Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay

Eine noch junge Frau, die aus ihrem in Schräglage gekommenen Leben entfliehen will, möchte eigentlich nur für eine gewisse Zeit ins Haus ihrer Eltern zurück, eine Auszeit, um sich neu orientieren zu können. „Wovon wir leben“ erzählt, wie sehr ein guter Plan ins Wanken geraten kann.

Julia ist Krankenschwester und muss ihre Sachen packen. Man hat ihr nach einem Arbeitsunfall im Spital gekündigt. Sie gab einer Patientin ein falsches Medikament, was der Frau beinahe das Leben kostete. Fahrlässigkeit. Sie muss ihre Sachen packen, weil die Wohnung dem Arbeitgeber gehört. Sie muss ihre Sachen packen, weil ihr Krankenstand zu Ende geht, nachdem ihr asthmatische Anfälle immer leichter den Atem nehmen. Und Julia packt ihre Sachen, weil Johannes, der verheiratete Arzt, mit dem sie ein Verhältnis hatte, nicht wahrhaben will, dass alles anders ist. Und weil Julia bisher ganz Krankenschwester war und weder Zeit noch Energie reichte, um neben der Arbeit eine Existenz aufzubauen, scheint wegen finanzieller Engpässe das Haus ihrer Eltern, der Ort, den sie einst endgültig verliess, die einzige Möglichkeit einer begrenzten Auszeit zu sein. Das Dorf im Innergebirg, nur eine Stunde von der Stadt entfernt, aber durch ein ganzes Bergmassiv von der Sonne abgeschnitten.

Schon damals, als sie ging, was das, was von Familie geblieben war, ein Trümmerfeld. Vater und Mutter schwiegen sich gegenseitig in Grund und Boden und ihr Bruder David lebte nach einer Hirnhautentzündung, die der Betriebsarzt als Bagatelle weggewinkt hatte, weggestellt in einem Heim, als vegetierender Rest seiner selbst. Aber als Julia nach Hause kommt, ist auch die Mutter weg, mit sechzig nach Sizilien getürmt, ins Land der Zitronen. Was vom Vater übrigbleibt, ist ebenfalls bloss noch ein Rest, nachdem man die Fabrik im Dorf, die seine Existenz ausmachte, schliessen musste, der alte Mann gezwungen war, mit einem Mal selbst für sich und das Haus zu sorgen. Eine Aufgabe, die ihn heillos überforderte. Grund genug, dass dieser hoffte, die Rückkehr seiner Tochter würde auch seinem Elend helfen.

Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-552-07335-7

Julia spürt schnell, dass sie vom Regen in die Traufe geriet, dass sich im Dorf seit ihrem Wegzug nichts zum Guten änderte. Im Gegenteil; das Dorf, das sich einst von drei grossen Arbeitgebern nährte, darbt. Der einzige Ort, an dem noch ein letzter Rest Leben im dicken Zigaretten- und Alkoholdunst pocht, ist die letzte Kneipe im Ort. Aber eigentlich auch ein Unort, denn all die Gescheiterten und Gestrandeten sind unter sich. Das einzige Haus, in dem die Uhren anders zu ticken scheint, ist jenes von Potutznik, dem Antiquar, dem aber schon lange niemand mehr etwas abkauft, bei dem sich aber ganz unerwartet ein Städter einquartiert; Oskar.

So wie Oskar ein Entflohener ist, so ist es Julia. Nur demonstriert Oskar mit all seinem Tun, es wäre stets alles möglich, während Julia darum kämpft, genug Luft zu kriegen. Luft in ihre gestresste Lunge, Luft in ihrer Familie, in der schon lange das grosse Schweigen ausgebrochen ist, Luft in ihrem Leben, das sich nicht aus Pflichten und Zwängen zu befreien vermag.

Als Oskar, der Städter, in einer Befreiungsaktion für eine Ziege gleich den ganzen Gasthof vom alkoholkranken Wirt im Spiel gewinnt, als man hinter dem Wirtshaus einen stinkenden Kadaver findet, als Julias Vater sich im Wald mit einer Axt verletzt und sich in Julias Zukunft ein Silberstreif abzeichnet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Wovon wir leben“ ist ein hartes Stück Konfrontation. Es erzählt von den Verlierern der Gesellschaft, von jenen, die man stehen und fallen lässt. Von Menschen, denen es nie gelingt, aus den Mechanismen der Gewohnheit auszusteigen. Birgit Birnbacher kommt mit ihrem unmittelbaren Erzählen ganz nah. Nichts, keine Szene ist emotional überladen, dem fremd, wovon wir spüren, das es „normal“ ist. Birgit Birnbacher zerreisst nicht, richtet nicht. Die Autorin spürt der Frage nach, wieviel wirklich möglich ist, wie sehr wir von uns selbst gefangen gehalten werden. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

„How happy the lover, how easy his chain“, von John Dryden steht als Zitat im Vorsatz Ihres Romans. Julia muss aus ihrem Leben aussteigen, will eigentlich nur eine Auszeit, in der sie neue Kräfte sammeln kann. Oskar, der Städter, steigt auch aus, setzt sich ab mit einem gewonnenen Grundeinkommen. Beide Absteiger reagieren aber völlig verschieden, nicht zuletzt darum, weil Julia zurückkehrt und Oskar wegfährt. Kann man seiner Vergangenheit entfliehen?
In aller Kürze, wenn ich mich daran orientiere, was in dem Buch steht, und das noch ein wenig zuspitze, würde ich sagen: Man kann, vor allem, wenn man ein Mann oder eine männlich gelesene Person ist. Für alle anderen wird es schon komplizierter, wenn es um die Sorgearbeit für die Kinder und die Alten geht. Oskars Eltern werden auch alt, aber er spürt viel weniger Zwänge als Julia – weil er eine Schwester hat. Julia hat nie Kinder bekommen, sie war damit beschäftigt, Eltern zu haben. Was tun wir aus Liebe, was aus Zwang, und wo überschneiden diese beiden Motive sich? Das waren einige dieser Fragen, die mich während des Schreibens beschäftigt haben. 
 
Julias Mutter hat sich nach Sizilien abgesetzt, das Haus, in dem sie so vielen zu ertragen hatte, zurücklassen, ebenso ihren Mann und David, ihren Sohn. Ein Schritt, der nur den wenigsten dieser Generation gelang, obwohl viele Frauen Gründe genug gehabt hätten, in den Zeiten des Aufschwungs ihre Häuser zu verlassen, denn jene Selbstständigkeit, die man ihnen in den Kriegsjahren gewähren musste, musste am Herd im Dienste des Patriarchats geopfert werden. Ist ihr Buch ist auch ein Roman über Selbstverständlichkeiten, die wie Harz an uns kleben?
Ich erlebe oft, dass Frauen meines Alters dem Schicksal ihrer Mütter (lebenslang oft unbezahlte Arbeit, die ihnen weder Familie, noch Gesellschaft oder das Pensionssystem jemals danken) völlig ratlos gegenüberstehen. Am meisten wundert sie oft, dass ihre Mütter nicht einmal wütend sind. Sie sind es nicht anders gewohnt gewesen und haben jetzt, mit 70, keine Lust mehr, noch einmal alles über den Haufen zu werfen. Julias Mutter ist anders, sie bricht mit Mitte sechzig noch einmal aus und die Familie muss sehen, wie sie allein zurechtkommt

Julias Bruder David spricht nicht mehr. Seit seiner Hirnhautentzündung ist er nur noch ein Schatten. Damals war es der Fehler eines Arztes, ein Fehler, der von Julias Vater stets gedeckt wurde, ein Fehler, der rechtzeitig erkannt, niemals jene Auswirkungen hätte haben müssen. Etwas, über das nie gesprochen, nicht einmal richtig gestritten wurde, sich aber wie eine Urschuld als klebriger Schlick über die Ehe legte. Ich sehe das Verstummen von Ehen in meiner Umgebung auch, dass es bis zu einem gewissen Punkt die Chancen der Rettung gäbe, man diese Chancen aber verpasst. Julias Eltern gehören nicht in der Generation der Therapierten. Schweigen als eine der Ursuppen, in der die Schuld zum Schlick wird?
Schweigen ist im Inngebirg, wo der Roman spielt und ich herkomme, eine gängige Kommunikationsform. Ich sehe die österreichische Sprache ja als eine Art abdekoriertes Deutsch. Es besteht hauptsächlich aus Verknappung. Vieles wird mit einem Wort einfach weggewischt. In die Lücken, die dabei im Sprechen entstehen, hineinzuschreiben, hat mich immer gereizt.

Auch Julia lebt mit einer Schuld, einem Fehler, der ihr die Arbeit und einer Patientin beinahe das Leben kostete. Auch Julia spricht nicht darüber. Statt dessen treibt sie scheinbar in den Genen festgesetztes Pflichtgefühl zurück an den elterliche Küche. Wir haben Rollen. Viele übernehmen wir mit aller Selbstverständlichkeit. Warum so wenig Rebellion?
Julias Rebellion ist nicht laut und polternd, sie ist bedacht und überlegt, dafür zielführend. Das ist es auch, was mir viel mehr entspricht. Der Instagram-Appellfeminusmus geht mir auf die Nerven. Während Frauen sich im Internet gegenseitig applaudiert haben, hätten wir heraußen schon zehn Revolutionen gehabt.
 
Julia ist aus der Erwerbsarbeit gefallen, weil ihr ein Fehler passierte. Oskar wurde von einem Herzinfarkt aus seiner Arbeit katapultiert. Julia war eine Krankenschwester mit Leib und Seele, Oskar ein Bürogummi mit aufgegebenen Ambitionen. Beide gingen weg und beide reagieren vollkommen unterschiedlich. Ihr Roman ist wie eine Versuchsanordnung. War der Weg ihrer Geschichte schon von Beginn weg klar oder haben die „mitgeschrieben, was passiert“?
Nein, ich plotte nicht, so funktioniert das bei mir nicht. Das muss alles aus der Sprache entstehen. Für mich selbst wäre das Schreiben nach Reißbrett etwas sehr Fades. Ich möchte ja in erster Linie auch einen Erkenntnisgewinn haben und finde das immer wieder faszinierend, wenn er tatsächlich aus der Sprache kommt.

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman «Wir ohne Wal» (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 erschien bei Zsolnay der Roman «Ich an meiner Seite».

Beitragsbild © Siegrid Cain