch dick und dünn gingen, Zugewandte, die an ihn glaubten, sowohl als Maler wie als Weltverbesserer. Immer wieder kam er durch den Verkauf seiner Bilder zu Geld, fand Menschen, die ihn finanziell unterstützten. Immer wieder öffneten sich Türen, boten sich Chancen. Aber statt sich mit dem Erreichten anzufreunden, richtete sich der Blick in immer neue Sphären, schienen Grenzen für Karl Wilhelm Diefenbach nicht zu gelten. Schlussendlich starb Diefenbach allein.

Felix Kuchers Roman „Vegetarianer“ ist ein Sittenbild einer Zeit des Aufbruchs. Was im 19. Jahrhundert durch die aufbrechende Industrialisierung und Technisierung Elend und Armut, Entfremdung und Sehnsüchte nach einem Aufbruch verursachte, lässt sich spielend in die Gegenwart transformieren. „Vergetarianer“ ist sorgfältig erzählt, das Abenteuer eines Unbeirrbaren, das Zeugnis eines stillen Scheiterns. Felix Kuchers Roman ist aber keine Künstlerbiographie und will weder Wirken noch Leben Diefenbachs rekapitulieren. Ein Roman ist ein Roman. Und Romane sind stets Fiktion. Selbst dann, wenn sich Autoren an Fakten orientieren.

Karl Wilhelm Diefenbach mit seiner Familie auf seiner Wanderung durch die Alpen (Foto mit freundlicher Genehmigung Deutsches Monte Verità Archiv Freudenstein)

Interview

Neue Gesellschaftsformen suchte man im ausgehenden 19. Jahrhundert an vielen Orten. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Hier die Industrialisierung und Technisierung, dort die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, der Nähe zur Natur. Wie kamen sie zur Figur dieses Weltverbesserers?
In einem Reiseführer zur Insel Capri fand ich schon Ende der 1980er Jahre den Hinweis auf seltsame dunkle und depressive Bilder eines deutschen Malers, die in der Certosa San Giacomo auf Capri hängen. Ich war ein paar Mal auf Capri, aber erst 2017 schaffte ich es in die Certosa und nahm die Bilder in Augenschein. Daraufhin begann ich mich mit der Person Diefenbachs zu beschäftigen und habe dann sehr viel recherchiert.

Es gibt vielerlei Verbindungen, Parallelen zur Gegenwart. Man sieht sie auch heute, die Weltverbesserer, die Besserwisser, die Instrumentalisierer, die Suggestiven. Entspricht das nicht der schlichten Sehnsucht nach dem Messianischen?
Darüber mag ich kein Urteil sprechen. Sicher sind in Zeiten, wo die Technik die menschliche Lebenswelt zu bestimmen droht, die Sehnsüchte nach naturnahen Zuständen grösser und Menschen mit lebensreformerischen Ansätzen, die ein „Zurück zur Natur“ predigen, sind womöglich erfolgreicher.
Parallelen zur Gegenwart gibt es tatsächlich sehr viele. Tatsächlich wurden damals Nahrungsmittel wie Hafermilch, Bircher-Müsli oder Heilmethoden wie Schüssler-Salze erfunden und beworben. 

Hinter Karl Wilhelm Diefenbach zieht sich eine Spur mit Verwerfungen. Seien sie personell oder wirtschaftlich. Was hätte Karl Wilhelm Diefenbach an seinem Sterbebett wohl geflüstert (Ich weiss, die Frage ist rein rhetorisch, denn ausgerechnet er, der sich stets an einer gesunden Ernährung orientierte, starb an einem Darmverschluss!) hätte man ihn gefragt, wie er über sein Leben denke?
Diefenbach war ein Visionär, der durchaus wusste, wie man Dinge effektvoll inszeniert und vermarktet. Finanziell war er bei seinen Unternehmungen nicht immer erfolgreich und auch Frauen hat er eher ausgenutzt. Ich denke, er wäre auch am Sterbebett überzeugt davon gewesen, das Richtige vertreten zu haben, auch wenn er seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügen konnte.

Wir leben wie damals in einer Zeit der Orientierungssuche. Man stellt die Medizin wie damals unter Generalverdacht, wettert gegen Zügellosigkeit und kritisiert zu recht die Folgen eines absolut unkritischen Fleischkonsums. Aber Einsicht und Korrektur kann niemals von aussen erreicht werden, auch wenn uns das Bildungswesen anderes verspricht. Karl Wilhelm Diefenbach agierte absolut patriarchisch und hierarchisch. Warum?
Einerseits liegt es in der Zeit begründet: Es handelt sich bei seinen Kommunen schliesslich nicht um hierarchielose Hippie-Gemeinschaften, sondern eher um eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit einer starken Führerfigur. Lebensreform, Veganismus und Naturheilkunde tragen deutlich religöse Züge, Diefenbach tritt oft wie ein alttestamentlicher Prophet auf. Anders war das in dieser Zeit eben nicht denkbar.
Andererseits funktionieren solche Gemeinschaften wahrscheinlich nicht anti-autoritär, man denke an die Sekten der 60er Jahre wie Mun oder Children of God.

Betrachtet man heute die Bilder des Malers Karl Wilhelm Diefenbach, dann wirken seine Arbeiten verklärt, aufgeladen und entrückt. Etwas, was der Bildenden Kunst heute völlig fremd zu sein scheint. Heute will und muss man provozieren. Ihr Buch hält sich ganz eng an die Geschichte dieses Mannes. Sie haben als Schriftsteller weder verklärt, noch aufgeladen oder entrückt. Was reizt sie an dieser Form des Erzählens?
Ich denke nicht, dass Diefenbach mit seinen symbolistischen Bildern unbedingt provozieren wollte. Ganz sicher wollte er den Betrachter beeindrucken, überwältigen, ja, zu seiner Lehre bekehren. Die Bilder künden nach seiner Meinung von einem neuen Zeitalter, das gerade anbricht.
Betreffend die Form des Erzählens habe ich einerseits eine Kunstsprache verwendet, die bewusst etwas altertümlich klingen soll und dem Ton nachempfunden ist, in dem Diefenbach seine Briefe schrieb. Ob ich neutral erzählt habe, schwer zu sagen. Verklärt habe ich Diefenbach sicher nicht, da er ja auch unangenehme Seiten hat. Versucht habe ich eine leise Ironie, die – so hoffe ich – nie ins Lächerlichmachen abgleitet.

Ist man sich als Autor der zu gewärtigen Reaktionen auf ein Buch bewusst, die ein solcher Roman auslösen kann, wenn die einen Seiten eines Lebens im Licht stehen und andere in den Augen anderer unterbelichtet bleiben?
Es gibt kaum etwas, was einen als Autor noch überraschen kann. Einerseits gibt es immer abweichende Meinungen von Lesern, wenn historische Persönlichkeiten behandelt werden, andererseits gibt es Leser, die sich des Unterschieds zwischen Historie und Fiktion nicht bewusst sind. Das passiert mir bei meinen Romanen immer wieder.

Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. Im Picus Verlag erschienen seine Romane «Malcontenta», «Kamnik» und «Sie haben mich nicht gekriegt».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Paul Feuersänger

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand

Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.

Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt. 

Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.

nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages

Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf. 

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4

«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.

atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht

Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.

Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!

Interview mit Michael Stavarič:

Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe?
Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.

itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen

Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte?
Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!

Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schla­fen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt

Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen?
Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.

kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahn­mal vor sich herträgt

Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion?
Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.

An­ guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin

Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen?
Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …

© Yves Noir

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Beitragsbild © Yves Noir

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus

„Chopinhof-Blues“ erzählt seismographisch von der Empfindsamkeit des modernen Menschen, von der Suche nach Vergebung, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, von Verletzungen, die unter vernarbtem Gewebe weitereitern.

Nicht lange her, da war ich an einer Geburtstagsfeier. Ich kannte ausser dem Gefeierten niemand. Nicht wenig hätte gefehlt und das Fest hätte kippen können. Tat es dann nicht, weil die Betroffenen nicht aussprachen, was durchaus hätte gesagt werden können. In Anna Silbers Debüt „Chopinhof-Blues“ treffen sich ein paar Leute in Wien zu einer Geburtstagsfeier. Der kleine Felix wird ein Jahr alt. Daniel, sein Vater, hat eingeladen, weil er nicht alleine mit seiner Ex feiern wollte. Im Chopinhof hat nicht nur Daniel den Blues.

An dem Geburtstag im Chopinhof sind Ádám und seine Frau Aniko eingeladen, beide seit fünf Jahren in Wien, aus Ungarn ausgewandert in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ádám, eigentlich studierter Philosoph, hilft Daniel, dem Vater des kleinen Felix, in seinem Malergeschäft. Und Aniko versucht mit ihrem Leben zurechtzukommen, in ihrer Liebe zu Ádám, mit der immer unausweichlicheren Frage, ob man selbst Familie werden will oder nicht. Und Ádám mit Aniko, von der er mehr als deutlich spürt, dass sie ihre Antworten nicht mehr mit ihm zusammen sucht.

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus, 2022, 243 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2117-4

Eingeladen ist natürlich auch Jacinta, die Mutter des kleinen Felix, Daniels Exfrau. Sie tauschen sich die Betreuung des Jungen. Eine Woche er, eine Woche sie. Eine wirkliche Trennung kommt nicht in Frage, denn Jacinta müsste dann mit einer Abschiebung zurück nach Zentralamerika rechnen. Aber Jacinta nimmt Tilo mit. Ihren Neuen. Und Tilo seine Schwester Katja. Katja und Tilo wuchsen im Heim auf, beide auf ihre Art traumatisiert von den Geschehnissen in ihrer Kindheit, einer abwesenden und in Drogen versinkenden Mutter, dem Verlassensein. Während Tilo sich als Künstler versucht, tut es Katja als Bankfachfrau. Aber ihr Beruf, ihre Machtlosigkeit, die Verdammnis, ihre Verstrickungen, schnüren ihr ebenso die Kehle zu wie der migeschleppte Alp zwischen ihr und ihrem Bruder.

Ebenfalls eingeladen ist Esra. Esra ist Krisenjounalistin, noch nicht lange zurück aus San Pedro Sula, einer Millionenstadt in Honduras. Zurück aus einem Krieg, von dem niemand spricht, einem Krieg, bei dem Kinder auf offener Strasse erschossen werden und es für niemanden dort eine Alternative gibt, weder eine realistische Möglichkeit zur Flucht noch eine menschenwürdige Zukunft. Esra zerbricht an der Machtlosigkeit, dem Bewusstsein, dass sie nicht einmal mit ihrem Schreiben etwas ändern kann, dass es nicht um Inhalte, sondern um den Marktwert einer Geschichte geht.

Dort im Hinterhof, im Chopinhof kommen sie zusammen. Sie alle, die gefangen sind in ihrer Geschichte. Anna Silber schreibt von Kämpfen, die sich langsam in Resignation verwandeln. Sie schreibt von der Depression, die sich in all die jungen Leben schleicht, weil man sich nicht in der Lage sieht, den Kampf aufzunehmen. Anna Silber schildert haargenau, in Dialogen, die entlarvend wirken, fern jeder Idylle. Es ist nicht der grosse Abgrund, aber die vielen kleinen, verborgenen, zugedeckten.

Ich wünsche „Chopinhof-Blues“ mutige Leserinnen, die aus dem, was ihnen Anna Silber Schicht für Schicht aus den Sedimenten dieses Abgrunds offenbart, Mut schöpfen können, jene Chancen zu ergreifen, die man sich nicht entgehen lassen darf. „Chopinhof-Blues“ ist sackstark!

Interview

Ich bin beeindruckt von Ihrem Roman, nicht zuletzt von seiner Konstruktion, wie sie ihn gebaut haben. Sie haben es sich nicht leicht gemacht. Ein dichtes Netz an Biographien und Geschichten! Wie schafft man es, die Übersicht, den Durchblick nicht zu verlieren?
Ich kann nicht für andere Autorinnen oder Autoren sprechen, aber für mich war ein aufgezeichneter romaninterner Zeitplan das wichtigste Hilfsmittel. Er hat sich vielfach geändert und ist mir trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ein treuer Begleiter durch das ganze Projekt hindurch gewesen. Oft genug habe ich aber natürlich aller Vorbereitung zum Trotze keine Ahnung mehr gehabt, was eigentlich wie zusammenpassen kann oder soll. Dann hilft nur lesen, umschreiben, lesen, umschreiben,…

Allein die Geschichte der Geschwister Tilo und Katja hätte Stoff genug beinhaltet, um einen eigenen Roman zu schreiben. Ich erinnere an die Romane von Angelika Klüssendorf. Auch dieses tiefe Ohnmachtsgefühl von Esra, der Krisenjournalistin, die sich einst voller Enthusiasmus und Ideologie in ihre ersten Einsätze stürzte, wäre Stoff genug für einen Roman gewesen. Ging es Ihnen gar nicht so sehr um die einzelnen Geschichten, sondern um den „Zustand“ einer Gesellschaft, die sich zu verlieren droht?
Mir ging und geht es um beides, um eine Kombination aus beiden Thematiken: auf der einen Seite das kleinteilige Einzelschicksal, auf der anderen Seite das verwobene, grössere Bild, das durch das Zusammentreffen der verschiedenen Geschichtsfäden entsteht. Das Kleine im Grossen sozusagen, um sich auch als Leserin oder Leser die Frage zu stellen, wo man sich in den Figuren erkennt, wo man vielleicht aber auch verständnislos ob ihrer Taten und Einstellungen reagiert – und warum. 

Sie waren nach Ihrem Abitur für einige Zeit in Costa Rica. Spiegeln sich in den Erfahrungen Esras in der Millionenstadt Honduras eigene Erlebnisse?
Eigene Erlebnisse spiegeln sich zwar nicht unbedingt in Esras Erfahrungen wider, aber ich müsste lügen, wenn ich überhaupt keine Parallelen ziehen würde. Mit Sicherheit hat mich im Schreiben das beeinflusst, was ich in Costa Rica gelernt habe, zum Beispiel, dass soziokulturelle Realitäten in Zentralamerika vielschichter nicht sein könnten und dass historische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bedeutende Auswirkungen auf das politische Heute und Morgen haben. Ganz pragmatisch betrachtet halfen mir natürlich meine in Costa Rica gefestigten Spanischkenntnisse bei der Recherche zu San Pedro Sula und Honduras. 

Alle Protagonisten befinden sich in Sackgassen. Vielleicht ist diese Verortung gar nicht so sehr das Resultat einer Resignation, sondern die Anerkennung einer Tatsache, der sich jede(r) zu stellen hat. Ihr Roman ist ehrlich, schmeichelt nicht, entzieht sich aller Verklärung. Ist das das „Programm“ Ihres Schreibens?
Ich muss zugeben, dass ich bisher keine klare Antwort darauf gefunden habe, was das «Programm» meines Schreibens, was also in diesem Sinne mein «Schreibstil» ist. Insbesondere bei diesem Projekt hat es mir aber sehr viel Freude bereitet, durch Reduktion Raum für Interpretation durch die Leserin oder den Leser zu lassen. Was passiert wohl zum Beispiel mit all diesen Menschen, nachdem sie im Chopinhof aufeinandergetroffen sind? Diese Fragezeichen, die mir selbst als Leserin sehr zusagen, habe ich auch versucht, als Autorin entstehen zu lassen. 

Obwohl ich den Titel Ihres Romans nach der Lektüre verstehe, löste er während des Lesens nichts von dem ein, was ich mir vorstellte, als ich den Roman zu lesen begann. Selbst nach der Lektüre verstört er mich, weil er eine Leichtigkeit suggeriert, die der Roman mit keinem Satz will. Wie kam es zu diesem Titel?
Ist es vielleicht das Cover, das eine gewisse Leichtigkeit vermittelt? Für mich liegt tatsächlich ein gewisser Reiz in der Kombination aus Chopin, dem tristen Gemeindebau, der seinen Namen trägt, und dem Blues.

Anna Silber, 1995 in Mödling (Österreich) geboren, wuchs in Österreich und Deutschland auf. Auf das Abitur folgte ein Kultur-Freiwilligendienst in Costa Rica, anschliessend Studium der Transkulturellen Kommunikation und Internationalen BWL an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. „Chopinhof-Blues“ ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Paul Feuersänger

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller

Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.

Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.

Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller, 2022, 280 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99200-327-3

Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.

Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.

Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.

„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.

Interview

Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.

Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.

In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.

Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.

Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.

Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).

Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015

Beitragsbild © privat

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg

„Haus in Flammen“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Schon „Erbauungsliteratur“ passt nicht, „Betroffenheitsliteratur“ auch nicht. „Haus in Flammen“ von Mischa Kopmann ist in gewisser Weise eine Kampfschrift. Sie erzählt von der Verzweiflung all jener, die sich an Strassen kleben, Häfen blockieren und Brücken besetzen. Von jungen Menschen, bei denen die Verzweiflung längst in Aggression gekippt ist. Aggression als einziger Weg.

2010 veröffentlichte die UN einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass wir kurz vor dem sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte stehen und dass dieses Massenaussterben das erste der Erdgeschichte sein wird, das der Mensch zu verantworten hat. Seit diesem Bericht ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen und nicht einmal die 2015 verbindlich gesprochenen Ziele des Pariser Klimagipfels scheinen in erreichbarer Nähe. Erstaunlich genug, dass sich die Literatur nur sehr zaghaft mit diesem Thema auseinandersetzt, zählt man all jene Dystopien nicht dazu, die sich mit einem möglichen Danach beschäftigen. So ratlos sich die Politik gebärdet, stets mit der Angst vor schwindender Unterstützung im Hinblick auf nächste Wahlen, so ratlos gibt sich die Kultur, die Literatur. Wer will schon jenen Moment vor dem Einschlafen, wo man den Tag mit ein paar Seiten in einem Buch versüssen will, mit einem Alp vergiften?

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95510-274-6

Der Autor Mischa Kopmann ist Familienvater. Wer in der Gegenwart Mutter oder Vater von kleinen Kindern ist, muss sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die sich blauäugigem Optimismus verschliesst, vorausgesetzt man stellt sich Fragen, liest die Zeit (damit meine ich nicht zwingend die entsprechende Zeitung) und sieht sein Leben nicht als Gang durch einen Supermarkt. Was wird bleiben, wenn unsere Kinder erwachsen geworden sind? Welche Schreckensszenarien, wie jener UN-Bericht von 2010, werden das Leben in der Zukunft überhaupt noch lebenswert lassen? Man kann die Wut und Verzweiflung der radikalen KlimakämpferInnen durchaus nachvollziehen, auch wenn die Methoden, die Öffentlichkeit von der Dringlichkeit einer Kurskorrektur zu überzeugen, mehr als fraglich sind.

Lias Thaden erzählt in „Haus in Flammen“ die Geschichte von Freundschaft und Liebe, Verzweiflung und Angst. Von Minnigk, Yvette und ihm, einer Menage à trois, die kein gutes Ende finden wird. Alle drei sind jung, um die zwanzig. Lias immer wieder umgezogen, weil der Vater ein hohes Tier bei der Bundeswehr ist, Minnigk locker und eloquent, blitzgescheit, ein Überflieger und Yvette, die Schöne, Tapfere, Unnahbare, Geheimnisvolle. Schule ist längst zur Nebensache geworden, denn was die drei unablässig auf Trab hält, alles mitreisst und unausweichlich ist, ist eine Gegenwart, die keiner Zukunft mehr Platz lässt, eine Zivilisation, die blind auf einen Abgrund zusteuert. Irgendwann mischt sich in die pazifistischen Ziele derart viel Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, dass die drei die DLB, die Dead Loss Brigade gründen, einen gut organisierten Haufen, der sich längst nicht mehr mit Nadelstichen begnügt, eine immer stärker werdende Gruppe von eigentlichen Ökoterroristen, deren einziges Argument die Gewalt ist.

So sehr sich die drei immer mehr im Strudel der Gewalt verlieren, so sehr entzieht es den dreien den Boden ihrer gegenseitigen Freundschaft. Lias liebt Yvette, die einzige. Und Yvette liebt Minnigk und Lias. Sie ziehen sogar in eine gemeinsame Wohnung, bis die Nähe für Lias unerträglich wird, genauso unerträglich wie die sich abzeichnende letzte Katastrophe in ihrem Kampf gegen die Stur- und Trägheit der Menschen.
Lias erzählt den Weg dieser Katastrophe, die ihm alles wegnehmen wird, seinen Freund Minnigk, seine Liebe Yvette und den Glauben, irgend ein Kampf wäre zu gewinnen.

Zugegeben, Mischa Kopmanns Roman streichelt auf keiner Seite. Alles läuft aus dem Ruder, alles. In vielen der sprachlich eingedickten Szenen, wird die Verzweiflung schmerzlich spürbar. Viele Szenen erinnern an Theaterszenen, an ProtagonistInnen, die sich nichts schenken, die sich förmlich aufreissen, um in einem letzten Akt der Verzweiflung Resonanz zu erreichen.
Vielleicht ist ein solches Buch der verzweifelte Versuch eines Familienvaters, seinen Kindern auch in Zukunft vor die Augen treten zu können. So wie die Kinder all jener die während der Gewaltherrschaft von Diktaturen Augen, Ohren und Münder schlossen, ihren Eltern später Fragen stellen. Unsere Kinder werden wieder fragen. Zum Beispiel warum wir nicht trotz Warnungen wie jener im UN-Bericht von 2010 umschwenkten.

„Haus in Flammen“ ist weit mehr als Ökoliteratur. Mit Sicherheit ein literarischer Höllentripp.

Interview

Unser Haus steht tatsächlich in Flammen, der ganze Planet. Besteht nicht die Gefahr, dass genau jene Leserinnen und Leser, die sich noch immer weigern, die Zeichen der Zeit lesen zu wollen, ein Buch wie das ihrige weglegen?
Ganz sicher wäre das so – sofern man sich der Illusion hingeben mag, dass eben diese Leserinnen und Leser mein Buch erst einmal in die Hand nähmen. Literatur ist in den seltensten Fällen Angelegenheit einer breiten Masse und somit fast immer elitär. Würde ich ernsthaft über mein etwaiges Lesepublikum nachdenken, könnte ich nicht die Bücher schreiben, die ich schreibe. Entscheidend, daran glaube ich fest, im Leben wie in der Literatur, ist nicht die Anzahl an Verkäufen, sondern der kulturelle Impact: Bewege ich mit meinem Buch Herzen, verändere ich etwas und etwas verändert sich.

Sie leben mit Ihrer Familie in Hamburg. Mag sein, dass man dort vom Geist der Fridays-for-Future-Bewegung etwas mitbekommt. Ich wohne in einem 14000-Seelen-Dorf, umgeben von satten Wiesen und Wäldern und spüre davon rein gar nichts. Im Gegenteil, hier fahren Baseballkapies mit ihren getunten Spielzeugen am Bahnhof vorbei und die Eingänge zu Schulhäusern sind nach einem Wochenende total vermüllt.
Ich neige zu einer pessimistischen Sicht in die Zukunft. Und Sie? Ich sehe mein Buch als ein Werk der Desillusionierung. Mitunter muss ich aufpassen, dass ich die Welt, die mich umgibt nicht als post-apokalyptisch geisterhaft erlebe. Unsere Regierung bezeichnet den aktuellen Klimabericht als «flammendes Dokument einer brennenden Welt». Da wir es seit Jahrzehnten gewöhnt sind, lediglich an den Symptomen eines Problems herumzudoktorn, weil es zu schmerzhaft, unbequem und nicht wirklich karrierefördernd ist, sich ernsthaft an den Ursachen abzuarbeiten, ist meine Sicht auf die Zukunft realistischerweise nicht sehr optimistisch.

Yvette, Minnigk und Lias sind Archetypen der Auseinandersetzung. Eine Visionärin, ein Radikaler und ein stiller Unterstützer. Ist es Zufall, dass die Visionärin weiblich ist? Oder trügt der Eindruck, dass die Rollen der Denkenden und Lenkenden mehrheitlich nicht in männlicher Hand sind?
Ich bin mir nicht sicher, ob Yvette tatsächlich visionärer denkt als Minnigk und Lias. Was sie von den beiden unterscheidet, ist der absolute Ernst, mit dem sie ihren Kampf ausficht. Ganz im Gegensatz zu Lias, wird ihr das Politische jedoch zunehmend wichtiger als das Persönliche – was wiederum vielleicht auch einem ganz persönlichen Motiv geschuldet sein mag. Und vergessen wir nicht: Alles, was über die Figuren (und somit auch über Yvette) gesagt wird, unterliegt der schmerzhaft gebrochenen, nach und nach versagenden Stimme eines nicht unbedingt verlässlichen Erzählers.

Sie sind Vater von Kindern. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass ihre Kinder Sie irgendwann fragen werden, warum man damals nicht handelte, als es noch möglich war. Ich bin Vater von fünf Kindern. Im Nachhinein staune ich über meinen naiven Mut und die Tatsache, dass keines meiner Kinder meine Vergangenheit in Frage stellt. Ein bisschen Sorge?
Ich sehe meine Aufgabe, meinen Kindern (und Mitmenschen insgesamt) gegenüber darin, so authentisch, offen und zugewandt zu sein wie nur möglich. Ohne dabei den Humor zu verlieren. Ich glaube, darin liegt unsere eigentliche Bestimmung: Uns zu erkennen und zu erneuern, an jedem einzelnen Tag. Die sprichwörtliche Veränderung zu sein, die man in der Welt sehen will. Jede Veränderung im Kleinen bedeutet auch eine im Grossen.

Sie schreiben von der „explosiven Mischung Wut“. Das spürt, liest und sieht man überall. Nicht nur bei Fussballspielen, Demonstrationen, überall dort wo viele Menschen zusammenkommen. Warum habe ich das Gefühl, dass diese zerstörerische Kraft förmlich darauf wartet, bis sie sich der Kontrolle entziehen kann oder bis das filigrane Gefüge einer funktionierenden Gesellschaft zu wanken beginnt?
Alles bleibt solange in einer vermeintlich sicheren Schwebe bis das filigrane Gefüge, von dem sie sprechen, solche Risse bekommt, dass es zerbricht. Dies gilt für die Natur wie für die Menschheit: Solange es den Eliten gelingt, das soziale Ungleichgewicht nicht zu gross werden zu lassen, solange die Natur nicht solche Schäden heraufbeschwört, dass der soziale Frieden nachhaltig gestört wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Seit einigen Jahren erleben wir jedoch, dass unser Alltag zunehmend Störungen unterliegt. Eine Gesellschaft, die es als ihr Recht ansieht, in sicherem Wohlstand zu leben, ist durch nichts darauf vorbereitet, wenn beide Faktoren, eng aneinander geknüpft, ihren explosiven Point of no Return erreichen.

Ist Ihr Schreiben Ihr ganz persönlicher „Kampf“?
Dieses Buch hat mir geholfen, meine Wut, meine Angst, meine Ohnmacht zu überwinden. Es gilt also im besten Sinne das Credo: Besser ich schreibe über Menschen, die Autos anzünden und Fast-Food-Ketten-Fillialen in die Luft jagen, als selbst damit anzufangen.

Mischa Kopmann wurde Ende der sechziger Jahre in einer Kleinstadt in der Südheide geboren. Um die Milleniumswende gewann er einige Literaturpreise (u. a. Allegra Kurzgeschichten Preis, Walter-Serner-Preis), unterbrach dann jedoch sein literarisches Schaffen, um seine zwei Kinder grosszuziehen. Im Februar 2017 erschien bei Osburg sein Debütroman «Aquariumtrinker», 2019 die «Dorfidioten». Der Autor lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Kathrin Brunnhofer

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

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Beitragsbilder © Peter v. Felbert