Felix Kucher «Vegetarianer», Picus

Er war Maler und Messias. Er glaubte an eine bessere Welt, ein Neben- und Miteinander von Mensch und Natur, an die Erneuerung von Gesellschaft und Kultur. Karl Wilhelm Diefenbach, Kulturrebell, Vegetarier und Anhänger der freien Liebe, Sozialreformer und Pazifist – Kohlrabiapostel! „Vegetarianer“ von Felix Kucher ist Zeitgeschichte, damals und jetzt!

Im späten 19. Jahrhundert bis in das nächste Jahrhundert hinein gediehen überall in Europa Zellen, in denen neue Lebens-, Gemeinschafts- und Sozialformen entstanden. Die einen wurden gross, andere blieben klein. So kann man den Kommunismus als Bewegung definieren, die aus feudalen Macht- und Ohnmachtsstrukturen ausbrechen wollte, sich in einer Neuorientierung Befreiung versprach. Aber auch kleine und Kleinstbewegungen blühten für kurze Zeit auf, wie jene auf dem Monte Verità im Süden der Schweiz, wo sich IdealistInnen und Weltverbesserer neu auszuprobieren versuchten als alternative Lebensgemeinschaft. Namen wie Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, D.H. Lawrence, Hugo Ball oder Hans Arp suchten dort ihr Glück.

Von der Geschichte fast vergessen ist der deutsche Maler Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 in der hessischen Stadt Hadamar geboren, zum Maler ausgebildet an die Akademie der bildenden Künste in München. Ein Mann, der schon mit dreissig Jahren nicht nur mit seiner Malerei die Welt auf den Kopf stellen wollte, sondern mit einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft. Er verkündete die Rettung der Menschheit, wenn sie dem Fleischkonsum entsage, keine Tiere mehr sinnlos morde, sooft als möglich „nackig wandle“, sich dem heilenden Sonnenlicht ausliefere und sich fortan den Versprechungen der modernen Medizin, ihren Pillen und Impfungen entgegenstelle und ganz und gar der heilenden Kraft der Natur vertraue. So wie er sich als Maler zu etablieren versuchte, endlich über die braven Auftragsarbeiten eines Portätisten hinauswachsen wollte, so war er ganz und gar von seinem Sendungsbewusstsein überzeugt, der Welt jene Antworten zu geben, die den Wandel zum Guten hervorrufen würden.

Felix Kucher «Vegetarianer», Picus, 2022, 230 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2120-4

Felix Kucher erzählt in seinem Roman „Vegetarianer“ die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mannes. Dabei will Felix Kucher aber nicht einfach nacherzählen, ein Leben aus dem Vergessen zurückholen. Karl Wilhelm Diefenbach starb 1913 vergessen und gescheitert auf der Insel Capri. Diefenbach ist Beispiel dafür, was ungebrochenes Sendungsbewusstsein, egozentrischer Drang aus seiner Existenz Bedeutung zu generieren und nur selten aufblitzenden Empathie bewirken können. Beispiele in der Gegenwart gibt es viele. Was sich in Zeiten der Pandemie und darüber hinaus an Heilbringern und Besserwissern in digitalen Foren tummelte, kann schwindlig machen. Nicht das Felix Kucher die Kritik gegen ungebremsten Fleischkonsum ins Lächerliche ziehen würde, nicht einmal Diefenbachs unbeirrbareren Widerstand gegen die Errungenschaften der modernen Medizin. Kucher geht es um die Person, um diesen einen Mann, der alles und jede(n) zu instrumentalisieren versuchte, der unumstösslich an seine eigene Unfehlbarkeit glaubte und alles Scheitern dem Unbill der Zeit in die Schuhe schob. Diefenbach hatte Kinder mehrerer Frauen, die ihn liebten, hatte Freunde, die für ihn während Jahren durch dick und dünn gingen, Zugewandte, die an ihn glaubten, sowohl als Maler wie als Weltverbesserer. Immer wieder kam er durch den Verkauf seiner Bilder zu Geld, fand Menschen, die ihn finanziell unterstützten. Immer wieder öffneten sich Türen, boten sich Chancen. Aber statt sich mit dem Erreichten anzufreunden, richtete sich der Blick in immer neue Sphären, schienen Grenzen für Karl Wilhelm Diefenbach nicht zu gelten. Schlussendlich starb Diefenbach allein.

Felix Kuchers Roman „Vegetarianer“ ist ein Sittenbild einer Zeit des Aufbruchs. Was im 19. Jahrhundert durch die aufbrechende Industrialisierung und Technisierung Elend und Armut, Entfremdung und Sehnsüchte nach einem Aufbruch verursachte, lässt sich spielend in die Gegenwart transformieren. „Vergetarianer“ ist sorgfältig erzählt, das Abenteuer eines Unbeirrbaren, das Zeugnis eines stillen Scheiterns. Felix Kuchers Roman ist aber keine Künstlerbiographie und will weder Wirken noch Leben Diefenbachs rekapitulieren. Ein Roman ist ein Roman. Und Romane sind stets Fiktion. Selbst dann, wenn sich Autoren an Fakten orientieren.

Karl Wilhelm Diefenbach mit seiner Familie auf seiner Wanderung durch die Alpen (Foto mit freundlicher Genehmigung Deutsches Monte Verità Archiv Freudenstein)

Interview

Neue Gesellschaftsformen suchte man im ausgehenden 19. Jahrhundert an vielen Orten. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Hier die Industrialisierung und Technisierung, dort die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, der Nähe zur Natur. Wie kamen sie zur Figur dieses Weltverbesserers?
In einem Reiseführer zur Insel Capri fand ich schon Ende der 1980er Jahre den Hinweis auf seltsame dunkle und depressive Bilder eines deutschen Malers, die in der Certosa San Giacomo auf Capri hängen. Ich war ein paar Mal auf Capri, aber erst 2017 schaffte ich es in die Certosa und nahm die Bilder in Augenschein. Daraufhin begann ich mich mit der Person Diefenbachs zu beschäftigen und habe dann sehr viel recherchiert.

Es gibt vielerlei Verbindungen, Parallelen zur Gegenwart. Man sieht sie auch heute, die Weltverbesserer, die Besserwisser, die Instrumentalisierer, die Suggestiven. Entspricht das nicht der schlichten Sehnsucht nach dem Messianischen?
Darüber mag ich kein Urteil sprechen. Sicher sind in Zeiten, wo die Technik die menschliche Lebenswelt zu bestimmen droht, die Sehnsüchte nach naturnahen Zuständen grösser und Menschen mit lebensreformerischen Ansätzen, die ein „Zurück zur Natur“ predigen, sind womöglich erfolgreicher.
Parallelen zur Gegenwart gibt es tatsächlich sehr viele. Tatsächlich wurden damals Nahrungsmittel wie Hafermilch, Bircher-Müsli oder Heilmethoden wie Schüssler-Salze erfunden und beworben. 

Hinter Karl Wilhelm Diefenbach zieht sich eine Spur mit Verwerfungen. Seien sie personell oder wirtschaftlich. Was hätte Karl Wilhelm Diefenbach an seinem Sterbebett wohl geflüstert (Ich weiss, die Frage ist rein rhetorisch, denn ausgerechnet er, der sich stets an einer gesunden Ernährung orientierte, starb an einem Darmverschluss!) hätte man ihn gefragt, wie er über sein Leben denke?
Diefenbach war ein Visionär, der durchaus wusste, wie man Dinge effektvoll inszeniert und vermarktet. Finanziell war er bei seinen Unternehmungen nicht immer erfolgreich und auch Frauen hat er eher ausgenutzt. Ich denke, er wäre auch am Sterbebett überzeugt davon gewesen, das Richtige vertreten zu haben, auch wenn er seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügen konnte.

Wir leben wie damals in einer Zeit der Orientierungssuche. Man stellt die Medizin wie damals unter Generalverdacht, wettert gegen Zügellosigkeit und kritisiert zu recht die Folgen eines absolut unkritischen Fleischkonsums. Aber Einsicht und Korrektur kann niemals von aussen erreicht werden, auch wenn uns das Bildungswesen anderes verspricht. Karl Wilhelm Diefenbach agierte absolut patriarchisch und hierarchisch. Warum?
Einerseits liegt es in der Zeit begründet: Es handelt sich bei seinen Kommunen schliesslich nicht um hierarchielose Hippie-Gemeinschaften, sondern eher um eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit einer starken Führerfigur. Lebensreform, Veganismus und Naturheilkunde tragen deutlich religöse Züge, Diefenbach tritt oft wie ein alttestamentlicher Prophet auf. Anders war das in dieser Zeit eben nicht denkbar.
Andererseits funktionieren solche Gemeinschaften wahrscheinlich nicht anti-autoritär, man denke an die Sekten der 60er Jahre wie Mun oder Children of God.

Betrachtet man heute die Bilder des Malers Karl Wilhelm Diefenbach, dann wirken seine Arbeiten verklärt, aufgeladen und entrückt. Etwas, was der Bildenden Kunst heute völlig fremd zu sein scheint. Heute will und muss man provozieren. Ihr Buch hält sich ganz eng an die Geschichte dieses Mannes. Sie haben als Schriftsteller weder verklärt, noch aufgeladen oder entrückt. Was reizt sie an dieser Form des Erzählens?
Ich denke nicht, dass Diefenbach mit seinen symbolistischen Bildern unbedingt provozieren wollte. Ganz sicher wollte er den Betrachter beeindrucken, überwältigen, ja, zu seiner Lehre bekehren. Die Bilder künden nach seiner Meinung von einem neuen Zeitalter, das gerade anbricht.
Betreffend die Form des Erzählens habe ich einerseits eine Kunstsprache verwendet, die bewusst etwas altertümlich klingen soll und dem Ton nachempfunden ist, in dem Diefenbach seine Briefe schrieb. Ob ich neutral erzählt habe, schwer zu sagen. Verklärt habe ich Diefenbach sicher nicht, da er ja auch unangenehme Seiten hat. Versucht habe ich eine leise Ironie, die – so hoffe ich – nie ins Lächerlichmachen abgleitet.

Ist man sich als Autor der zu gewärtigen Reaktionen auf ein Buch bewusst, die ein solcher Roman auslösen kann, wenn die einen Seiten eines Lebens im Licht stehen und andere in den Augen anderer unterbelichtet bleiben?
Es gibt kaum etwas, was einen als Autor noch überraschen kann. Einerseits gibt es immer abweichende Meinungen von Lesern, wenn historische Persönlichkeiten behandelt werden, andererseits gibt es Leser, die sich des Unterschieds zwischen Historie und Fiktion nicht bewusst sind. Das passiert mir bei meinen Romanen immer wieder.

Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. Im Picus Verlag erschienen seine Romane «Malcontenta», «Kamnik» und «Sie haben mich nicht gekriegt».

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Beitragsbild © Paul Feuersänger