Gianna Molinari «Hinter der Hecke die Welt», Aufbau

Gianna Molinaris Romane sind Sondierungen in die Tiefe. Wie in ihrem Debüterfolg „Hier ist noch alles möglich“ wählt die Autorin nicht nur ganz spezielle Erzählorte, sondern setzt ihr Erzählen in eine Horizontale, weg vom gewohnten Blick in eine vertikale Weite. Gianna Molinaris Erzählen entzieht sich gängiger Erzählstrukturen und macht ihre Romane zu funkelnden Diamanten.

Dora, eine Meeresforscherin in der Arktis, sieht in den Veränderungen am Pol, seien es die klimatischen oder die durch diese hervorgerufenen wirtschaftlichen, eine sich verändernde Landschaft. Nichts am ewigen Eis ist mehr ewig. Alles wird endlich und durch diese Endlichkeit grossen Umwälzungen unterworfen. Die Eiskappen schmelzen. Was mit den menschlichen Eingriffen schon vor mehr als hundert Jahren seinen Anfang nahm, wird durch die Auswirkungen menschlichen Tuns und Unterlassens so sehr beschleunigt, dass nicht absehbar ist, was in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben auf diesem Planeten zukommen wird. Dora sammelt als Wissenschaftlerin Sedimentproben vom arktischen Meeresboden, kartographiert und untersucht das, was noch ist und sich in Zukunft rasant verändern wird.

Dora hat Pina, ihre Tochter, im Dorf zurückgelassen, genauso wie Karsten ihren Mann, der einst wegen ihr in das kleine Dorf gezogen war. Zusammen mit der gleichaltrigen Lobo sind Pina und sie die einzigen Kinder, die im Dorf geblieben sind. Einem Dorf, das zu verschwinden droht. Einem Dorf, das in seinem Verschwinden vom Wuchern einer Hecke gleich neben dem Dorf begleitet wird. Einer Hecke, vor der man sich gleichermassen fürchtet wie Hoffnungen setzt. Solange sie wächst, bleibt die Hoffnung auf Veränderung. Dass das Verschwinden aufgehalten wird, dass mit den Veränderungen der Tourismus wirkt, Wachstum auch ins Dorf zurückkehrt – und vor allem, dass die beiden Mädchen wieder wachsen, denn trotz aller Anstrengungen bleibt das Wachstum der beiden aus, bleibt ihre Körpergrösse die immer gleiche.

„Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen.“

Gianna Molinari «Hinter den Hecken die Welt», Aufbau, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-351-04173-1

Das ganze Dorf wappnet sich gegen das Verschwinden. Genauso wie man die seltsame Hecke beobachtet, nicht weiss, ob sie Bedrohung oder Kapital sein kann. So wie in der Arktis wird unterucht und gemessen, festgehalten und prognostiziert. „Hinter der Hecke die Welt“, weil jedes Ende ein Anfang ist, weil die Spezies Mensch nicht verstehen kann, dass alles im Wandel ist, höchstens der Wandel ewig. Obwohl der Mensch alles auf diesem Planeten mit seinen langen Fingern für sich einnimmt, behandelt man den Organismus Erde wie eine immer gleiche blaue Kugel, obwohl es der Mensch ist, der die Veränderungen potenziert, das gleichförmige Wachsen und Verschwinden zu einem katastrophalen Prozess beschleunigt.

Gianna Molinaris Roman erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist sie nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei mir als Leser. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt.

Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Und ganz nebenbei erfahre ich als Leser Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Wussten Sie, dass das Arktische Eichhörnchen seinen Organismus einfrieren kann? Kennen sie den Riesenalk oder den Grönlandhai, der 500 Jahre alt werden kann? „Hinter der Hecke die Welt“ – tatsächlich!

Interview

Ich las Dein Buch sehr gerne, auch wenn Du es mir nicht ganz leicht gemacht hast. Aber wahrscheinlich wolltest Du das auch gar nicht. Weil Du mich mit Deiner Schreibe zur Langsamkeit zwingst, einem Lesetempo, dass sonst nicht meinen Gewohnheiten entspricht. Ich wollte verstehen, witterte wahrscheinlich den einen oder anderen doppelten Boden, wo Du eigentlich nur fabulieren, abdriften, eintauchen wolltest. 
Man kann Deinen Roman mit vielen Brillen lesen: eine Mutter weg von ihrer Familie, eine Forschende, die das Eis mit ihren Fragen löchert, ein Dorf, dass sich gegen das Verschwinden stemmt, ein Dorf zwischen Angst und Expansionsfantasien, zwei Kinder, die nicht mehr wachsen … und eben diese geheimnisvolle Hecke. War ein Plan da?
Es ist während dem Schreibprozess immer wieder ein Plan da. Das Ärgerliche aber vielleicht auch das Schöne und Wichtige an diesen Plänen ist, dass ich sie auch immer wieder verwerfen muss. Vor allem, weil ich jeweils merke, dass ich nicht so schreibe, nicht nach Plan, dass das schlicht nicht ergiebig ist, dass ich mir den Stoff, die Motive, die Figuren, die Geschichten erschreibe, also nur im Schreiben Stück für Stück dem näher komme, was dann zum fertigen Text wird. Und ja, da stimme ich Dir zu und das freut mich auch sehr, deine Aufzählung von dem, was Du alles im Text liest, diese Vielbrilligkeit, im besten Sinne die Offenheit des Textes, die habe ich gesucht, damit die Leser*innen ihre eigenen Wege durch das Buch gehen können. Das zumindest erhoffe ich mir.

Die Hecke wächst, das Dorf stagniert. Die Hecke als Labyrinth, das Dorf als Ort, in dem man mit aller Energie an Wachstum glaubt. Vielleicht lese ich in der Hecke auch meinen eigenen Wunsch, die Natur möge sich zurücknehmen, was man ihr entrissen hat. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was mich an Deinem Roman fasziniert; die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Ist Dein Roman auch ein Statement in erzähltechnischer Hinsicht? Gegen die Banalität?
Es ist, denke ich, nicht ein Anschreiben gegen die Banalität. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine Möglichkeit oder der Versuch, die Welt, der ich als Schreibende begegne und mit der ich mich auseinandersetzen möchte, zu fassen und sie dabei nicht zu vereinfachen, sondern ihr Raum zu geben. Und ganz so trennbar oder gegensätzlich ist es ja nicht, die Welt ist ja banal und unfassbar komplex zugleich.

© Gianna Molinari

Ich lese viel und wundere mich, dass der Aufbau Verlag, den ich nicht wirklich zu den experimentierfreudigen zähle, auch Deinen Zweitling druckte. Erstaunlich oder doch nicht? War die Unterstützung im Verlag einhellig?
Das würde mich natürlich jetzt auch interessieren, was der Aufbau Verlag zu Deiner Sichtweise auf ihr Programm antworten würde. Aber nein, ich bin nicht Deiner Meinung, der Aufbau Verlag hat zum Beispiel mit Blumenbar ganz klar auch eine experimentierfreudige Seite und aus meiner Wahrnehmung war die Unterstützung für meinen Roman einhellig und gross und die Zusammenarbeit im Lektorat und mit allen Verlagsmitarbeitenden finde ich grossartig. 

Bei der Bildenden Kunst hält man das Nichtverstehenmüssen aus. Auch bei der Musik. Ausgerechnet bei erzählender Literatur aber ganz offensichtlich nicht, zumindest jene, die das Buch zur blossen Unterhaltung „brauchen“. Lässt das nicht manchmal zweifeln?
Das Nichtverstehenmüssen hängt für mich auch mit dem Nichterklärenmüssen zusammen. Ich möchte nicht erklären, ich möchte die Dinge lange und gut betrachten und dann beschreiben. Ich möchte den Dingen nachgehen und ihnen so vielleicht auch nahekommen, so nahe, dass ich und im besten Fall auch Leser*innen des Textes, diese anders betrachten können, etwas Neues entdecken. Aber ja, der Text arbeitet mit Leerstellen und lässt vieles offen. Dass nicht alle Leser*innen solche Leerstellen mögen, ist absolut okay. Ich freue mich aber sehr über diejenigen, die sich auf ein Nichtverstehenmüssen einlassen.

Auch in diesem Buch finden sich wieder Illustrationen. Auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Auch Fotos sind abgedruckt, Recherchefotos. Welche Rolle spielen das Zeichnen und Fotografieren in Deinem Sehen und Suchen?
Innerhalb des Romans gehören die Bilder zu Doras Erzählteil, sie sind gewissermassen Logbucheinträge von ihr. Die Bilder sind eine Möglichkeit, die Dinge nochmals anders zu erzählen, von einer anderen Seite zu betrachten. Der Wechsel des Mediums ist für mich im Schreibprozess auch immer ein sehr wichtiges Werkzeug, um meinen eigenen Blick zu schärfen.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman »Hier ist noch alles möglich« war ein grosser Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Christoph Oeschger

Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin

„Jetzt bist du da“ ist ein Roman über das Mysterium Eros. Claire ist 42 und lebt zurückgezogen in einem kleinen Holzhaus im Wald. Ein Rückzugsort das Haus, ein Rückzugsort der Wald. Und doch holt sie ein, wovor sie sich schützen wollte, was ihr nicht mehr geschehen sollte. Und das mit Janis, einem 16jähigen Schüler.

Claire ist Waldpädagogin und unterrichtet Schulklassen im Wald, versucht ihnen jene Natur nahe zu bringen, von der sich die meisten maximal entfernten. Sie arbeitet nicht nur dort, im Wechsel mit Achim, ihrem Arbeitskollegen, sie lebt auch dort, zusammen mit der zugelaufenen Hündin Nora, eingebettet in ein kleines Stück Welt, das sie einzuschätzen weiss, von der sie Gerüche und Geräusche kennt, vor der sie mit den Jahren die Angst verloren hat. Claire hat sich in ihrem Leben eingerichtet, ist das, was sie sein will, kontrolliert, selbstbestimmt, mit sich und dem kleinen Stück Welt im Reinen.

Janis fiel ihr schon in seiner Klasse auf, als ihnen für ein paar Tage nähergebracht werden sollte, was die meisten Menschen verloren haben, nicht nur jene in den Städten, wie man Feuer macht, im Wald lebt und übernachtet, Tiere und Pflanzen kennenlernt. Janis erinnerte sie an eine Liebe tief in ihrer Vergangenheit. Janis, in seiner fast femininen, androgynen Art, hielt mit jeder seiner Bewegungen dem entgegen, was das laute, aufdringliche, hormondurchtränkte Gehabe seiner Mitschüler ausmachte. Eher zufällig ergab sich eine Berührung; Janis strich ihr mit der Hand über die Wange. Eine Berührung, die Claire aus dem Gleichgewicht brachte, die sie elektisierte und auch nicht losliess, als sich die Gruppe längst wieder in ihren Alltag verabschiedet hatte.

Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin, 2023, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8270-1494-8

Und nun, sieben Wochen später, taucht Janis wieder auf, allein. Claire sieht ihn durchs Fenster ihres Häuschens und spürt vom ersten Moment das fatale Potenzial, das mit dem einen ersten Blick nach all den Wochen aufflammt. Alle Sicherheit ist weg. Und noch bevor er vor ihrer Tür erscheint, weiss Claire, dass dies ein Kampf werden wird, der zerstörerische Folgen haben kann. Kein Kampf zwischen Janis und ihr. Der Kampf in ihr selbst. Ein Kampf, bei dem nicht einmal Verstand und Emotion, Kopf und Bauch klar Stellung beziehen. Claire spürt, wie sich Wogen durch ihr Sein peitschen, wie Sehnsüchte und Erinnerungen auftauchen. All die mühsam gewonnenen Ankerseile ihres Lebens drohen ihr entrissen zu werden. Sie öffent die Tür und es beginnt ein kleines Stück Gemeinsamkeit, das verborgen bleiben muss.

Ausgerechnt sie, die alles im Griff zu haben schien, die dort in jenem Stück Wald, in ihrem Häuschen, zusammen mit Nora ihrem Hund, alles manifestierte, was Bodenständigkeit, Natürlichkeit und Souveränitat ausmachte, wird von den Stürmen ihrer Emotionen derart gebeutelt, dass sie sich davor fürchtet, sehenden Auges ins Verderben zu rutschen. Nicht nur weil Janis minderjähig ist, weil sie sich ein Stück Sicherheit aufbaute. Nicht nur weil es nicht den gängigen Klischees entspricht. Nicht nur weil die Begegnung mit Janis Wunden aufreisst, die sie vernarbt glaubte. Claire fürchtet sich, die Kontrolle zu verlieren. Ausgerechnet dieses Gefühl der Angst reisst sie zurück, droht das zu zerstören, was sie nach und nach zu ihrer Welt machte.

So wie Claire sich ihre Angst zähmte, glaubte sie sich unter Kontrolle zu haben. All die Geräusche des Waldes, die Stimmen, die Düfte, die Nächte und das Wetter in den Bäumen – alles schien gebannt. So wie die Geschichten in ihr, abgelegt und geordnet. Janis ist der Sturm, bricht die schwer gewonnene Ruhe.

Was an Sandra Hoffmanns Roman besticht, ist der Kampf, die Dramaturgie der Gefühle, ohne dass der Roman je ins Triviale abdriften würde. Noch viel mehr aber die Sprache, die Feinheit des Beschreibens, als würde sie sich in jede Regung, jedes Bild, jede Stimmung mit ihrem Sprachokular hineinbrennen. Da schreibt jemand, der mit der Haut sieht. „Jetzt bist du da“ ist nicht nur eine Form von Nature Writing. Sandra Hoffman verbindet aufs Erstaunlichste innere mit äusseren Bildern, alle die Feinabstufungen von Nähe, sei es jene aufgeladene zwischen Menschen oder jene getragene zwischen Mensch und Natur. 

Ein erstaunliches Buch, ein mutiges Buch.

Postkarte

Interview

Klar fasziniert einem das beschriebene Knistern, das Unmögliche einer solchen Begegnung. Aber am meisten fasziniert mich die Art Ihres Erzählens, die Genauigkeit, das Feinsinnige. Es ist nicht nur, dass man den Wald durch Ihre Bilder riecht, ihr Erzählen macht Gänsehaut. Verlangte der Stoff nach dieser Art des Erzählens oder entstand sie durch den Ort selbst, verrieten Sie doch in einem Interview, dass Sie grosse Teile des Romans in einem Haus am Wald geschrieben haben?

Vielleicht ist es eine Mischung aus allem. Ich erzähle ja auf 240 dichten Seiten gerade mal achtzehn Stunden. Nicht mal einen Tag. Das heißt, alles was geschieht betrachte ich mit grosser Präzision, egal, ob das nun das Innenleben von Claire ist im ersten Teil des Romans, oder im zweiten Teil die Begegnung zwischen ihr und dem Jungen,  – und immer eben auch den Wald, der ja als Protagonist fungiert. Er ist der Spiegel von allem, und im Spiegel sieht man ja immer alles sehr genau. Und wenn man in einem Zustand der Erregung ist auch. Es ist also notwendig gewesen, dass ich alles so erzähle, der Stoff machte das notwendig. 

Liebesgeschichten zwischen „älteren Frauen“ und Jünglingen sind selten, zumindest in der Literatur. Nicht nur, dass da ein Tabu wirkt. Ich bin überzeugt, dass die weibliche Sexualität noch immer viel misstrauischer beäugt wird, als jene auf den anderen Seiten. Ist das erklärbar durch die Tradition oder vielmehr durch den Umstand, dass wir noch weit, weit weg sind von einer wahrhaften Befreiung?

Wir sind noch weit weg. Ja. Ich habe von einem Mann gehört, der über meinen Roman sagte: wen interessiert schon die Sexualität einer 42-jährigen! Das muss man sich erst mal trauen. Nach Nabokov, Philip Roth, Knausgard – wenn man nur mal jene Autoren betrachtet, (die mir auf die Schnelle einfallen), die ihre Helden umstandslos Sex haben liessen mit Dreizehnjährigen, mit Minderjährigen, mit sehr jungen Frauen. Das mache ich ja nicht in meinem Roman. Sondern ich erzähle eine Frau, die spürt, dass sie diesen einen Jungen zu begehren beginnt, und ich erzähle von einem Jungen, der diese Frau begehrt. Er darf das, er hat sowas wie Welpenschutz. Sie darf es nicht, oder jedenfalls darf sie es nicht ausleben. –  Wie kompliziert das ist, das erzähle ich. Und wie sehr wir eben doch in einem Körper leben, der uns in so einem Moment ganz schön im Weg stehen kann. –

Und ja, ich glaube, es ist notwendig, dass über die weibliche Sexualität und Psyche erzählt wird, da gilt es ein Ungleichgewicht aufzufüllen, und zum Glück tut sich da inzwischen auch einiges vor allem bei den jüngeren Autorinnen. Ich habe Mitte fünfzig werden müssen, bis ich mich traute, diese kleine, aber ich glaube sehr universelle weibliche Erfahrung mit der Sexualität zu erzählen, die Claire nicht mit Janis erlebt, sondern in Rückblenden erzählt und die sie dazu bringt, so zu handeln, wie sie dann schliesslich handelt. Dass sie am Ende nicht als glückliche Frau hinausgeht, oder aus dem Wald hereinkommt. Klar. Aber ohne dass wir den Schmerz spüren, verändern wir uns nicht. Vielleicht müssen das Frauen erzählen, weil Männer erst noch etwas mehr lernen müssen, den Schmerz zu spüren. 

Claire hat sich eingerichtet. Und mit einem Mal wird alles anders. Der Verstand lahmt, Ordnung zerbröselt, Verdrängtes bricht durch. In den meisten Fällen ist Literatur doch der sprachgewordene Versuch, die Vertreibung aus dem Paradies zu erklären.

Ja. So ist es. Ich weiss auch gar nicht, ob Claire wieder zurückfindet. Ich hoffe es aber, also ich wünsche ihr das sehr! 

Der Wald – männlich, der einzige von dem Claire sich noch umarmen lässt. Claire hat sich in ihrer materialisierten Angst eingerichtet, hat Schutzmechanismen aufgebaut. Sie scheint clever, souverän. Janis ist genau von dem schwer beeindruckt. Aber Janis, der in vielem dem offensichtlich Männlichen nicht entspricht, der Claire mit Verschüttetem konfrontiert, viel mehr auslöst, als „nur“ erotisch aufgeladene Gefühle, wird zu einem Schlüssel. Irgendwie scheinen wir doch in unserer perfekt organisierten Welt das wahrhaft Sinnliche aus den Augen verloren zu haben.

Ja, ich glaube das ist so. – Claire lebt ja ein gutes Leben, also sie hat sich entschieden, das sagt sie auch, dass sie das Alleine-Leben gut findet. Und dann kommt dieser Junge, Janis, und Erinnerungen brechen auf, nicht nur sexuelle und komplizierte, sondern auch an Menschen, mit denen es einmal Nähe und Wärme gab, und plötzlich sinkt dieses so gut eingerichtete Leben in sich zusammen: weil sie Sehnsüchte, Wünsche nach Nähe, nach Zugehörigkeit zu Menschen verdrängt hat. Sie hat sich im Reich der Natur eingerichtet: Aber sie ist eben kein Tier. Das muss ihr spätestens klar werden, als sie versucht, nicht ihrem Begehren, das auf Janis gerichtet ist, zu folgen. Im Reich der Natur gibt es anscheinend also nicht alles, was der Mensch braucht. 

Sie hätten Ihre Geschichte sehr leicht aufblasen können. Aber Sie bleiben vorsichtig, erzählen zärtlich. Auch die Nebenschauplätze erzählen sie behutsam und manchmal wenig ausgeleuchtet. Genauso die Geschichte um Nora, den Hund, einen Zugelaufenen. Dabei spiegelt sich Janis Geschichte doch auch in seiner.

Ja. Es gibt ja sehr viele Spiegel in diesem Text. Die Natur als Spiegel von Claire. Janis und Claire sind sich gegenseitig Spiegel. Claire sieht sich von der Hündin gespiegelt. Die Hündin, Nora und Fine, die Schwester von Janis sind auch Spiegelbilder. Und so weiter. – Ich wollte nichts aufblasen: ich wollte diese Menschen verstehen, die sich da begegnen, mit diesem Leben, das sie führen, mit dem Hintergrund den sie haben. Ich schreibe, weil ich mich für das Handeln von Menschen interessiere. Ich wollte diesen Ausschnitt aus derer beider Leben erzählen, diese Begegnung verstehen – auf dem Hintergrund; Das sind diese Menschen jetzt in diesem Augenblick, aber beide haben eben auch eine Geschichte, ein Vorleben. Das prägt sie und daraus lässt sich manches, was sie tun, verstehen, manches vielleicht auch nicht. 

Sandra Hoffmann, 1967 geboren, lebt als freie Schriftstellerin in München und in Niederbayern. Sie unterrichtet literarisches Schreiben unter anderem in Seminaren für das Literaturhaus München und an Universitäten. Sie schreibt für das Radio und Die Zeit. Für ihren Roman „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist“ (2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis und für ihren Roman „Paula“ (2017) den Hans-Fallada-Preis. Zuvor erschien ihr Roman „Das Leben spielt hier“.

Beitragsbild © Armin Kratzert

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck

Es wird auch an diesem Tag heiss in Berlin. Ruth Lember, angesehene Ethikprofessorin, auf dem Zenit ihres Berufslebens, läuft morgens ihre Runde. Bis ein Hund, ein Biss, ein Mann, ein Couvert sie aus der Bahn wirft. Was wie in Stein gemeisselt schien, zerbröselt. Ulrich Woelk schrieb mit „Mittsommertage“ einen Roman über unsere fiebrig aufgeladene Gegenwart.

Ruth ist in diesen Mittsommertagen durchaus in Festlaune. Da ist nicht nur ihre Berufung als Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ben, ihr Mann gewinnt einen Architekturwettbewerb, der Türen und Tore öffnen soll und Jenny, seine Tochter, die er mit in die Ehe brachte, studiert Kommunikation und scheint dort angekommen zu sein, wo sie schon immer hinwollte. Durchaus Glück angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, was man in der Pandemie durchzustehen hatte und was sich in der flimmernden Hitzeglocke über der Hauptstadt überdeutlich manifestiert. Ruth spürt genau, dass nichts so ist, wie es scheint, ob im Beruf oder ihrer Ehe, ob mit ihren Idealen oder der scheinbaren  Perfektion ihrer inszenierten Gegenwart.

Als sie in den noch frischen Morgenstunden auf ihrer Laufrunde dem Lietzensee entlang von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, kein schlimmer Biss, aber einer, der mehr als nur zwei kleine Wunden hinterlässt, scheint etwas förmlich angestochen zu sein. Ein jahrzehntelang ruhender Einschluss der Zeit, der sich wie ein aufgestochener Furunkel als Gift in ihrem Körper, ihrem Sein, ihrer Gegenwart verteilt. Was mit einem harmlos scheinenden Biss seinen Anfang nimmt, entzündet sich mehr und mehr, bricht auf, bis Ruth gezwungen ist, ihr Leben nicht bloss zu überdenken, sondern neu zu ordnen.

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck, 2023, 284 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-406-80652-0

Den Biss des Hundes bekommt Ruth nach anfänglichem Zögern mit Hilfe von Antibiotika in den Griff. Aber als zuerst bei einer Vorlesung ein älterer Mann im Hörsaal sitzt, den sie nicht einordnen kann und dieser ihr wenig später noch einmal in einer Strassenbahn schräg gegenübersitzt und schlussendlich an der Tür ihres Büros an der Uni klopft und wie ein Geist aus einer vergessenen Vergangenheit auftaucht, schwant Ruth, dass sich etwas ausbreitet, das zu einem Gift werden kann. Denn Ruth spürt, dass ihr Leben eine Dynamik angenommen hat, der sie kaum mehr etwas entgegenhalten kann. Aus den Idealen der Vergangenheit ist satte Zufriedenheit geworden. Aus der Liebe mit Ben ein gut inszeniertes Nebeneinander ohne Leidenschaft und Zärtlichkeiten. Aus der Gegenwart einer 55jährigen erfolgreichen Professorin ein Leben in Zwängen und Mechanismen.

Der Mann, der in ihrem Büro auftaucht, ist Stav. Als Ruth jung war, auf der Suche nach Antworten, als man sich gegen Atomkraft und die Macht der Konzerne auflehnte und nach Wegen suchte, sich dem Unausweichlichen entgegenzustellen, war Stav nicht nur ihr geheimer Freund und Liebhaber, sondern Kampfgenosse. Er sei wieder augetaucht, weil er ihr übergeben wolle, was von jenem Kampf übrig-, zurückgeblieben sei, ein Umschlag mit Fotos, Plänen und Bekennerschreiben, den Spuren eines Geheimnisses, das Ruth eigentlich begraben geglaubt hatte, einem Geheimnis, von dem niemand wusste, auch Ben ihr Mann nicht.

Was Klimaaktivisten zur Strategie erklären, war Ruth damals Programm. Was ihrer Ziehtochter Jenny als Notwendigkeit erscheint und einer ganzen Generation den Atem raubt, schlummerte wie eine hart gewordene Pustel unter der gepuderten Gegenwart von Erfolg und aufgesetzter Zufriedenheit. Es ist heiss über der Stadt, fiebrig heiss. Was sich unter Ruths Haut in ihrem ganzen Körper ausbreitet, ist ein Gift, das sie zu Fall bringen droht, das alles mit sich in die Tiefe reisst. Ruth wird aus ihrem Gravitationfeld katapultiert.

Ulrich Woelk beschreibt, wie sich das Gift langsam entfaltet, wie es den Stein, auf dem Ruth ihre Gegenwart einrichtete und ihre Zukunft sieht, zerbröselt. Und Ulrich Woelk stellt Fragen. Was macht echtes Leben aus? Stellen wir uns dem, was die Zeit von uns fordert, was in der Vergangenheit tief unter den Schichten des Vergessens und Verdrängens modert? Sind wir ehrlich, uns selbst gegenüber und all jenen, von denen wir behaupten, sie zu lieben? Ist das, was wir an Rebellion in jungen Jahren durchleben wie der Biss eines Hundes, den man mit „Antibiotika“ behandeln kann? „Mittsommertage“ ist der Versuch einer Diagnose einer Gegenwart, die in Schieflage geraten ist, von Menschen, die sich nur allzu gerne täuschen lassen wollen.

Interview

In ihrem Roman ist es der Biss eines Hundes. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber mit anderem kombiniert wird der Biss zu einem Teil einer fatalen Kettenreaktion. Viele von uns erleben solche Situationen. Und einer, der wie ich Jahrzehnte joggte, mit Hunden sowieso. Situationen, die eine Lawine auslösen. Lawinen, die alles verändern. Das eine verschütten, anderes freilegen. War ein Hund die Initialzündung zu Ihrem Roman?
Die Ursprünge der Idee zu dem Roman liegen in den Vor-Corona-Jahren 2018 und 2019, als sich Greta Thunbergs Fridays for Future-Bewegung schnell zu einem weltweiten Phänomen entwickelte. Ich musste dabei an meine Studentenzeit denken. Ich hatte in Tübingen in den Achtzigern eine Kabarettgruppe, und „global warming“, wie es damals hiess, und das Ozonloch waren Themen. Dass gut dreissig Jahre später Schüler und Studenten für das Klima auf die Strasse gingen, hat mich beschäftigt. Da wirft die junge Generation der älteren etwas vor, was diese gar nicht anders gesehen hat – jedenfalls in jenen Kreisen, die man seinerzeit mit den Begriffen Alternativkultur oder Ökoszene etikettiert hat. Und aus diesem Widerspruch ist dann so peu á peu die Idee zu „Mittsommertage“ hervorgegangen. Die Szene mit dem Hund entspringt aber tatsächlich meinen Erfahrungen als Gelegenheitswalker. Und irgendwann dachte ich, dass sie ein hervorragender Einstieg in die Geschichte ist, die ich erzählen wollte.

Ruth und Ben zusammen mit seiner Tochter Jenny entsprechen so ziemlich dem „Durchschnittsbild“ einer erfolgreichen, westeuropäischen Familie. Beide haben Karriere gemacht, das Familiengefüge das „Resultat“ mehrerer Beziehungen, man wähnt sich auf der sicheren Seite – bis Ereignisse, die nicht zu steuern sind das doch so filigrane Gefüge mehr als nur ins Wanken bringen. Haben wir auf Sicherheit und Reibungslosigkeit getrimmte Bewohner der „ersten Welt» nicht längst die Bodenhaftung verloren, den Sinn für das „Risiko Leben“?
In der Vor-Coronazeit hätte man das sicher sehr uneingeschränkt behaupten können. Aber die Ereignisse seither – die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftliche Unsicherheit – haben schon dazu beigetragen, bei vielen das Gefühl einer unberechenbaren Bedrohung durch äussere Umstände aufkommen zu lassen. Diese Themen bilden den Hintergrund der Romanhandlung im Sommer 2022. Das ist der Ausgangspunkt für Ruth, meine Protagonistin: Die Welt ist diffus instabiler geworden, und nur beim morgendlichen Joggen um den See „kann Ruth sich der Vorstellung hingeben, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, wie es gleich zu Beginn heisst. Und in diesem vermeintlich letzten sicheren Refugium passiert dann der Hundebiss, der eine für Ruth so fatale Kette von Ereignissen in Gang setzt.

Ruth hat eine Vergangenheit, die sie für sich beerdigte, von der nicht einmal Ben etwas wusste. Sie schleppt einen Teil ihres Lebens herum, der unter Verschluss hätte bleiben sollen. Eine Vergangenheit im „radikalen Widerstand“.  Ist dieser Hundebiss letztlich nicht ein Glück? Er beisst etwas auf.
So kann man das rückblickend natürlich sehen. Aber immerhin kommt Ruth nach dem Biss durch einen anaphylaktischen Schock beinahe ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mit der Verdrängung ihrer Vergangenheit recht gut, erfolgreich und glücklich leben – abgesehen vielleicht davon, was ja immer mal wieder an ihr nagt, dass sie kein eigenes leibliches Kind hat. Auch das ist eine Folge ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie Karriere als Philosophie-Professorin gemacht hat und zum Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen wird. Doch da sie sich mit der Tochter ihres Mannes sehr gut versteht, ist sie mit sich im Reinen. Jenny kommt mit Ruth in politischer Hinsicht sogar besser klar als mit ihrem Vater, der für Klimakleber und Gendersprache nicht besonders viel übrig hat. Dass dieses berufliche und familiäre Gefüge, in dem Ruth sich gut eingerichtet hat, am Ende einzustürzen droht – das ist für sie zunächst mal eine Katastrophe. Als Erzähler gewähre ich ihr am Schluss aber eine Art Lichtblick. In jedem Ende liegt ja auch ein Anfang, das stimmt. Doch ob von Ruths bisherigem Leben noch etwas zu retten ist, lasse ich bewusst offen.

Jenny ist jung und wie viele aus ihrer Generation sehr wohl aufgeschreckt durch die Klimaprotestaktionen in Städten und Ballungszentren. Ich glaube, sie spürt wie viele, dass es unmöglich sein kann, dass das Weltgeschehen ohne Kurswechsel an einer globalen Katastrophe vorbeischrammen kann. Warum traut sich Ruth nicht, ihren Panzer aus Sicherheit und Angst zu verlassen?
Es ist ja sehr menschlich, dass man versucht, an dem, was gut funktioniert hat, so lange wie möglich festzuhalten. Die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt, kommen für Ruth sehr schleichend. Sie spürt, dass ihrer Ehe allmählich der Schwung abhanden kommt. Als Jenny auszieht, ist das Leben mit Ben ungewohnt und nicht so frei, wie beide sich das vorgestellt haben. Es hat für sie als Paar nie eine Zeit ohne Jenny gegeben. Die äusseren Veränderungen stellen Ruths Leben aber nicht gleich auf den Kopf. Es gibt für sie einfach nicht den Punkt, alles radikal infrage zu stellen. Und dann kommt es in dieser Woche, von der ich erzähle, in wenigen Tagen zum Einsturz ihres Lebenssystems. Der Hundebiss ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Stav taucht auf. Der Mann aus der Vergangenheit. Eigentlich der perfekte Gegenentwurf zum Leben von Ruth und Ben. Selbst ich als Leser traute ihm zu Beginn alle möglichen bösen Absichten zu, weil er ausgerechnet in dem Moment, wo Ruth in den Fokus einer grossen Öffentlichkeit tritt, mit brisanten Zeugnissen aus der Vergangenheit auftaucht. War meine Lesereaktion eine von Ihnen „programmierte» Absicht
Als Autor war mir bewusst, dass Stav zu Beginn, da man seine Absichten noch nicht kennt, als ambivalente Person in Erscheinung tritt und sich damit ein Spannungsmoment verbindet. Es ist ein klassisches Motiv des Erzählens. „Der unheimliche Gast“ bei E.T.A. Hoffmann oder der Landbesitzer Pozzo in „Warten auf Godot“. Beim Lesen oder Zuschauen weiss man, diese Figuren bringen etwas in Bewegung – auch wenn diese Bewegung bei Beckett als einem Vertreter der Moderne komplett ins Leere läuft. Als Autor fühle ich mich dem Erzählen literarisch mehr verbunden als dem Formalen. Bestimmte Dinge werden immer unser Interesse wecken: Die Tür geht auf, und man fragt sich, wer hereinkommt? Da sieht man hin.

Sind wir eine Gesellschaft der Opportunisten geworden?
Ich denke, es hat zu allen Zeiten beides gegeben: Opportunismus und Überzeugungshandeln. Es ist sogar so, dass aus dem einen das andere hervorgehen kann. Die Umweltbewegung ist dafür auch ein Beispiel: Die Anfänge dieser Bewegung aus den Siebziger- und Achtzigerjahren waren eine von tiefen Überzeugungen getriebene Entwicklung. Mittlerweile – das jedenfalls ist mein Eindruck – sind eine Menge Opportunisten auf den Zug aufgesprungen. Es kostet nicht mehr viel, für Umwelt- und Klimapolitik einzutreten, es ist fast schon wohlfeil. Man hat den Eindruck, alle sind dafür, und trotzdem wird weiter Auto gefahren, ungebremst konsumiert und in den Urlaub geflogen. Das schürt Frustrationen, Ärger und Ängste.
Eines kann man aber sagen: Ruth ist sich dieser Problematik bewusst. Es ist ihr wichtig, ihre Handlungen und Überzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht auch längst einem opportunistischen Prinzip folgen. Dass sie sich immer wieder auch in Frage stellt, verbindet mich als Autor mit ihr. Am Ende gesteht sie sich ein, dass sie zu dem Stehen muss, was ihr widerfahren ist. Sie schiebt die Schuld nicht anderen in die Schuhe. Als Autor muss ich immer auch ein Teil meiner Figuren sein, ich muss sie in mir aufspüren können. Und das ist bei Ruth so.

Ulrich Woelk (1960) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte Physik und Philosophie. Sein erster Roman «Freigang» erschien 1990. Zuletzt veröffentlichte er mit großem Erfolg den Roman «Der Sommer meiner Mutter«, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für die Fertigstellung von «Für ein Leben» erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis.

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bettina Keller

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat

Anna Ospelt ist eine Meisterin der Miniatur. Sie malt mit scheinbar schnellem Strich Bilder, die sich einbrennen und hängen bleiben, öffnet Türen und grosse Fenster, die Verborgenes, Vergessenes, Verlorenes zeigen. Sie schreibt Bilder, die die Kraft des ganz Grossen bergen.

Anna Ospelts zweites Buch nach „Wurzelstudien“, mit dem sie sich mit ihrer Herkunft beschäftigte, eine lyrische Selbstbetrachtung durch die Natur, das Sichtbare hindurch ins Unsichtbare, die Erinnerung, jenem Wurzelgefüge, das das Woher beschreibt, legt die Dichterin mit „Frühe Pflanzungen“ eine eigentliche Fortsetzung vor. Wieder spielt die Natur, spielen Pflanzen, das Leben um sie herum eine wichtige Rolle. Aber in ihrem neusten Buch richtet sich der Blick noch mehr gegen innen. Weil da ein neues Leben wächst, weil ein Leben zu pulsen beginnt, das eine Mutter in einen ganz neuen Zusammenhang verwebt. Weil die Mutter spürt, wie verletzlich diese Zweisamkeit ist.

Ich sticke auf dem Stoff meiner Grossmutter, mit dem Faden meiner Mutter.

Ich bin ein Mann. Und vielleicht trifft mich dieses Buch gerade deshalb auf eine eigenartig empfindliche Weise. Mutterschaft und Vaterschaft unterscheiden sich diametral. Ich kann als werdender Vater ein Dutzend Bücher über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft lesen. Ich kann unsäglich viele Dokus schauen. Ich bleibe aussen vor. Diese Erfahrung der Weltverbundenheit streife ich bloss. Ich bin Begleiter, Mittragender, Verbündeter. Meine Rolle als Vater ist nicht jene des Werdenden. Ich muss meine Rolle erobern, mich darum bemühen. Vielleicht ist die Lektüre von Anna Ospelts Buch deshalb so bewegend, weil mir dieser literarische Zugang zum Mutterwerden und Muttersein einen Blick eröffnet, der mir als Begleiter, Mittragender, Verbündeter sonst in dieser Intensität verborgen bleibt.

Es fehlt mir an Selbstsicherheit. Diese Frau mit dem Kind muss ich erst kennenlernen. Sie wurde ja gerade erst Mutter.

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat, 2023, 96 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-052-2

Anna Ospelts Miniaturen sind das Hineinhören selbst. Aber kein verklärtes, kein erklärendes oder wertendes und schon gar kein klagendes, auch wenn man sehr wohl spürt, wie viel Kraft und Zeit absorbiert wird, wie schwer es sein und werden kann, wenn frau sich im Alltag die Momente abstehlen muss, in denen sie sich Zeit gibt, das zu dokumentieren, festzuhalten, was als beschreibende, zeichnende, malende Stimme nach Form sucht.

Heuer ist kein Eicheljahr.
Und doch eines in Erzählkapseln.

In „Frühe Pflanzungen“ schreibt Anna Ospelt auch von „Wasserkindern“. Von Fehlgeburten, einem eigentlichen Unwort, denn nichts an solchen Kindern ist Fehler, gefehlt oder verfehlt. Der japanische Ausdruck für Fehlgeburten beschreibt „Kreaturen, die nie den ersten Ozean verlassen“. Anna Ospelt lauscht jenen Ungeborenen, „Nicht-werden-wollenden“, lauscht dem Schmerz der Machtlosen. Verknüpft mit Pflanzen- und Naturbetrachtungen schreibt Anna Ospelt in Bildern, die bei mir als Leser Verbindungen provozieren, die mich mit einer ganz eigenen Art des Sehens, Fühlens, Spürens konfrontieren.

Sehe wunden Wald.
In den Himmel gebäumtes Wurzelwerk.

Vielleicht müsste man sich jeweils zwei dieser Bücher kaufen. Eines, das ich lese und eines, das ich in Schnipsel zerreise, die ich überall dort hinterlasse, wo mich das Bleiben zum Denken zwingt. Anna Ospelts Notate verbergen hinter Banalem Hallräume. Viele dieser Miniaturen sind Auseinandersetzungen, solche mit dem Ich, mit einem wachsenden Du, mit der Zeit, mit Herangetragenem, Aufgeschnapptem, Mitgenommenen. 

Interview

Momentan liest man viel über Mutterschaft, Familie, das Nebeneinander von Elternschaft und künstlerischer Arbeit. Verweise über ihre Lektüre solcher Bücher in ihrem eigenen Buch gibt es manche. Und doch ist ihr Zugang zu diesem Thema ein geanz anderer. Sie fächern nicht auf, zerlegen nicht, breiten nicht aus. Sie konzentrieren, fokussieren. Vordergründig scheint ihre Art des Schreibens auch ein situationsbedingter Zwang zu sein. Gleichzeitig aber auch eine ganz eigene Art des Sehens, Spürens und Fühlens. Wie tauchen solche Miniaturen aus dem Einerlei des Alltags auf?

Sie tauchen leider nicht einfach so auf. Das weiss ich, da sie, die Miniaturen allzuoft untertauchen (und mit ihnen die Sprache). In den letzten rund vier Monaten habe ich zB. nicht geschrieben, mir haben der Schreibanlass, der Rahmen, der aufgeräumte Raum, die fokussierte Zeit gefehlt. Nun hab ich wieder eine Richtung eingeschlagen und versuche, täglich zu schreiben. Seit ein paar Tagen rollt es wieder, aber davor musste ich die Buchstaben regelrecht am Nacken packen und sie haben sich nur gesträubt, sodass ich sie erstmal sein liess. 

Aber zurück zur Frage: Damals, als ich den Stoff des Buchs schrieb, habe ich mehr oder weniger täglich geschrieben. In der Schwangerschaft versuchte ich, ein tägliches Haiku zu verfassen. Danach, im Wochenbett, habe ich schlicht notiert. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich täglich, bereits zwei Tage nach der Geburt. (ja, dort wahrscheinlich etwas zwanghaft, aber ein sehr wohltuender Zwang, es war mein Zugang zu der denkenden Anna, deren Körper im Moment hauptsächlich gefragt war.) 

Und nach dem Wochenbett schrieb ich wieder öfters Elfchen. Die Haiku haben da nicht mehr so gut gepasst, waren zu streng in ihrer Form. Da kleine Babys öfters am Tag ein kurzes Schläfchen machen, war das eigentlich der ideale Rahmen zum Schreiben. (nicht nur, natürlich, aber oft) Du spazierst, das Kind schläft ein, du zückst dein Lesebuch oder Notizbuch, wenn das Kind aufwacht, spazierst du wieder heim (es war in meinem Fall ein sehr milder Frühling, ein schöner Sommer).

Wir katologisieren und schubladisieren dauernd. Vielleicht rührt meine Betroffenheit bei der Lektüre Ihres Buches auch darin, dass ich mich als Mann mitgenommen und für einmal nicht getadelt fühle. Öffnen Sie bewusst? Wollen Sie es?

Spontan dachte ich: darüber habe ich mir nicht gross Gedanken gemacht.
Das stimmt allerdings nicht, im Nachhinein wirkt alles so leicht und man vergisst die Arbeit am Text, das Sitzleder, das er erfordert, eingefordert hat. 
Aber tatsächlich: über Männer habe ich gar nicht soooo viel nachgedacht. ☺ Es hätte den Rahmen des Buchs gesprengt, wäre wohl ein Thema für sich. 
Wo ich sehr vorsichtig war, war bei folgendem Thema: Es passiert oft, dass man andere, insbesondere Eltern von gleichaltrigen Kindern, «schubladisiert», sich automatisch mit ihnen vergleicht und vorschnell wertet. Das tue ich genauso wie jeder und jede andere, wenngleich ich versuche zu reflektieren. 
Im Text habe ich das besonders in Bezug auf Mütter versucht aktiv zu vermeiden. Im Text soll sich jede und jeder aufgehoben fühlen, egal, wie man seinen Alltag in Bezug auf Rollenbild, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung etc gestaltet. In unserer Gesellschaft wird da oft zu eindimensional gedacht und man wird als junge Eltern sowieso andauernd in Frage gestellt (nicht zuletzt von sich selbst) – das wollte ich nicht auch noch tun. 

Ich beschäftige mich derzeit, beginnend erst, mit Fragen zum Thema Zeit. Zeit im Gegensatz zur Geschwindigkeit und finde diese Frage sehr politisch, auch im Zusammenhang mit Care-Arbeit, über die Elternschaft hinaus. (Care Arbeit für Mitmenschen, Care Arbeit für die Umwelt usw.)
Ich habe also nicht gegen Männer angeschrieben, sondern gegen das Idealbild der sich aufopfernden Mutter. Das in unserer Gesellschaft konstant reproduziert wird. Und gegen gesellschaftliche Strukturen, die uns alle, ob Eltern oder nicht, viel zu sehr stressen. Wie Zitronen auspressen. 

Ihre Miniaturen erinnern an Aphorismen, eine literarische Gattung, die kaum mehr eine Rolle spielt. Viele ihrer Notate würden selbst isoliert und aus dem Zusammenhang genommen Wirkung erzeugen. Überprüfen Sie die „Wirksamkeit»?

Da viele der Notate ursprünglich Haiku oder Elfchen waren, macht ihr Eindruck viel Sinn. Viele der Notate sind in die Länge gezogene Kürzestgedichte, zu Sätzen zurückgeformte Gedichte, die mal für sich standen und in einem zweiten Schritt erst Teil von etwas Grösserem wurden. 
(Ich hatte nie vor, ein Buch zu machen. Auch wenn es kokett klingt, habe ich erstmal einfach nur geschrieben, dem Schreiben zuliebe. Das Buch als Buch hat sich, als ich meine Notizbücher durchging, regelrecht aufgedrängt.) 

„Frühe Pflanzungen» ist eine sehr sinnliche Auseinandersetzung mit Mutterwerden und Muttersein, diesem langsamen Hineinwachsen in einen „anderen» Zustand. Ist Ihr Buch eine Art Selbstbefragung?

Ich finde es interessant, durch das Schreiben meine Welt für mich lesbar zu machen. Sie zu übersetzen, mich zu übersetzen. 

Muss ich mir Anna Ospelt mit einem Kinderwagen oder Tragetuch vorstellen, wie sie irgendo auf weitem Feld oder mitten im Wald stehenbleibt, ihr Notizheft zückt, eine Weile am Stift «kaut» und dann festhält, was ihr zufliegt?

Ja tatsächlich, allerdings habe ich nicht am Bleistift gekaut ☺ Ich hatte in diesem ersten Jahr mit Kind, in dem ich täglich stundenlang spaziert bin, immer die Schreibsachen dabei und habe Notizen gemacht, sobald die Kleine eingeschlafen ist. Ihre Schläfchen (im ersten Jahr gibt es ja viele davon, kurze) waren meine Schreib- und Lesezeit. 
Übrigens hat meine «Freundin aus Ankara» (die im Text auch vorkommt) beobachtet, als sie im Herbst bei uns war und meine Tochter ihre ersten Wörter sprach, dass sie bei jedem Buch, das sie sieht, «Mama» sagt. Sie ist wohl hunderte Mal aufgewacht und hat als erstes ihre Mutter mit Buch gesehen.
 

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Sie publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für «Wurzelstudien» erhielt sie u. a. ein Stipendium der Stiftung Kunst + Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. «Frühe Planzung» ist derzeit für den Europäischen Literaturpreis EUPL nominiert. Anna Ospelt lebt in Vaduz.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Berni Mayer «Das vorläufige Ende der Zeit», DuMont

Frankfurt an der Oder liegt an der Grenze zu Polen. Horatio Beeltz hatte vorgehabt, von Berlin bis ans Kaspische Meer zu wandern. Aber hängen geblieben ist er auf einem Friedhof direkt an der Grenze zu Polen. Jenes Frankfurt oder besser der Friedhof in Słubice wird zu einem rätselhaften Tor in eine fremde Dimension. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist das gewagte literarische Aufbrechen eines Gravitationsfeldes.

Horatio Beeltz, Verleger und Mitglied einer geheimwissenschaftlichen Gruppe, einer kosmologischen Vereinigung, in die Jahre gekommen und ruhelos. In seinen Studien um das Wesen der Zeit, weiss Horatio Beeltz, dass Zeit kein fliessendes Kontinuum ist von Vergangenheiten, Gegenwart in die Zukunft. Und als er unweit von Frankfurt an der Oder an einem alten, vergessenen Friedhof vorbeikommt, in dem ein Grossteil mit jüdischen Grabsteinen verwildert und verwachsen vor sich hinkrautet, steigt er hinein, weil er einem Geruch folgt, ein bisschen nach Zitrone und ein wenig nach kandierten Walnüssen, ein Geruch, der ihn ahnen lässt. Zwischen schrägen Steinen findet Beeltz einen Riss, einen Riss in der Zeit, ein Ort, an dem die Zeit verletzt worden ist.

Der jüdische Friedhof in Słubice war bis zum zweiten Weltkrieg einer der grössten. Nach dem Massaker wurde er weitgehend vergessen, verwilderte mehr und mehr und wurde gar als Bauplatz für ein Hotel und späteres Bordell genutzt. Aber mittlerweile interessiert sich nicht nur die jüdische Gemeinschaft wieder für den Friedhof, sondern auch die Wissenschaft. So wird die noch junge Archäologin Mi-Ra nach Słubice geschickt, um diesen zu erforschen und begegnet dort nicht nur dem verschrobenen Horation Beeltz, sondern auch dem Friedhofswärter Artur, der sich als ehemaliger Leistungsschwimmer mehr auf diesem Friedhof versteckt, als dass diese Arbeit sein Ziel gewesen wäre. Mi-Ra und Artur sind Versehrte. Mi-Ra Kim, mit koreanischer Migrationsgeschichte, ist aus einer Familie, die ohne ihr Kind flüchtete, aus einer Ehe, die mehr und mehr in Schieflage geraten war und einer Kindheit, die alles zu verlieren drohte – und Artur Arkadiusz in seiner Trauer um seine kleine Tochter, die eine tödliche Krankheit dahingerafft hatte, von seinen Schuldgefühlen, etwas versäumt, nicht getan zu haben.

Berni Mayer «Das vorläufige Ende der Zeit», DuMont, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8321-8184-0

So treffen sich drei Verlorene in einem verwaldeten Friedhof und Horatio Beeltz verspricht den beiden, mittels psychodelischer Substanzen eine gewisse Zeit den Zwängen der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können, eine Chance zu erhalten, in der Vergangenheit etwas anzustossen, mit dem zurück in der Gegenwart in der Zukunft etwas anders werden könnte. Doch man kann nur eine begrenzte Zeit unter Wasser bleiben, bis einem die Luft ausgeht. Bis man wieder nach oben in den lauten Teil der Existenz gezogen wird. Mi-Ra und Artur lassen sich überreden und landen tatsächlich in einer Art Trancezustand in Vergangenheiten, die sich wie reales Leben anfühlen. Sie machen mit, weil sie beide nichts zu verlieren haben, weil sie beide jenen Teil ihres Lebens verloren haben, für den sie lange Zeit alles gegeben hätten. Beiden sitzt ein Trauma im Nacken.

Zeitreisen à la Hollywood interessieren Berni Mayer nicht. Aber der Autor weiss, dass das, was wir als naturgegebene Einbettung erfahren, menschliche Wahrnehmung ist. Eine, die trainiert und als solche längst zur unumstösslichen Wahrheit geworden ist. Obwohl wir seit Einstein und anderen WissenschaflerInnen wissen, dass Zeit kein gleichmässig fliessender Strom ist, dass wir mittels Erinnerungen und Trancezuständen sehr wohl in der Lage sind, die Gesetzmässigkeiten der Zeit auszuhebeln, trauen sich nur wenige an ein Gedanken- und Handlungsexperiment wie Berni Mayer. Es entwickelt sich zwischen den dreien ein angespanntes Hinundher zwischen Hoffnung und Ernüchterung, zwischen Angst und Erwartung.

„Das vorläufige Ende der Zeit“ geht als Roman weit über die Frage hinaus, was man hätte anders entscheiden können. Im Roman wird gezeigt, was Schuld anrichten, wie sehr Schuld sich zu einem Berg auftürmen kann, der sich mit grösster Willenskraft nicht entfernen lässt. Einzig vielleicht durch ein Anschupsen in der Zeitachse. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist mutig!

Interview

In Filmen sind Zeitreisen kein seltenes Motiv, auch in Kinder- und Jugendromanen. Aber in der Belletristik, für ein „anspruchsvolleres“ Publikum, scheint man sich vor dieser Thematik förmlich zu hüten, obwohl sich die Wissenschaft schon genüsslich mit unseren allzu fixen Vorstellungen auseinandersetzte. Warum diese Zurückhaltung?
Ich vermute, Verlage, Vertriebe, Buchhandlungen und vor allem das Publikum denkt in literarischen Kategorien und möchte bitte nicht verwirrt werden. Es möchte seine Autofiktion oder seine Fantasy. Bitte nicht beides vermischen. Ich erinnere mich, dass mein alter Lektor (whom I truly love) mir aus „Rosalie“ mal eine längere Passage mit der Anmerkung gestrichen hat, die Leser würden von magischem Realismus an dieser Stelle aus dem Gleis geworfen. Das hab ich mir gemerkt und mich jetzt gerächt. Nein, Spass. Ich wollte beweisen, dass das eben schon zusammengeht. In TV-Serien (v.a. englischsprachigen) finden sich ja auch ständig wilde Genremixes und doch haben die Charaktere Tiefe und Geschichte und berühren einen ganz arg. Und dann kommt trotzdem ein UFO. So ist halt Geschichtenerzählen, so ist Literatur: es ist ein Erfinden und gleichzeitiges Verankern in der Realität. Das ist ja auch die Kunst und die möchte ich neben so vielen anderen Spielarten des Schreibens gut beherrschen.


Ihre drei ProtagonistInnen sind Versehrte. Alle tragen Verletzungen und Vernarbungen mit sich herum, wir auch. Literatur ohne dieses Forschen nach Wunden und ihren Ursachen ist undenkbar. Etwas Urmenschliches. Und trotzdem ist da die Vorstellung, in der Zeit zu beeinflussen, der Wunsch, etwas ungeschehen machen zu können. Die Flucht in Drogen und Süchte könnte bestimmt auch als eine Form der Erleichterung gesehen werden. Stehen wir seit den Errungenschaften der Psychologie unter dem Zwang einer permanten Selbstauseinandersetzung?
Auf keinen Fall. Vieles ist nur Verschlagwortung und Lifestyle und erreicht nur eine gewisse intellektuelle Bubble. Wenn wir unter einem Zwang der permanenten Selbstauseinandersetzung stünden, sähe die Welt nicht so aus, wie sie aussieht. Ich finde, die Leute könnnen sich ruhig noch viel mehr mit sich auseinandersetzen … mit einem gewaltigen Addendum: Am Ende der Auseinandersetzung und Optimierung, am Ende der Selbstheilung, oder am besten schon im Prozess, muss die Empathie stehen und im Idealfall der Altruismus. Sonst haste am Ende einen reflektierten Rassisten oder einen noch viel konsequenteren Demagogen … und da hat ja auch keiner was davon. Ich persönlich gebe mir alle Mühe, bei aller Rotation um mich und meine Psyche, nicht aus den Augen zu verlieren, wie es den anderen geht. Ob das gelingt, müssen natürlich die beurteilen. Ich bin aber immer wieder verwundert, wie selbst Leute vom Selbstauseinandersetzungsfach – Buddhist:innen, Psycholog:innen, Coach:innen, Priester:innen etc – spektakulär daran scheitern, eine kritische Distanz zu sich zu finden. Insofern gerne noch mehr Selbstauseinandersetzung.

Friedhöfe sind Grenzorte. Es gäbe keinen besseren Platz für einen Riss, einen Riss in der Zeit. Es gibt an vielen Orten ganz besondere Friedhöfe. Ich erinnere mich an einen in der Bretagne mit Sicht aufs Meer. Und trotzdem sind viele westeuropäische Friedhöfe weit weg von einem Nekropolis, viel mehr Orte überbordender Reglemente. Entfernen wir uns vom Tod, dem Sterben genauso wie von den Vorstellungen durchbrochener Zeit?
Nein, ich denke nicht. Ästhetisch integrieren wir das immer mehr, es gibt zig Bücher über Trauer und Tod, alternative Beerdigungsfirmen schiessen aus dem Boden (pun intended) und auch die Populär-Psychologie greift aktiver in diese Diskussion mit ein. Ich vermute aber, dass auch das letztlich ein Versuch ist, sich den Tod vom Leib zu halten, indem man ihn stilisiert. Das macht die Menschheit via Glaube, Literatur und Kunst ja eh seit Jahrtausenden. Wenn er dann aber passiert, bleibt er welterschütternd. Insgesamt würde ich aber mutmassen, wir integrieren den Tod gerade ein bisschen mehr in unseren Alltag, in unserer Ästhetik und das ist ja nichts Schlechtes. Wie es andere Länder aber auch schon viel länger viel besser machen. Siehe z.B. den mexikanischen Feiertag Día de los Muertos. Doch selbst in Mexiko tut’s genauso weh, wenn ein geliebter Mensch stirbt, nehme ich an. Über die deutsche Friedhofskultur an sich kann ich wenig sagen, ich vermute jedoch, da hat sich wenig geändert in den letzten Jahren. Meine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, seitdem verbringe ich viel Zeit auf einem wunderschönen alten Friedhof in Berlin Mitte. Für mich ist das ein Rastplatz, ein Garten und ein Erinnerungsort, ich bin da sehr gerne und fühle mich wohl in Gesellschaft der vielen toten Menschen. Dieser Friedhof hat aber auch was Wildes und Altes. Wenn ich dagegen an das Grab meiner Grosseltern auf dem katholischen Friedhof meines Heimatorts denke, überkommt mich ein eher klaustrophobisches Gefühl. Läge ich dort begraben, käme ich mir vor wie in einer Kleingartenkolonie. Und ich habe grosse Angst vor Kleingartenkolonien.

An der Figur Horatio Beeltz ist alles antiquiert, nicht nur der Name. Er ist eine Figur, die aus der Zeit gefallen ist, eine Figur, der wir mit Befremden begegnen würden, würde sie sich im Zug neben uns setzen. Ihnen gegenüber sind Mi-Ra und Artur ganz in der Gegenwart verankert, Archätypen der Neuzeit. Lieben Sie Gegensätze?
Klar lieb ich die Gegensätze. Welche(r) Autor:in tut das nicht? Mit Horatio Beeltz wollte ich den ultimativen alten weissen Mann besetzen, aber weil mir das als Kategorie natürlich viel zu flach ist, hab ich aus ihm eine Art unsterblichen Vincent Price gemacht, mit einem obsessiven Hang zu Romantik, Rhetorik und dem Besiegen der Zeit. Verliebt bin ich natürlich trotzdem unsterblich in Mi-Ra.

Die Einsichten der Quantenphysik sind auch ein esotherisches Tummelfeld. Unglaublich, wer und was sich alles darauf bezieht. Ich bin neugierig, ob Ihnen bei einer Lesung dereinst einmal eine Besucherin oder ein Besucher erklären wird, dass man bei diesem Thema doch noch viel mehr hätte lernen und folgern müssen. Wie weit erfahren Sie Quantenphysik als Büchse der Pandora?
Wäre mein Buch ein heftiger Bestseller, bekäme ich vermutlich öfter eins auf den Deckel von Quantenphsyik-Fanclubs und Wissenschaftler:innen, die meinen eklektischen und anarchischen Umgang damit kritisieren. Aber sorglos war ich mit dem Thema nicht, ich habe mir eine Menge angelesen und Ansätze weitergedacht. Bin sogar selbst mit Fragen zu Raum und Zeit auf einen intensiven Pilztrip gegangen und schlauer wieder herausgekommen. Wobei das natürlich viele Leute denken, die auf Pilztrips waren. Am Ende gilt für alle meine Unternehmungen aber auch so ein bisschen: ich hab in dem Buch das gemacht, worauf ich Lust hatte. Wie gesagt, meine kleine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, ich dachte einfach: I don’t give a fuck, was jemand von mir erwartet oder über Zeitreisen denkt … ich schreib jetzt genau das Buch, das ich schreiben will, das ich auch selbst gerne lesen würde. Fuck you, Erwartungshaltung und Erfolgsdruck. Und jetzt ist es eh zu spät, das zu bereuen. 

Berni Mayer, geboren 1974 Mallersdorf, Bayern, war Chefredakteur bei MTV und VIVA online. 2012 – 2014 erschien bei Heyne die «Mandel-Trilogie» über die musikjournalistischen Privatdetektive Sigi Singer und Max Mandel, 2016 «Rosalie» beim Dumont, ein düster-romantischer Coming-of-Age-Roman in den 1980ern und 2019 dann mit «Ein gemachter Mann», ein Campusroman über einen wehleidigen jungen Mann und die weniger wehleidigen Frauen in seinem Leben. Mayer arbeitet als freiberuflicher Autor, Journalist, Moderator, Übersetzer & Podcast-Produzent in Berlin.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Birte Filmer

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Mathijs Deen «Der Taucher», Mare

Vor den Nordseeinsel Amrum stösst das niederländische Bergungsschiff Freyra zufällig auf ein Wrack. Aber bei ersten Tauchgängen eines Roboters findet man nicht nur die auseinandergebrochene Hanne, sondern auch einen ertrunkenen, an die Reling gefesselten Taucher. Kommissar Liewe Cupido taucht!

Das Meer, so weit das Auge reicht. Manchmal ruhig, manchmal wild. Was an seiner Oberfläche rein und unberührt erscheint, birgt an seinem Grund einen Teppich aus Zeugnissen der Vergangenheit: Versenktes, Untergegangenes, Verlorenes, Entsorgtes, Vergessenes. Dass es Schätze zu bergen gibt, wissen wir. Dass sich Unternehmen auf die Bergung solcher Schätze spezialisieren und man sich mit Argwohn beobachtet, ist leicht nachvollziehbar. Jan Matz ist ein solcher, einer, dem seine Tauchgänge längst zur Obsession geworden sind, der in seinem Haus in der Küste, das von seiner Frau und seinen beiden Söhnen längst verlassen wurde, all die Dinge sammelt, die als Spuren auf dem Grund der See liegengeblieben sind. Einer, der vor der Insel Amrum den Kutter Hanne gefunden hat, mit Kupferplatten im Wert von einer Million. Aber wie soll ein Mann allein die tonnenschwere Fracht bergen und möglichst unerkannt an Land bringen?

Jan Matz schafft es nicht. Ganz im Gegenteil. Zufällig findet man ihn in seinem Taucheranzug, mit einer Handschelle an die Reeling der versunkenen Hanne gefesselt, den Schlüssel in Sichtweite für ihn nicht erreichbar, jämmerlich ertrunken. Man findet auch sein Schiff, gekentert und gerammt, weit weg von der Hanne, nimmt Ermittlungen auf, um festzustellen, dass Jan Matz ein Leben hinterliess, das längst in Schieflage geraten war. Eine Exfrau, die nichts mehr mit ihm zu tun haben will, ein älterer Sohn, der immer und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt, einen Mitschüler halbtot geschlagen hatte und einen jüngeren Sohn, der in seiner ganz eigenen Welt abgesunken ist.

Mathijs Deen «Der Taucher», Mare, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-86648-701-7

Die Ermittlungen im Fall Jan Matz übernimmt Kommissar Liewe Cupido, gebürtiger Deutscher, der aber auf der niederländischen Insel Texel aufgewachsen ist. Man nennt ihn deshalb den „Holländer“. Liewe hat etwas von einem einsamen Seebären, so wie Jan Matz, der tote Taucher. Beide arbeiten lieber für sich alleine, sind nur dann gegen ihren Willen Teamplayer, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Liewe Cupido einziger Begleiter ist sein Hund Vos, den er (fast) überall mitnimmt. Liewe nimmt Spuren auf. Tauchte Jan Matz allein, obwohl es Wochen gedauert hätte, bis das Kupfer geborgen worden wäre? Hat ihm sein Sohn geholfen, für den er immer wieder Alibis für all die krummen Dinger lieferte, mit denen er die Polizei auf Trab hällt? Liewe prallt auf eine Wand des Schweigens, findet aber auch Verbindungen zu einer Tat viel früher, jener verhängnisvollen Begegnung, die einen Jungen für den Rest seines Lebens ins Spital bringen sollte, zu einer Familie, die nicht erst mit jener Tat aus dem Tritt geworfen wurde. Liewe beisst sich fest, denn ein erfahrener Taucher lässt sich nicht so leicht in den Tiefen an eine Reeling fesseln.

Was die Qualitäten des Romans ausmacht, ist weder der Plot noch die kriminalistische Raffinesse. Mathijs Deen erzählt unaufgeregt von Menschen, die in den Stürmen des Schicksals vom Kurs abkommen. Jan Matz, der zum gefährdeten Eigenbrötler wird, sein Sohn, den eine Dummheit aus der Bahn wirft, eine Familie, die sich aus der Opferrolle zu winden versucht und der Ermittler selbst, der längst zu einem Exoplaneten geworden ist, der ausserhalb aller gewohnten Bahnen seine Kreise zieht. Es sind alles mehr oder weniger Gezeichnete, weder Helden noch Bösewichte. Mathijs Deen schafft es, dass ich als Leser für alle Sympathien hege, weil für alle Verständnis wächst.

In „Der Taucher“ wird weder die Tat, noch die dafür aufgewendete Gewalt zelebriert. Kein Pathos und kein Sieg über das Böse bringt die Geschichte zu einem Schluss, von Auflösung kann keine Rede sein. „Der Taucher“ ist ein Roman, der in die Tiefen der menschlichen Seele abtaucht, ein Roman, der beweist, wie viel Schicksal in den Teifen verborgen bleibt. Und „Der Taucher“ ist ein maritimer Roman, der eine salzige Brise in die Lektüre weht, weil Mathijs Deen seine Küste nicht nur zur Kulisse macht. Er nimmt mich mit. Ich tauche mit ihm ein.

Schon 2019 überzeugte mich Mathijs Deen mit seinem Roman „Unter den Menschen“, weil er es wie nur wenige andere schafft, sich in die Leben verlorener Seelen hineinzuschreiben. „Der Taucher“ mit der Genrebezeichnung Krimi zu ettiketieren, wird dem Roman in keiner Weise gerecht. 

Mathijs Deen auf der Insel Föhr

Interview

Du erzählst von Menschen, die in ihrem Leben vom Wind in eine Richtung getrieben wurden, die ihnen das Ruder genommen hat. Auch Dein Ermitter ist weder Held noch Genie. Hinter ihm verbirgt sich eine Geschichte, eine Geschichte, die nur zaghaft zum Vorschein kommt. Sparst Du so für weitere Bücher?
Da mein Hamburger Verlag möchte, dass ich mehrere Bände schreibe, brauche ich tatsächlich eine Geschichte, die über die einzelnen Teile hinausgeht.  
Für mich ist das Schreiben über Liewe Cupido auch ein Versuch, ihn zu verstehen, zu ihm durchzudringen. Das ist in seinem Fall nicht einfach. Er ist ein verschlossener Mensch, und selbst für mich ist es nicht einfach herauszufinden, was ihn antreibt oder was ihm passiert ist.
Trotzdem denke ich gelegentlich voraus. Im ersten Teil habe ich ihm eine dramatische Kindheitserinnerung und einen Hund gegeben. Damit schaffe ich Möglichkeiten, die ich in weiteren Teilen ausnutzen kann. Der Hund führt ihn z. B. zu Miriam. Und wer weiss wo Miriam ihn führt.

Auszug aus dem Schiffstagebuch des deutschen Fischdampfers «Rotersand» vom 17. September 1950

Ganz offensichtlich ist Dir die Welt der Seeleute alles andere als fremd, denn nichts an Deiner Geschichte riecht nach Recherche.
Sicherlich habe ich ein paar Dinge recherchiert. Ich habe mit Tauchern, Fischern, Seeleuten und anderen Inselbewohnern gesprochen. Diese Gespräche habe ich fast alle in das Buch verwoben. 
Ausserdem habe ich das Manuskript von einem Wracktaucher lesen lassen, damit er mich vor Fehlern bewahren könnte. Ich bin selber kein Taucher, genauso wenig wie ich ein Extrem-Wattwanderer bin. Aber ich habe Leute interviewt, die es sind, und ihre Geschichten dankbar verwendet.
Und ja, ich kenne das Meer bis zu einem gewissen Grad. Mein Schwiegervater war Kapitän zur See, meine Frau und ich leben mehrere Tage in der Woche auf der Insel Texel und ich bin selbst einige Male auf dem Meer gesegelt.

Wrackteile vor dem Clubhaus «Duikclub Costa Rica»

Liewe Cupido wird mit seiner eigenen Geschichte konfroniert. Eine Situation, die wir kennen; Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Stück Vergangenheit auf. Ein Gegenstand, ein Bild. Krimis sind vordergründig Entschlüsselungsgeschichten – aber eigentlich doch alle Geschichten, die erzählt oder geschrieben werden. Tauchst Du selbst? Und ist nicht das ein Reiz des Tauchens, an jenen Zeugen der Vergangenheit in der Stille des Meeres vorbeizutauchen? Ist meine Sicht verklärt?
Ich weiss von Tauchern, dass es eine Reise ist, zwar nicht in Outer Space, aber doch in eine andere Welt, die sich anders anfühlt, eine Welt der Stille und Schwerelosigkeit. Tauchen ist Schweben, Tauchen ist Fliegen. Es ist keine Reise in Outer Space, sondern in Inner Space.
Es ist eine Welt losgelöst von der Geschichte, weil sie zeitlos ist, und andere Naturgesetze wirksam sind. In so eine Umgebung ist ein Wrack wie ein Fremdkörper, wie eine vom Himmel herabgestiegene Geschichte, ein Relikt der Zeit in einem zeitlosen Universum. Ein Wrack ist eine ausgelöschte Geschichte. Das Meer rückt alles ins rechte Licht.

aus den Schrank von Wracktaucher Jan Matz

Ist das Muster eines solchen Romans schon zu Beginn gezeichnet, zäumst Du das Pferd von hinten oder lässt Du dich leiten von den Geschichten selbst?
Ich versuche so zu schreiben, dass die Szenen, die ich im Buch inszeniere, nicht nur funktional sind, dass meine Erzählung etwas mehr ist als ein verschlungener Pfad vom Verbrechen zur Auflösung der Handlung. Wie ich das mache, habe ich nicht vorher ausgedacht.
Ein Beispiel: Wenn Sil van Hee, der einen toten Taucher auf einem Wrack gefunden hat, sich fragt, was er mit der Situation anfangen soll, und reflexartig die Polizei auf seiner Insel anruft, kommt dieser Anruf nicht auf einem Polizeirevier bei einem Polizisten an, der an seinem Schreibtisch sitzt, sondern bei einer Polizistin, die selbst eine Vergangenheit hat, die keine Insulanerin ist und die in diesem Moment einer verwirrten alten Frau hilft, die ihrerseits in ihre eigene Geschichte verstrickt ist.
Das sind Szenen, die mir nebenbei passieren und die hoffentlich dazu führen, dass es in meinem Buch nicht nur um einen Mordfall, einen Ermittler und einen Verbrecher geht, sondern vor allem um Menschen und ihr Leben, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihr Glück und ihre Traurigkeit. Der Mordfall selbst, offen gestanden, interessiert mich nicht echt. Ich habe darüber kaum Einfälle oder Fantasien. 

Das Bergungsschiff «Freya»

Mathijs Deen, geboren 1962, ist Schriftsteller und Hörfunkautor. Er veröffentlichte Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten, der für den renommierten AKO-Literaturpreis nominiert war. 2018 wurde ihm für die literarische Qualität seines Werks der Halewijnpreis verliehen. Bei mare erschien von ihm zuletzt 2022 «Der Holländer», der erste Fall für Liewe Cupido, der von Publikum und Presse begeistert aufgenommen wurde.

«Unter Menschen» von Mathijs Deen, Rezension auf literaturblatt.ch

Andreas Ecke, 1957 in Wuppertal geboren, studierte Germanistik, Niederlandistik und Musikwissenschaft. Er übertrug u. a. Bücher von Geert Mak, Cees Nooteboom und Bert Wagendorp ins Deutsche. Für seine Übersetzung des Romans «Oben ist es still» von Gerbrand Bakker erhielt er 2010 den Else-Otten-Übersetzerpreis, 2016 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet. 

Beitragsbild © Mathias Bothor

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert. 

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter.

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum. 
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives. 

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene  Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt. 
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt. 

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Stefan Dworak

Urs Augstburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger

Würde man die Romane Urs Augstburgers mit „Bergroman“ etikettieren, würde man seinen Büchern ebenso wenig gerecht werden wie mit „Ökoroman“ oder „Unterhaltungsroman“. Urs Augstburgers Romane sind nahe an der Zeit, virtuos erzählt und zusammen mit seinen Auftritten der verschriftlichte Teil eines Gesamtkunstwerks.

Nach dem ersten Teil seiner Trilogie „Das Dorf der Nichtschwimmer“ erzählt Urs Augstburger in „Das Tal der Schmetterlinge“ wieder von einem Stück aktueller Geschichte, die beim Erzählen bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg greift. Von einem Dorf im Berner Oberland, von Althäusern, einem still gewordenen Dorf im Schatten einer mächtigen Felswand, die ein explosives Geheimnis birgt. Nach dem letzten Krieg wurden in weit verzweigten Kavernen im Innern des Felsmassivs, wie an verschienenen anderen Orten in der Schweiz, explosives Kriegsmaterial gelagert. Obwohl es kurz nach dem Krieg zu einer fatalen Explosion gekommen war, die Althäusern in Schutt und Asche legte und nicht nur Tote und Verwundete forderte, sondern Generationen traumatisierte, verschwieg man der Bevölkerung, dass selbst nach dem verheerenden Unglück noch immer hunderte Tonnen im Berg wie eine Zeitbombe ticken. Man baute das Dorf an gleicher Stelle wieder auf und demonstrierte mit der Anwesenheit von Soldaten im Wiederholungskurs Sicherheit. Bis kurzfristig eine Versammlung im Ort einberufen wird und eine Bundesrätin beruhigen soll.

Urs Augsburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger, 2023, 390 Seiten, ca. 39.00 CHF, ISBN 978-3-03762-103-5

Die Szenerie dieses Buches erinnert sehr an die Geschehnisse rund um die Katastrophe im Bernischen Mitholz, als im Dezember 1947 durch unkontrollierte und völlig überraschende Explsionen in einem Munitionslager im Fels tonnenschwere Felsbrocken durch die Luft geschleudert wurden und riesige Stichflammen eine Explosion begleiteten, die noch in über hundert Kilometern Entfernung registriert wurde. Die Detonationen brachten nicht nur Tod und Verletzungen und zerstörten grosse Teile des Dorfes Mitholz. Weil noch immer riesige Mengen hochexplosiven Materials im Berg lagern, wird man gezwungen sein, zumindest einen Teil der momentanen Bevölkerung des Dorfes umsiedeln zu müssen. Ein Prozess, bei dem Regierung und Verantwortliche über Jahrzehnte ein „Spiel mit offenen Karten“ verweigerten.

Urs Augstburger transformiert die Geschehnisse in ein fiktives Dorf, ein Dorf, das mit sofortiger Wirkung geräumt werden muss, in dem sich die Geschehnisse überstürzen und nichts darüber hinwegtäuschen kann, dass die Felswand hinter dem Dorf zum Inferno werden wird.

Meret Sager, eine inovative Wissenschaftlerin und Sartupgründerin, die sich um Nachhaltigkeit und zukunftsgerichtete Energiegewinnung bemüht, wird von einem geheimnisvollen Auftraggeber nach Althäusern gerufen. Sie soll in einem Seitental unweit des Dorfes ein ernergieautarkes Dorf planen und bauen. Meret Sager ist sich nicht sicher, ob sie nur für ein versponnenes Grossprojekt gelockt wurde, oder ob hier in den Bergen genau das umgesetzt wird, was in ihren Augen unumgänglich ist. Meret ist nicht gezwungen den Auftrag anzunehmen und weil der geheimnisvolle norwegische Geldgeber, der sich im Schloss unweit des Dorfes eingerichtet hatte, durch Corona unabkommlich ist, rutscht Meret in ein Dazwischen, in dem sich die nicht mehr ganz junge Frau klar werden muss, wie ihre eigene Zukunft aussehen soll.

„Im Tal der Schmettlinge“ erzählt in zwei Strängen, von den Geschehnissen damals, als in den Jahren nach dem Krieg Althäusern fast ganz zerstört wurde und das Leben vieler Familien aus der Bahn warf, vom noch fünfzehnjährigen Res, dem die Explosion nicht nur einen Grossteil seiner Familie wegriss, sondern jene Liebe, die die seines Lebens hätte werden können. Vom Wiederaufbau eines Dorfes und der scheinheiligen Sicherheit, die Militär und Regierung an den Tag legten, um die weiter drohende Katastrophe hinter dem Fels zu verbergen. Und in der unmittelbaren Gegenwart, in der immer wieder auftretenden Gewässerverschmutzungen und langsam durchsickernde Tatsachen nicht mehr verheimlichen lassen, dass eine erneute Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Von einer starken Frau mit einer Vision, von jahrzehnte langer Schuld, von versuchter Wiedergutmachung und einem Land, einem Staat, die sich schwer tun, sich nicht wieder gutzumachenden Fehlern zu stellen.

Mag sein, dass das eine oder andere des Romans reichlich konstruiert erscheint. Ich hätte dem Roman mehr Unaufgelöstes gegönnt, jene unfertige Dramatik, die die Realität ausmacht. Aber „Das Tal der Schmetterlinge“ ist sattes Kino, Spannung pur und in seiner Erzählweise erfischend unschweizerisch.

Interview

Die Bergwelt hat es Ihnen ganz offensichtlich angetan, längst nicht erst mit „Das Tal der Schmetterlinge“. Auf der Einen Seite suggeriert die Begwelt Ewigkeit, Beständigkeit, Festigkeit. Auf der anderen Seite demonstrieren Ihre Romane sehr oft, dass dieser Fels alles andere als ewig starr ist. Und dass das Starre etwas mit den Menschen dort macht. Ich als Unterländer kann nur schwer verstehen, dass man sein Haus unter einer steilen Felswand bauen kann, mit oder ohne Munition dahinter. Steckt in Urs Augstburger ein Bergler?
Oh ja, ich bin rund drei Monate im Jahr in Disentis und immer wieder in all den andern Bergregionen. In Disentis meist im Winter, dort entstanden viele meiner Bücher. Und tatsächlich, auch ich fühle mich am Fuss einer Wand immer wohl, eher beschützt als erdrückt. Früher zumindest. Wenn man Zeit in diesen Bergdörfern verbringt, kommt man bald mal hinter die Klischees. Im Klimawandel sind die Bergler derzeit die ersten, die bitter erfahren müssen, dass gerade bei ihnen nichts für ewig ist. Schon in meinem Roman Wässerwasser von 2009 sahen sich die Romanfiguren gezwungen, den alten Glauben vom Reich der armen Seelen im ewigen Eis neu zu denken, weil das ewige Eis bald verschwunden sein wird. Der sagenhafte Zug der armen Seelen den Berggräten entlang hinauf zu den Gletschern verliert so sein Ziel. Und zugleich beginnen diese scheinbar unerschütterlichen Berge auch noch zu bröckeln. Die Bergler sind die ersten von uns, die all diese Veränderungen am eigenen Leibe erfahren. Jetzt schon. Auch wenn sie es nicht immer zugeben. Aber sie leben zu sehr mit und von der Natur, als dass sie sich noch etwas vormachen können.

Ihr Roman führt ein Stück unrühmliche Geschichte zum Vorschein; die Fähigkeit von Regierung und Bürokratie, in diesem Land die Dinge im Verborgenen zu lassen. Kein speziell eidgnössisches Verhalten. Ob CS-Skandal, Fischenaffäre oder wie in ihrem Roman die Mitholz-Geschichte. Schönreden und Verschweigen – eine urmenschliche Fähigkeit? Eine Überlebensstrategie?
Das Munitionsdepot in Mitholz war tatsächlich eine der Inspirationen zum Tal der Schmetterlinge war. Und ja, dort ist für mich das grösste Rätsel, weshalb das Militär siebzig Jahre lang – siebzig! – verheimlicht hat, dass 3’000 Tonnen Munition im Berg liegen. Die Hälfte der ursprünglichen Gesamtmenge. Dass dem Militär damals niemand ernsthaft auf die Finger schaute, ist begreiflich, im und nach dem 2. Weltkrieg war das Militär allmächtig. Als hätten die Verantwortlichen damals das Unglück und ihre Verantwortung dafür schnellst möglichst verschleiern wollen, bauten sie das Dorf wieder auf, am alten Ort, direkt vor der Felswand. Als sei nichts geschehen. Eine unglaubliche Fahrlässigkeit, für die nun wieder die Opfer von damals oder ihre Nachkommen büssen müssen.

Die Katastrophe in Althäusern kündigte sich schon lange an, sei es mit dem Aussterben vieler Schmetterlingsarten, dem immer wieder auftretenden Fischsterben. Halvorsen, der norwegische Superreiche im Hintergrund plant ein Dorf zur Umsiedlung der Althäuser Bevölkerung, ein Musterdorf, den Prototypen zukünftiger Dörfer. Aber eigentlich ist doch auch das Augenwischerei, denn den Bedrohungen kann man sich nicht (mehr) durch Flucht entziehen. Nicht einmal mit der Flucht auf den Mars.
Doch was sollen wir tun? Was sollen wir in zehn, zwanzig Jahren unseren Kinder erzählen? Wir hätten aufgegeben, als es vielleicht noch Möglichkeiten gegeben hatte? Wir dürfen uns von denen nicht lähmen lassen, die den Klimawandel noch heute verleugnen, um ihre Partikularinteressen nicht zu gefährden und weiter ungestört Geschäfte zu machen. Wir müssen so viel wie möglich tun. Angenommen, alle Dörfer und vor allem die Städte würden ab sofort ökologisch umgebaut werden, sich dem beschriebenen Ökodorf annähern, dann wäre schon viel erreicht und der Temperaturanstieg könnte noch etwas begrenzt werden. Angenommen, es würden endlich genügend Anreize geschaffen, jedes Haus, jeden Wohnblock energiefreundlicher zu machen … Man darf sich ja nicht vorstellen, was man beispielsweise mit den CS-Milliarden im Energiebereich erreichen könnte. Das Militär wiederum spürt durch den Krieg in der Ukraine derzeit Rückenwind und will an allen Fronten aufrüsten, egal, wo es Sinn macht, und wo nicht. Gleichzeitig sorgen sich die Mitholzer, die wegen des Militärs ihre Heimat und ihr Heim verlassen müssen, noch immer, ob sie überhaupt zu ihren Entschädigungen kommen.

Meret Sager, die Protagonistin in der Gegenwart glaubt als Wissenschaftlerin an die Segnungen durch die Technik, glaubt an die Utopie einer Zukunft, die mittels technischer Errungenschaften den Kampf gegen das drohende Desaster aufnehmen kann. Es gibt nicht viele AutorInnen, die sich in der Literatur diesen Fragen stellen, zumindest nicht in der „ernsten“ Literatur. Ist doch eigentlich erstaunlich. (Ich pesönlich glaube, dass uns Wissenschaft und Technik helfen können. Aber vor allem wird er in Zukunft eine Frage des Verzichts werden.)
Diese Themen finden generell in der Schweiz und im ganzen deutschsprachigen Raum zu selten in literarische Stoffe. Schon gar nicht in spannende erzählte Stoffe. Ich wohl immer wieder versuchen, die perfekte literarische Parabel darauf zu finden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist das wichtigste Thema unserer Zeit und ich staune, wie wenige darüber schreiben. Zu Ihrer Anmerkung: Verzicht liegt leider nicht in der Natur des Menschen, schon gar nicht in der der Männer, muss ich zu unserer Schande sagen. Verzichten werden wir erst, wenn wir dazu gezwungen sind. Das wird schon bald der Fall sein. Doch Verzicht allein wird nicht nützen, deshalb brauchen wir zugleich visionäre WissenschaftlerInnen, die gerade in den Bereichen der Brennstoffzellen und der Wasserstoff-Technik die Innovation vorantreiben. Dort sehe ich grosse Chancen.

Meret, die junge, dynamische, lösungsorientierte, anpackende Frau. Halvorsen, der alte weisse, reiche Mann im Hintergrund. In Ihrem Roman finde ich viele starke Frauenfiguren und viele Männer, die nur am Rand, marginal in die Geschichte eingreifen. Hätte die Geschichte auch mit vertauschter Rollenverteilung geschrieben werden können?
Nein. Das hat mit dem zu tun, was ich vorher angetönt habe. Männer können nicht verzichten, sind selten selbstlos, ich nehme mich da gar nicht aus. Frauen überlegen sie viel intensiver, welche Welt sie ihren Kindern überlassen, sie handeln grundsätzlich nachhaltiger. Hoffnung habe ich nur dank ihnen. Halvorsen ist der alte, reiche Mann im Hintergrund, ja. Spät hat er seine Lektion gelernt, immerhin aber, er will eigentlich das Richtige tun. Weil er jetzt, am Ende seines Lebens sieht, dass er zu lange das Falsche getan hat. Dass er aus Norwegen kommt, ist nicht zufällig. Das hat mit meinen eigenen Geschichten zu tun, aber auch mit der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Dank des Erdöls ist es reich geworden, dank dieses Reichtums könnte es führend werden in der Greentech-Revolution. Im Grunde absurd! Aber wenn solche Länder wie Norwegen, wie die Schweiz auch, nicht voran gehen, wer soll es dann tun?

Der Schriftsteller Urs Augsburger zusammen mit Monika Schärer, Filmemacherin, Moderatorin und Journalistin, mitten in «Das Tal der Schmetterlinge – live!»

Urs Augstburger, geboren 1965 in Brugg, Journalist, lebt und schreibt in Ennetbaden und Disentis. 1997 erschien sein erster Roman «Für immer ist morgen». Mit «Graatzug» (2007) schrieb sich Urs Augstburger endgültig in die Herzen der Leserinnen und Leser. «Wässerwasser» schloss 2009 die Bergtrilogie ab und führte sie dreissig Jahre in die Zukunft. Nach einem Verlagswechsel 2012 erschien sein vielbeachteter Alzheimer-Roman «Als der Regen kam» bei Klett-Cotta. Ebenfalls dort 2015 der Roman «Kleine Fluchten» und 2017 der brandaktuelle Medienthriller «Helvetia 2.0», der den Griff der Rechtspopulisten nach der Medienmacht widerspiegelte. «Das Tal der Schmetterlinge» ist nach «Das Dorf der Nichtschwimmer» und der Rückkehr zu Bilger der zweite Teil einer Trilogie, die Schweizer Geschichte und Geschichten über sieben Jahrzehnte und drei Generationen erzählt.

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Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay

Eine noch junge Frau, die aus ihrem in Schräglage gekommenen Leben entfliehen will, möchte eigentlich nur für eine gewisse Zeit ins Haus ihrer Eltern zurück, eine Auszeit, um sich neu orientieren zu können. „Wovon wir leben“ erzählt, wie sehr ein guter Plan ins Wanken geraten kann.

Julia ist Krankenschwester und muss ihre Sachen packen. Man hat ihr nach einem Arbeitsunfall im Spital gekündigt. Sie gab einer Patientin ein falsches Medikament, was der Frau beinahe das Leben kostete. Fahrlässigkeit. Sie muss ihre Sachen packen, weil die Wohnung dem Arbeitgeber gehört. Sie muss ihre Sachen packen, weil ihr Krankenstand zu Ende geht, nachdem ihr asthmatische Anfälle immer leichter den Atem nehmen. Und Julia packt ihre Sachen, weil Johannes, der verheiratete Arzt, mit dem sie ein Verhältnis hatte, nicht wahrhaben will, dass alles anders ist. Und weil Julia bisher ganz Krankenschwester war und weder Zeit noch Energie reichte, um neben der Arbeit eine Existenz aufzubauen, scheint wegen finanzieller Engpässe das Haus ihrer Eltern, der Ort, den sie einst endgültig verliess, die einzige Möglichkeit einer begrenzten Auszeit zu sein. Das Dorf im Innergebirg, nur eine Stunde von der Stadt entfernt, aber durch ein ganzes Bergmassiv von der Sonne abgeschnitten.

Schon damals, als sie ging, was das, was von Familie geblieben war, ein Trümmerfeld. Vater und Mutter schwiegen sich gegenseitig in Grund und Boden und ihr Bruder David lebte nach einer Hirnhautentzündung, die der Betriebsarzt als Bagatelle weggewinkt hatte, weggestellt in einem Heim, als vegetierender Rest seiner selbst. Aber als Julia nach Hause kommt, ist auch die Mutter weg, mit sechzig nach Sizilien getürmt, ins Land der Zitronen. Was vom Vater übrigbleibt, ist ebenfalls bloss noch ein Rest, nachdem man die Fabrik im Dorf, die seine Existenz ausmachte, schliessen musste, der alte Mann gezwungen war, mit einem Mal selbst für sich und das Haus zu sorgen. Eine Aufgabe, die ihn heillos überforderte. Grund genug, dass dieser hoffte, die Rückkehr seiner Tochter würde auch seinem Elend helfen.

Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-552-07335-7

Julia spürt schnell, dass sie vom Regen in die Traufe geriet, dass sich im Dorf seit ihrem Wegzug nichts zum Guten änderte. Im Gegenteil; das Dorf, das sich einst von drei grossen Arbeitgebern nährte, darbt. Der einzige Ort, an dem noch ein letzter Rest Leben im dicken Zigaretten- und Alkoholdunst pocht, ist die letzte Kneipe im Ort. Aber eigentlich auch ein Unort, denn all die Gescheiterten und Gestrandeten sind unter sich. Das einzige Haus, in dem die Uhren anders zu ticken scheint, ist jenes von Potutznik, dem Antiquar, dem aber schon lange niemand mehr etwas abkauft, bei dem sich aber ganz unerwartet ein Städter einquartiert; Oskar.

So wie Oskar ein Entflohener ist, so ist es Julia. Nur demonstriert Oskar mit all seinem Tun, es wäre stets alles möglich, während Julia darum kämpft, genug Luft zu kriegen. Luft in ihre gestresste Lunge, Luft in ihrer Familie, in der schon lange das grosse Schweigen ausgebrochen ist, Luft in ihrem Leben, das sich nicht aus Pflichten und Zwängen zu befreien vermag.

Als Oskar, der Städter, in einer Befreiungsaktion für eine Ziege gleich den ganzen Gasthof vom alkoholkranken Wirt im Spiel gewinnt, als man hinter dem Wirtshaus einen stinkenden Kadaver findet, als Julias Vater sich im Wald mit einer Axt verletzt und sich in Julias Zukunft ein Silberstreif abzeichnet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Wovon wir leben“ ist ein hartes Stück Konfrontation. Es erzählt von den Verlierern der Gesellschaft, von jenen, die man stehen und fallen lässt. Von Menschen, denen es nie gelingt, aus den Mechanismen der Gewohnheit auszusteigen. Birgit Birnbacher kommt mit ihrem unmittelbaren Erzählen ganz nah. Nichts, keine Szene ist emotional überladen, dem fremd, wovon wir spüren, das es „normal“ ist. Birgit Birnbacher zerreisst nicht, richtet nicht. Die Autorin spürt der Frage nach, wieviel wirklich möglich ist, wie sehr wir von uns selbst gefangen gehalten werden. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

„How happy the lover, how easy his chain“, von John Dryden steht als Zitat im Vorsatz Ihres Romans. Julia muss aus ihrem Leben aussteigen, will eigentlich nur eine Auszeit, in der sie neue Kräfte sammeln kann. Oskar, der Städter, steigt auch aus, setzt sich ab mit einem gewonnenen Grundeinkommen. Beide Absteiger reagieren aber völlig verschieden, nicht zuletzt darum, weil Julia zurückkehrt und Oskar wegfährt. Kann man seiner Vergangenheit entfliehen?
In aller Kürze, wenn ich mich daran orientiere, was in dem Buch steht, und das noch ein wenig zuspitze, würde ich sagen: Man kann, vor allem, wenn man ein Mann oder eine männlich gelesene Person ist. Für alle anderen wird es schon komplizierter, wenn es um die Sorgearbeit für die Kinder und die Alten geht. Oskars Eltern werden auch alt, aber er spürt viel weniger Zwänge als Julia – weil er eine Schwester hat. Julia hat nie Kinder bekommen, sie war damit beschäftigt, Eltern zu haben. Was tun wir aus Liebe, was aus Zwang, und wo überschneiden diese beiden Motive sich? Das waren einige dieser Fragen, die mich während des Schreibens beschäftigt haben. 
 
Julias Mutter hat sich nach Sizilien abgesetzt, das Haus, in dem sie so vielen zu ertragen hatte, zurücklassen, ebenso ihren Mann und David, ihren Sohn. Ein Schritt, der nur den wenigsten dieser Generation gelang, obwohl viele Frauen Gründe genug gehabt hätten, in den Zeiten des Aufschwungs ihre Häuser zu verlassen, denn jene Selbstständigkeit, die man ihnen in den Kriegsjahren gewähren musste, musste am Herd im Dienste des Patriarchats geopfert werden. Ist ihr Buch ist auch ein Roman über Selbstverständlichkeiten, die wie Harz an uns kleben?
Ich erlebe oft, dass Frauen meines Alters dem Schicksal ihrer Mütter (lebenslang oft unbezahlte Arbeit, die ihnen weder Familie, noch Gesellschaft oder das Pensionssystem jemals danken) völlig ratlos gegenüberstehen. Am meisten wundert sie oft, dass ihre Mütter nicht einmal wütend sind. Sie sind es nicht anders gewohnt gewesen und haben jetzt, mit 70, keine Lust mehr, noch einmal alles über den Haufen zu werfen. Julias Mutter ist anders, sie bricht mit Mitte sechzig noch einmal aus und die Familie muss sehen, wie sie allein zurechtkommt

Julias Bruder David spricht nicht mehr. Seit seiner Hirnhautentzündung ist er nur noch ein Schatten. Damals war es der Fehler eines Arztes, ein Fehler, der von Julias Vater stets gedeckt wurde, ein Fehler, der rechtzeitig erkannt, niemals jene Auswirkungen hätte haben müssen. Etwas, über das nie gesprochen, nicht einmal richtig gestritten wurde, sich aber wie eine Urschuld als klebriger Schlick über die Ehe legte. Ich sehe das Verstummen von Ehen in meiner Umgebung auch, dass es bis zu einem gewissen Punkt die Chancen der Rettung gäbe, man diese Chancen aber verpasst. Julias Eltern gehören nicht in der Generation der Therapierten. Schweigen als eine der Ursuppen, in der die Schuld zum Schlick wird?
Schweigen ist im Inngebirg, wo der Roman spielt und ich herkomme, eine gängige Kommunikationsform. Ich sehe die österreichische Sprache ja als eine Art abdekoriertes Deutsch. Es besteht hauptsächlich aus Verknappung. Vieles wird mit einem Wort einfach weggewischt. In die Lücken, die dabei im Sprechen entstehen, hineinzuschreiben, hat mich immer gereizt.

Auch Julia lebt mit einer Schuld, einem Fehler, der ihr die Arbeit und einer Patientin beinahe das Leben kostete. Auch Julia spricht nicht darüber. Statt dessen treibt sie scheinbar in den Genen festgesetztes Pflichtgefühl zurück an den elterliche Küche. Wir haben Rollen. Viele übernehmen wir mit aller Selbstverständlichkeit. Warum so wenig Rebellion?
Julias Rebellion ist nicht laut und polternd, sie ist bedacht und überlegt, dafür zielführend. Das ist es auch, was mir viel mehr entspricht. Der Instagram-Appellfeminusmus geht mir auf die Nerven. Während Frauen sich im Internet gegenseitig applaudiert haben, hätten wir heraußen schon zehn Revolutionen gehabt.
 
Julia ist aus der Erwerbsarbeit gefallen, weil ihr ein Fehler passierte. Oskar wurde von einem Herzinfarkt aus seiner Arbeit katapultiert. Julia war eine Krankenschwester mit Leib und Seele, Oskar ein Bürogummi mit aufgegebenen Ambitionen. Beide gingen weg und beide reagieren vollkommen unterschiedlich. Ihr Roman ist wie eine Versuchsanordnung. War der Weg ihrer Geschichte schon von Beginn weg klar oder haben die „mitgeschrieben, was passiert“?
Nein, ich plotte nicht, so funktioniert das bei mir nicht. Das muss alles aus der Sprache entstehen. Für mich selbst wäre das Schreiben nach Reißbrett etwas sehr Fades. Ich möchte ja in erster Linie auch einen Erkenntnisgewinn haben und finde das immer wieder faszinierend, wenn er tatsächlich aus der Sprache kommt.

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman «Wir ohne Wal» (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 erschien bei Zsolnay der Roman «Ich an meiner Seite».

Beitragsbild © Siegrid Cain