Thomas Dütsch «Zwischenhoch», Nimbus

Thomas Dütsch sieht in seinen Gedichten die Zwischenräume. Er hält sich an Alltäglichem und gibt ihm Glanz. Wer Thomas Dütschs neuen Gedichtband ersteht, ihn mit nach Hause nimmt und in einem ruhigen Moment das Buch zur Hand nimmt, sieht mehr!

Lesen sie Gedichte? Vielleicht wäre es an der Zeit. Jetzt erst recht, wo man uns glauben machen will, dass man mit Hyperschallraketen, Lügen und Kanonenfutter „Konflikte“ lösen kann; laut, mit einem Knall, Kollateralschäden inbegriffen, wenn es Wirkung erzeugt sowieso. Lyrik ist das genaue Gegenteil von dem, womit männliches Machtgehabe die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Können sie sich Despoten Lyrik lesend vorstellen? Dass an Amtseinsetzungen von Staatsmännern von einer jungen, schwarzen Frau Lyrik vorgetragen wird, ist Augenwischerei, auch wenn das, was sie sagt, ernst genommen beeindruckend sein könnte. Aber was in der Politik Zwischentöne sind, hat mit den Zwischentönen in der Lyrik so gar nichts gemein.

 

Kleines Gedicht

Das dünnwandige Herz in den Garten tragen
und unter den Strahl der Sonne stellen
Das Morgenlicht einschiessen lassen
bis der blecherne Eimer randvoll ist 

Dann erst unter die Menschen gehen

 

Thomas Dütsch ist in seinem Brotberuf Deutschprofessor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Mit „Zwischenhoch“ hat er einen Gedichtband vorgelegt, der zeigt, was Lyrik kann, mit Zwischentönen und ganz direkt. Gedichte wie die seinigen sind in jedem Fall konstruktiv, aufbauend, ermunternd, selbst dann, wenn sie sich nicht scheuen, Dinge beim Namen zu nennen. Nicht vorzustellen, dass all die Aufgepumpten abends vor dem Insbettgehen oder morgens als Beginn in den Tag ein Gedicht lesen, nach den gelesenen Zeilen das Buch für einige Minuten sinken lassen, um dem Nachhall der Zeilen nachzugehen. Lyriker wie Thomas Dütsch scheinen in ihrer Wahrnehmung all jenen etwas voraus zu haben, die uns beweisen wollen, die Welt sei in wert und unwert aufzuteilen, in dienlich und störend, gewinnorientiert und unnütz. 

«Meine Studierenden wissen nicht, dass ich Gedichte schreibe. Einzige Ausnahme: Während einiger Jahre konnte ich eine Werkstatt in Kreativem Schreiben leiten. Die Studierenden, welche diese Werkstatt besuchten, wussten, dass ich Gedichte schreibe. Aber ich glaube, es interessierte sie nicht gross, weil  ich kein Spokenword-Künstler oder Slam-Poet war.»

«Zu unterrichten, ist mein Beruf, den ich sehr gern ausübe. Wenn ich Gedichte schreibe, ist der Dozent ganz weit weg. Als Dozent bin ich Wissender, Sender – als Poet bin ich Suchender, Empfänger. Das Gedicht ist für mich eine sehr persönliche Form, um über meine Erfahrungen mit der Welt nachzudenken. Dabei werde ich von der Sprache geführt. Das lyrische Schreiben ist eine ganz andere Form, sich auszudrücken als das Berichten oder Erzählen. Ein Gedicht füllt etwa einen Drittel einer Buchseite mit Text, aber wenn das Gedicht gut ist, ist die Seite voll.»

 

Im Stadtpark

Von den Fingern der Frühlingssonne ins Freie gepuhlt
setz’ ich mich auf eine Bank im Stadtpark und dreh’
mir ein Gedicht Aus meinem Sprachbeutel klaub’ ich
losen Tabak drösle die luftgetrockneten Silben einzeln
in die Papierfalte und füge sie zu einem Wörterwurm
Filter und Sonntagslippe versiegeln das kleine Werk
Sacht’ zieh ich es stramm puste die Lautkrümel weg
und klappe in ungetrübter Vorfreude mein Etui auf
Ich wische noch die letzten Fäden beiseite da löst sich
aus einem Pulk von Kapuzengestalten ein Wintergesicht
und erschnort sich maulfaul die frischgedrehte Kippe

 

Thomas Dütsch «Zwischenhoch», Nimbus, 2022, 84 Seiten, CHF 22.90, ISBN 978-3-03850-087-2

Dichter wie Thomas Dütsch wissen, dass sie mit leisen Tönen, vollendeten Sprachmelodien Bilder erzeugen können, die nur ein feines Ohr hören kann. Dass ein Professor einer Pädagogischen Hochschule, an der zukünftige LehrerInnen ausgebildet werden, an die Kraft der Lyrik glaubt und sich dieser hohen Kunst bedienen kann, stimmt mich hoffnungsfroh, weiss ich doch, wie selten heute an Schulen Gedichte eine Rolle spielen.

«Ich weiss nie, vorüber ich mein nächstes Gedicht schreibe. Ich habe mein Notizbuch dabei, aber aus welchem Eintrag in einer ruhigen Stunde am Wochenende dann ein Gedicht wird, das kann ich nicht steuern. Ein Gedicht entsteht, wenn ich für eine konkrete Beobachtung oder Erfahrung, die ich gemacht habe, auch die Sprache zur Verfügung steht. Im besten Fall gerate ich dann in einen sogenannten Flow und ich kann eine erste Fassung des Gedichtes hinschreiben.»

«Vor sechzig Jahren gehörten LyrikerInnen wie Enzensberger, Eich, Jandl, Bachmann zu den führenden Köpfen der Literatur und ihre Werke wurde in den Feuilletons heftig diskutiert. Diese Zeiten sind vorbei. Umso mehr freut es mich, wenn Elke Erb den Büchner-Preis bekommt oder Louise Glück den Nobelpreis für Literatur.»

 

Eisen im Schnee

Wer Bilder malt hat die Wahl
zwischen Naturhaarpinsel Kreide
Spachtel Buntstift oder Kaltnadel
Wer Bilder malt beugt sich
über Kupferplatten Steintafeln
gerippte Bütten oder Leinen

Wer schreibt hat die Wahl
zwischen Federkiel Bleistift
Füllhalter Tintenroller Fineliner
oder ergonomischer Tastatur
Doch ob Nänie oder Quodlibet
zuletzt steht alles auf Papier

Auf Papier? – Mitnichten
Wenn ich schreib knie ich
im winterlichen Kasernenhof
bin frierender Rekrut und übe
das Zerlegen des Gewehrs bis
die Eisen sich reihen im Schnee

 

In seinem neuen Gedichtband „Zwischenhoch“ denkt der Dichter und Professor auch über das Schreiben nach, neben Betrachtungen, Ermunterungen, Einsichten und witzigen Wortspielereien, bei denen man unweigerlich ins Schmunzeln gerät und verwundert darüber sein kann, mit welcher frischen Jugendlichkeit dieser Dichter lustvoll Knoten lösen kann. Lyriker schreiben nach innen. Thomas Dütsch schärft den Blick.

 

Im Garten der Zeit

Endlich da sein
Wurzeln schlagen
gleich dem Kirschbaum
unter dem ich träume
gleich der Greisin
die minutenlang
den Tisch betrachtet
den sie mit Liebe
für uns gedeckt hat
gleich dem Mittagswind
der das Kirchengeläut
über die Mauer trägt
die weissen Servietten
mit flinken Fingern
fächert und glättet
und dabei ohne
Wurzeln auskommt

(Ich danke dem Autor für die Erlaubnis, Gedichte aus dem Gedichtband «Zwischenhoch» in diesen Beitrag einfügen zu dürfen.)

Thomas Dütsch, geboren 1958 in Zürich, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Zürich, Tübingen und Berlin. Auf Einladung des Berliner Kultursenats war er 1991 sechs Monate Stipendiat im Literarischen Colloquium Berlin (LCB). Für seinen ersten Lyrikband «Windgeschäft» (2001) und «Weißzeug» (2011) erhielt der Autor Anerkennungsgaben der Stadt Zürich. Thomas Dütsch lebt in Wädenswil.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt

Ronya Othmann «die verbrechen», Hanser

2019 holte sich Ronya Othmann mit ihrem Text am Bachmannpreislesen in Klagenfurt den Publikumspreis. 2020 doppelte sie in eindrücklicher Weise mit ihrem Roman „Die Sommer“ nach, einem Buch, dass von Leyla erzählt, der Tochter einer Deutschen und eines êzîdischen Kurden. Nun bringt sie mit ihrem ersten Gedichtband „die verbrechen“ eine Stimme auf die Bühne, der man mit einer eigenartigen Mischung aus Faszination und tiefer Betroffenheit lauschen wird.

Man kann Ronya Othmanns Gedichtband „die verbrechen“ auf ganz verschiedene Arten lesen. Ich gebe zu, dass mir der Einstieg in ihre Sprachwelt nicht ganz leicht fiel, was auch damit zusammenhängt, dass sich Ronya Othmann nicht vor langen Gedichten scheut, Texten, die sich wie breite Sprachkaskaden über mich als Leser ergiessen. Sie verlangen von mir als Leser alles ab, reissen mich in eine Welt, der ich mich nur ungern stelle, die mich aus meiner Komfortzone drängen, mir meine wohlgefällige Sattheit vor Augen führen.

„die verbrechen“ ist ein vielschichtiges Buch, das mich in sechs Ebenen in eine Welt mitnimmt, die mir sonst verborgen bliebe, eine Welt aus Schmerz, Sehnsucht, Trennung und Verdrängung. Ein Buch, das einem in die Träume begleitet, wenn man Ronya Othmanns Gedichte vor dem Einschlafen liest. Legt man ihr Buch offen mit den Seiten nach unten aufs Nachttischchen, leuchtet einem der orange-grüne Umschlag entgegen, ein Bild, dass an aufgeschlagene Melonen erinnert, aber im Zusammenhang mit dem Titel „die verbrechen“ ganz andere Assoziationen provoziert.

Eine weitere Ebene offenbart sich in den Überschriften zu den vier „Kapiteln“, in die das Buch unterteilt ist. Vier Titel, die untereinander wie ein Vierzeiler erscheinen:

abgesang
ich habe gesehen
was nicht in den akten steht
was dir bleibt, ist diese wunde

Ronya Othmann «die verbrechen», Gedichte Hanser, 2022, 112 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-27083-1

„die verbrechen“ sind die Gedichte einer Vertriebenen. Von jemandem geschrieben, dem man nicht nur die Heimat verwehrt. Man zerstörte sie. Man mordete und verwüstete. Man nahm Leben und Geschichte. Eine Perspektive, die bei der Lektüre angesichts dessen, was gerade eben in der Ukraine geschieht, wie Faustschläge auf die Seele trommelt. Es ist die Stimme einer tief Verwundeten, eine Stimme, der ich verwundert lausche, weil sie sich nicht der Wut, dem Zorn und Hass ergibt, sondern in die „Schönheit“ jener innigen Liebe zu einer Welt eintaucht, die verloren ist, die man ihr genommen hat.

Vielleicht sind die Überschriften zu den Kapiteln genauso zu lesen, wie die Überschriften zu den einzelnen Gedichten. Auch wenn ich sie untereinander zusammenfüge, werden sie zu einer langen Spur, die sich durch den ganzen Gedichtband zieht:


dann bist du in die hitze gekippt. unter dir war dunst und über
dir das dach deines hauses
das wagenrad, der wegesrand
öldistel, kurkuma, walnuss, indigo
die hunde erkennen dich an deinen schritten und bellen nicht
staatenlos bin ich gekommen, staatenlos bin ich gegangen

Es sind starke Bilder, Sinneseindrücke einer überaus Empfindsamen. Reflexionen in ein Sein, das sich nur mehr an Erinnerungen, Träume und Gedanken koppelt. Verbindungen mit einer Welt, die rohe Gewalt, Vertreibung, Krieg und Mord wegriss. Ein Bewusstsein einer durch Krieg und Zerstörung Vertriebenen. Damals und heute in Syrien. Gedichtüberschriften, die mehr sind als Titel. Sie bohren sich ein. Ich brauche als Leser den Raum dazwischen.

Die letzten beiden Ebenen sind die Gedichte selbst und die Bilder, die sie in mir zurücklassen. Bilder, die sich unweigerlich mit jenen aus den Medien vermischen, seien es solche aus dem Syrienkrieg, der nicht erst mit dem Krieg selbst zu einem Drama wurde. Oder mit dem Krieg in der Ukraine, der auch nicht erst Ende Februar 2022 begann. Aus den Gedichten spricht die Kraft einer Stimme, die nicht akzeptieren will und kann, dass eine Welt untergegangen ist, die sich nicht von den Bildern trennen kann, die sie wie Tagträume mit sich herumschleppt, Erinnerungen an ein Damals, das nicht mehr existieren darf. Bilder einer immerwährenden Trennung.

„die verbrechen“ ist mehr als Lyrik. Die Gedichte erinnern mich an Gesänge voller Leidenschaft und Kraft, voller Sehnsucht und Liebe!

Am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2022 © Wortlaut

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u.a. den MDR-Literaturpreis, den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik, den Lyrik-Preis des Open Mike, den Gertrud-Kolmar-Förderpreis und den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne «OrientExpress» über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne «Import Export». Bei Hanser erschienen ihr Debütroman «Die Sommer» (2020), für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.

Ihre journalistische Arbeit kann man sich auf Torial ansehen.

Beitragsbild © Cihan Cakmak

Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand

Mag sein, dass Rolf Hermanns neuer Gedichtband «In der Nahaufnahme verwildern wir» als Naturlyrik katalogisiert wird. Was sie mit Bestimmtheit ist, denn die Natur ist Protagonistin, Objekt, Kulisse und Inhalt zugleich. Aber gerecht wird man dem Buch damit bei weitem nicht. Die Lyrik des ewigen Wallisers schlüpft förmlich in die Natur hinein, selbst dort, wo sie durch menschliche Eingriffe kontaminiert ist.

Seine Gedicht sind lange und kurze Kamerafahrten, «Nahaufnahmen», nicht nur an der Natur vorbei, sondern durch sie hindurch. Seine Art des Sehens erinnert mich an den Dokumentarfilm «Mikrokosmos – Das Volk der Gräser» von Claude Nuridsany und Marie Pérennou, der 1996 Furore machte und den Blick auf die Natur in eine ganz neue, überraschende Dimension brachte. Kamerafahrten und Slow Motion, als wäre man ein untrennbarer Teil von ihr. Nicht nur das Sehen auf die Natur, ebenso durch sie hindurch, aus ihr heraus.

Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-03853-116-6

«In der Nahaufnahme verwildern wir» ist mehr als ein Titel, er ist Programm. Eine Aufforderung, Ermunterung an ein Wesen, das sich in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr von dem entfernte, was wir heute Natur nennen und als unser Gegenüber empfinden, nicht mehr zu uns selber zählen. Hier der Mensch, dort die Natur. Rolf Hermanns Gedichte ziehen mich zurück in die Natur, an die trockenen Walliser Hänge, den Pfynwald an den Ufern der Rhone, die bewaldeten Bergflanken. Naturwesen sind wir längst keine mehr. Eine Rückverwilderung täte gut, zurück in den Dreck, in die Kälte, die Feuchte, die Hitze, die Unmittelbarkeit, zu jener echten Nähe, in der man nicht nur besucht, dick eingemantelt und beschuht der Natur als netter Kulisse begegnet, der man erzwungene Notwendigkeit zuspricht.

Rolf Hermann liess sich von den Gedichtzyklen Rainer Maria Rilkes beeinflussen, die dieser im Wallis in seinen letzten Lebens- und Schaffensjahren von 1924 bis 1926 in französischer Sprache schrieb. Er habe alles gelesen, was ihm vom Dichter in die Hände gefallen sei. Angefangen habe  die direkte Auseinandersetzung, die Transformation mit Rilkes kürzesten französischsprachigen Zyklus «Les Fenêtres». Er «schleuste» die Gedichte via Computer durch alle Sprachen, mit denen sich Rilke auseinandersetzte, ganz am Schluss ins Deutsche, um dann darauf wiederum dichterisch zu reagieren, neue Bilder, neue Zusammenhänge entstehen zu lassen.

Rolf Hermann erklärt dies eindrücklich an einem Beispiel:

Rilkes Original:

II

Tu me proposes, fenêtre étrange, d’attendre;
déjà presque bouge ton rideau beige.
Devrais-je, ô fenêtre, à ton invite me rendre?
Ou me défendre, fenêtre? Qui attendrais-je?

Ne suis-je intact, avec cette vie qui écoute,
avec ce cœur tout plein que la perte complète
Avec cette route qui passe devant, et le doute
que tu puisses donner ce trop dont le rêve m’arrête ?

Was der Computer generierte quer durch die Sprachen von Französisch ins Arabische usw. ins Deutsche:

II

 Ich war ein spezielles Feld angeboten, hoffe ich.
Fast seine beige Vorhang destabilisieren.
Wenn die Verbindung Fenster oder gehen?!
Oder das Fenster zu schützen? Wer würde nicht erwarten?

 Sie sind völlig intakt aus diesem Leben gehört zu werden,
Alles vollständigen Verlust des Herzens?
Auf diese Weise und Zweifel
Es kann Ihnen aufgehört zu träumen?

Was Rolf Hermann damit machte:

I

hat es in ihnen aufgehört zu träumen

jenseits der aufbäumenden räume 
flirren diesseitslider 
im irisierenden takt der silberpappeln
ein verlust der grossraum-herzen

das waren-ich ist botenstoff im angebot
das illusorisch lodernd hin zum fenster geht 
und eine träne schützt 
die da nicht warten wird

Rolf Hermann durchstreift gleich mehrere Landschaften synchron, jene seiner Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend, jene seiner Heimat, dem tiefen Tal, den steilen Hängen und jene seines schreibenden Bildervaters Rilke, der noch immer atmosphärisch im Rhonetal wirkt. Sein Langedicht «eins» versetzte mich bei der lauten Lektüre in einen wahren Sprachrausch. Ein Gedicht, das eindrücklich beweist, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!

Rolf Hermann ist Gast am Wortlaut-Literaturfestival in St. Gallen, mit «In der Nahaufnahme verwildern wir» Teil der Eröffnung am 25. März und am 27. März in einer von mir moderierten Lesung. Wortlaut-Programm

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, Kanton Wallis, lebt als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Er schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Spoken-Word- und Theatertexte. Das Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Neben Einzellesungen aus seinen Büchern tritt Hermann mit zwei weiteren Projekten auf: der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und dem Literaturpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Flüchtiges Zuhause» (2019).

Rezension «Eine Kuh namens Manhattan» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Das Leben ist ein Steilhang» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Dirk Skiba

Walle Sayer … lesen und staunen

Per Zufall entdeckte ich Walle Sayers Texte auf einem Blog mit literarischen Alltagsbetrachtungen. Da schreibt er über eine späte Heimfahrt nach einem Rockkonzert übers süddeutsche Land, bezeichnet Autobahnen als Krampfadern – und mir war die Landschaft, auch die sprachliche, sofort vertraut.

Gastbeitrag von Alice Grünfelder

Walle Sayer lebt und schreibt in Horb, kam nach diversen «Kneipensemestern» in einer selbstverwalteten Kneipe – «Studium des Lebens», nennt Walle Sayer diese Zeit – übers Lesen zum Schreiben, zu Gedichten als Gegenwelt zu seiner Kaufmannslehre in einer Bank, später engagierte er sich in der Friedensbewegung. Er spielte das Grosse im Kleinen durch, die ersten Bücher, so sagt er in einer online-Lesung im April 2021, waren ungelesen, ungesehen, sagt aber auch, dass er diesen Schonraum geschätzt habe, in dem er sich entwickeln konnte, unterstützt von gelegentlichen Stipendien, die «schon wichtig» waren.

Ich beginne mit der Lektüre «Beschaffenheit des Staunens» und stosse erneut auf vertraute Bilder von Mofarockern und Jugendlichen auf einem «Verlassenheitsareal, auf dem man nur Fehlzeiten verbringen kann. Von den Jugendversehrten, die sich untereinander mit Stummelsätzen verständigen, erzählt einer nebenbei, dass die Mutter gestern im Suff sein Sparschwein aufgebrochen habe. (…) Als von irgendwoher (…) der Wortführer hallend gerufen wird, dreht der einfach das dröhnende Gerät weiter auf, bis zum scheppernden Anschlag.» 

Walle Sayer «Mitbringsel», Klöpfer Narr, 122 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7496-1011-2

Wie Walle Sayer fern von jedem Pathos Landschaften und Alltagsmomente beschreibt, ist mir indes neu, diesen Ton aus der Provinz habe ich so noch nie gelesen und werde fortan an keinem Holzschopf mehr vorbeigehen können, ohne an Walle Sayer zu denken, der in seiner archäologisch angelegten Prosaminiatur «Betrachtung» übereinandergeklebte Plakate von Dorfversammlungen, Verkaufsmessen, Sichelhenkeln und damit einen Flickenteppich von Triumpf und Vergänglichkeit beschreibt. So könnte ich weiter staunen und schreiben über seine lakonischen Notate zum Beispiel über Menschen und ihre Liebe: «Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen.» In solchen Zeilen zeigt sich der Meister der Kürze oder, wie Denis Scheck es treffend sagt, ein Misstrauen gegenüber jeder Ausführlichkeit. In dem Band «Mitbringsel» treibt er es damit auf die Spitze, indem er Wörter aneinanderreiht, die er oder sein Lektor gestrichen haben.

Seine leichte Sprache entfaltet eine starke Wirkung, das Hingetuschte wirkt bei Walle Sayer keineswegs leicht, das Leben und Sterben ist es gleichermassen nicht, denn „die Kehrseite der Kehrseite ist noch lange nicht die Vorderseite.“ So notiert er es in einem nicht ganz ernst gemeinten Sitzungsprotokoll.

So kann nur einer schreiben, dem „Wachsein vor dem Aufsein“ eingeschrieben ist in ein Leben abseits der Metropolen, der nach Wortkrumen in seinem Dialekt sucht wie ein Archivar, und diese Wörter so behutsam einsetzt, des Klanges wegen oder auch nur, wenn es kein anderes adäquates gibt, dass sie aufleuchten statt abzustossen. Und nein, er schreibt nicht über sich selbst, stülpt nicht das Innen ins Aussen, sagt stattdessen: «Wohl bietet die eigene Biografie Material, aus dem man schöpft, aber man muss nicht über sich selbst schreiben.» Vielmehr sucht Walle Sayer im Alltag nach einem «Tagesleck», das er mit einem Satz abdichten will, damit es nicht im Alltagsrauschen untergeht, so erklärt er sein Schreiben.

Walle Sayer «Nichts, nur», Edition Klöpfer, 2021, 240 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-520-75501-8

Der Verlag schenkte Walle Sayer zu seinem 60. Geburtstag «Nichts, nur». Nichts passt wohl besser zu Walle Sayer als dieses Understatement. Das Buch ist Querschnitt und Zwischensumme zugleich seiner Poeme und Prosaminiaturen. «Nichts, nur», so sagte es die Moderatorin anlässlich der Buchvorstellung im April 2021 in Dornstetten, könnte vor jedem seiner Gedichte stehen.

Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. 
Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht.

Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab.
Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.

Walle Sayers Werke sind meistens im Verlag Klöpfer&Meyer erschienen, einen Überblick über seine Bücher lässt sich am besten auf literaturport nachlesen. 

© Burkhard Riegels-Winsauer

Beitragsbild © Charly Kuball

HEARTBEATS – Lesung im Gedenken an Hans Peter Gansner (1953–2021) & Ira Cohen (1935–2021)

von Florian Vetsch

„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.

Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.

herzlinie

ich habe gelesen: der daumen des prokurators
war nach unten gerichtet und eine hohle hand
wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt
während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten
errichtend das weltreich des faustrechts.
ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt
des sängers im stadion von santiago de chile
und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter
und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder
im sinternden licht des morgengrauens.
du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen
und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt
um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand
und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte
an die zellentür hinter der er erstickt.
und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen
und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich
nicht krümmen sondern ausgestreckt
vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit
seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes
bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht
die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel
im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen
händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten
und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen
eine neue und nie gekannte herzlichkeit

(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)

Webseite von Hans Peter Gansner

Wikipedia Eintrag

Viceversa Eintrag

Autoreneintrag Songdog Verlag

Interview in der Schaffhauser Zeitung

 

LAST POEM

When I have nothing
more to say
will some greater truth
come forth to fill the page
with an understanding
never experienced before?
Will the precious yellow satin
cover my thoughts & speak
of secrets hidden from my
deepest self?
After all the scratching out
will anything remain to say
that recovery follows crucifixion
that loss engenders victory
in the passing of things,
that to stand alone
is to encounter the world
and be done with it once &
                    for all

Dec 27, 2006

DAS LETZTE GEDICHT

Wenn ich nichts mehr
zu sagen habe
wird dann eine höhere Wahrheit
eingreifen, um die Seite
mit einem Verstehen zu füllen
das noch nie zuvor erfahren wurde?
Wird die kostbare gelbe Atlasseide
meine Gedanken verhüllen & von
Geheimnissen sprechen, die meinem
tiefsten Selbst verborgen sind?
Nach all dem Geschabe wird
noch etwas zu sagen bleiben
dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt
dass im Lauf der Zeit
Verluste den Sieg erzeugen
dass wer allein steht
der Welt begegnet
und damit hat sich’s erledigt, ein für
                       allemal

27. Dez. 2006

(aus Ira Cohen: „Alcazar – 17 Poems / 17 Gedichte“. Moloko Print. Pretzien 2021)

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

Ira Cohen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) 

Ira Cohen: KINGS WITH STRAW MATS (1998)

Ira Cohen im Interview 1999

The Ira Cohen Archive LLC

Florian Vetsch über Ira Cohen im Saiten

Beitragsbild (Gansner) © Helen Brügger, (Cohen) © Florian Vetsch

Jürg Halter «Gemeinsame Sprache» Gedichte, Dörlemann

Als ich das erste Mal vor mehr als 15 Jahren Gedichte von Jürg Halter las, war das für mich die Wiederentdeckung der Lyrik, nachdem ich sie für Jahrzehnte aus den Augen verloren hatte, man mir während der Ausbildung den Zugang zu ihr durch Deutungszwang verschüttet hatte. Damals war Jürg Halter ein Rebell mit ungewohntem Ton. Heute ist Jürg Halter die Stimme eines Bewusstseins!

Er schreibt auf allen Kanälen, mischt sich ein, mischt mit. Er liest, performt, singt und spricht, mal im Takt, mal mit Schlagzeug, mal in Talkshows oder mitten im Grünen, manchmal im Spiegel einer Pfütze, manchmal in einem proppenvollen Saal. Jürg Halter ist ein Phänomen, ein Unikum. Mal scharfzüngig und beissend, mal lieblich und umgarnend, mal heiss und leidenschaftlich, mal mahnend und zornig. Man kann sich leicht verunsichern lassen, weil sich der Tausendsassa nicht fassen lässt, weil er unermüdlich sein Ding durchzieht, weil er ebenso schonungslos wie ehrlich ist, weil er Sprache gewordenes Abbild einer Generation geworden ist, die weder hinnimmt noch akzeptiert, weder kuscht noch blökt.

Defektes Leben

Wir sind krank nach uns selbst,
an den schönen Orten der Welt,
lassen uns sagen, wo diese liegen,
sehnen in die Weite, sehnen uns matt.

Wir sparen uns für eine Zukunft auf,
um die wir uns selbst betrügen.
Wir treten besonnen ans Feuer,
niemals wollen wir brennen.

Wir verschwenden uns wohltemperiert,
betäubt von der Hitze, die uns fehlt,
warten wir – dass das wahre Leben beginne
(etwa nach der nächsten Eiszeit).

Solange wir unseren Tod verdrängen,
kommen wir nicht lebendig zur Wahrheit,
danach zu leben heisst zweifelsohne nicht
täglich vor Todesangst zu sterben.

 

Jürg Halter «Gemeinsame Sprache» Gedichte, Dörlemann, 2021, 152 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03820-089-5

Nach einem halben Dutzend Gedichtbänden, einem Roman („Erwachen im 21. Jahrhundert» bei Zytglogge) und unzähligen „Zetteln“ auf denen er in den Sozialen Medien den Lauf der Geschichte kommentiert, erschien bei Dörlemann sein neustes Werk „Gemeinsame Sprache“. Ein Titel, der versöhnlich klingt. Aber das Versöhnliche zeigt sich wenn überhaupt in den Liebesgedichten. Allen anderen Gedichten ist die Gemeinsamkeit eben höchstens die gemeinsame Sprache, das Wissen um den Schmerz in all den Abgründen und Unvereinbarkeiten des Lebens. Sein erster Gedichtband „Ich habe die Welt berührt“ war der Versuch, der globalen Zersetzung etwas entgegenzusetzen. Mit „Gemeinsame Sprache“ tut er es wieder, nicht weniger zornig, nicht weniger leidenschaftlich.

Kunst

Wenn ich für meine Antwort auf die Frage,
ob ich von der Kunst leben könne,
jees Mal Geld kriegt,
könnte ich alleine von dieser Frage leben.
Aber das wäre keine Kunst.

 

Jürg Halter ist der Beweis, was Lyrik alles kann. Dass Lyrik nicht bloss die Seele streicheln muss. Dass Lyrik mitreissen, vielleicht sogar niederreissen kann. Dass Lyrik alles andere als lieblich, entrückt und verklärend sein muss. Und „reizend“ dabei einen ganz eigenen Dreh bekommt. Jürg Halter denkt politisch, gesellschaftskritisch, ist sich für nichts zu schön, wettert und schimpft, um sich im Handumdrehen mit aller Zärtlichkeit an ein Du zu wenden.

Glimmen

Montagnacht empfahl ich mich
fraglos deiner Traurigkeit, 
im Auto vor dem Haus,
während du rauchend
in der dunklen Küche sasst –
als wäre Liebe zu ertragen.

 

Alle drei Gedichte aus: Jürg Halter, «Gemeinsame Sprache» © 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich. Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlags!

«Glimmen», der Song und das Video zum Buch «Gemeinsame Sprache» (Dörlemann, 2021). Musik: Mario Batkovic. Bild: Rob Lewis.

Jürg Halter, 1980 in Bern geboren, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Lyriker, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den USA, in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Rob Lewis

Kurt Marti: Gedichte und Prosa zu seinem 100sten Geburtstag, Wallstein

Zwei Grosse der Schweizer Literatur feiern dieses Jahr ihren 100sten Geburtstag. Der eine ein Pfarrerssohn, der andere Pfarrer selbst. Der eine weit über den ganzen Globus bekannt als Säule der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der andere nicht weniger geschliffen mit seiner Sprache, aber stets im Schatten anderer geblieben. Friedrich Dürrenmatt und Kurt Marti. Der eine Stern leuchtet hell, der andere hätte auch das Zeug zu einem Fixstern.

Friedrich Dürrenmatt liebte die grosse Bühne, sei es als Theaterautor oder als Stimme der Nation. Was er drei Wochen vor seinem Tod anlässlich einer Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises dem staunenden Publikum vortrug, grub sich tief in das Bewusstsein der Gesellschaft ein. Unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ rechnete Friedrich Dürrenmatt mit der Selbstgefälligkeit der Schweiz gnadenlos ab. Man lachte und applaudierte, aber im Nachgang der Rede fielen die Reaktionen schweizweit heftig aus. Der Pfarrerssohn aus Konolfingen hielt in seiner letzten „Predigt“ der Schweiz einen unangenehm flirrenden Spiegel hin. Zum letzten Mal, beissend pointiert, brillant formuliert. Friedrich Dürrenmatts Literatur ist durchaus moralisierend. Auch seine Bilder, sein malerisches und zeichnerisches Schaffen spart nicht mit unverhohlener Anklage. Dürrenmatt zeigt nicht nur auf die wunden Flecken, er bohrt mit Vorliebe tief darin.

Kurt Marti, von dem man als Pfarrer durchaus erwarten könnte, dass er mit dem Moralfinger mahnt, sich hoch auf der Kanzel an die armen SünderInnen richtet, die in ihrer Begrenztheit am Kleinen und Grossen scheitern. Aber Kurt Marti tat dies nie, oder dann mit so viel Verständnis für die Schwächen der Menschen, dass das Moralische in der Liebe, die in seinem Schreiben steckt, kaum sicht- und hörbar wird. Kurt Marti predigt nicht, weder in seiner Prosa noch in seiner Lyrik. Umso mehr ist sie durchsetzt von der Menschenliebe des Mannes, seiner überaus feinen Wahrnehmung, seinem Witz und Schalk und seinem Gespür für das Surreale im Realen. Zugegeben, ich bin kein Marti-Fachmann. Zugegeben, bisher stand nur ein einziges Buch im Regal meiner Bibliothek („Ein Topf voll Zeit“). Aber das muss und soll sich ändern. Kurt Marti hat ein reiches Werk hinterlassen. Und wer sich wie ich in den Kosmos Kurt Marti hineinstürzen will, dem erleichtert der Wallstein Verlag mit zwei sorgfältig edierten Werken aus Kurt Martis Nachlass diesen Einstieg.

Nun veröffentlicht der Wallstein Verlag „Alphornpalast“ mit Prosatexten und einem Vorwort von Franz Hohler; Texte, die bisher unveröffentlicht oder kaum nachzulesen waren und „Hannis Äpfel“, Lyrik aus dem Nachlass mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wohl kaum ein besserer Einstieg in das vielfältige Werk Kurt Martis. Beispielhaft aus dem Prosaband „Alphornland“ hier ein Text, den der Wallstein Verlag literaturblatt.ch freundlicherweise zur Verfügung stellte:

Irrläufer

Mit vermutlich gross gedachten, dann aber nur fahrig ausgefallenen Gesten ging er laut redend durch belebte Gassen. In der Absicht offenbar, beschwören und aufrütteln zu wollen, sprach er auf das Volk ein, das jedoch an ihm vorübereilte. Manche dachten wohl, er sei besoffen. Andere wichen ihm aus, verlegen oder sogar ärgerlich und schimpfend. Aber er redete nur noch heftiger, noch lauter, geriet zeitweilig ins Brüllen. Sturmvogel oder sturmer Vogel? Eine ziemlich kauzige Erscheinung mittleren Alters jedenfalls, mit strähnig wirren Haaren und abgetragener Lederjacke. Wie, wenn sein Reden vielleicht doch bedenkenswert gewesen wäre? Gibt es denn nicht genug Alarmzeichen dafür, dass wir einer Katastrophe entgegentreiben? Alarmzeichen, die uns erschrecken und zu einem Sinneswandel bewegen müssten? Nur eben, wer schon möchte einem kauzigen Schreihals zuhören, der sich zu einer so ungeeigneten Tageszeit, es war kurz nach Mittag, die Angestellten strebten wieder ihren Büros zu, auf eine Weise ereiferte, die lächerlich wirkte? So überanstrengte er seine Stimme noch mehr, sie überschlug sich immer öfter, bis dass er nur noch heiser zu krächzen vermochte. Und plötzlich dann war er in ein schattendunkles Seitengässlein enteilt und verschwunden. Niemand folgte ihm, nicht einmal ein Polizist.

(aus „Kurt Marti Alphornpalast“, Prosatexte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Marti und Mani Matter (1970), © Kurt Marti-Stiftung

Vielen seiner Texte entspringt unmittelbare Aktualität. Es ist, als ob Kurt Marti auch mit diesem Text nicht nur die Gegenwart, sondern einen, den Nerv der Zeit trifft. Ein Entrückter mitten in den Eingespannten. Die Szenerie erinnert an einen Künstler, der auf seiner einsamen Bühne performt, nur zur falschen Zeit, am falschen Ort. Was tut Kultur anderes, als oftmals aufschrecken, um dann hinter einem Vorhang im Halbdunkel wieder abzutauchen. Dort applaudiert die Menge, um danach alles beim Alten zu lassen. 
Kurt Martis Texte rütteln am Normalen, schlagen ein anderes Licht in die Szenerie der Normalität.

2017, nach Kurt Martis Tod, am 11.Februar, fand man in seinem Nachlass in seinem Arbeitszimmer mehrere Ordner, die er nicht wie fast alles andere, dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hatte. Die folgenden zwei Gedichte, die der Wallstein Verlag literaturblatt.ch ebenfalls zur Verfügung stellte, zeigen auf der einen Seite den Schalk, den Wortwitz und seine Nähe zur Konkreten Poesie und auf der anderen Seite seine grosse Liebe zu seiner Frau Hanni Morgenthaler, mit der er Jahrzehnte verheiratet war und deren Tod ihn 2007 zum Zurückgebliebenen machte.

etüde für ballhorn

aller umfang ist schwer
man soll den tag nicht vor dem absinth loben
ein unglück kommt selten um eins
reich und reich gesellt sich gern
was hänschen nicht lernt lernt hans immer mehr
muhe recht und scheue niemand
was lange weilt wird endlich wut
wie man sich fettet so siegt man
alte liebe kostet nicht
morgenstund hat blond im mund

(aus „Hanni“)

Versuch neulich,
den Atem anzuhalten,
möglichst lange, um dir
nachfolgen zu können.
Kinderei! So simpel
lassen Atem und Leben
sich nicht abschalten,
bin kein Apparat, 
aber auch kein indischer Yogi, 
bin Witwer jetzt –
ein Zu- und Zivilstand, 
der mir total missfällt.
Das einzig Gute an ihm:
Dir ist dadurch
die Witwenschaft zum Glück
erspart geblieben.

(aus „Kurt Marti Hannis Äpfel“, Gedichte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Martis Engagement war eingetaucht in Liebe; der Liebe zu seinen Nächsten, dem Menschen überhaupt, der Schöpfung. Sein Engagement war politisch, gesellschaftlich und wirkt bis heute in die Kultur, der Literatur im Besonderen. 

© Hektor Leibundgut

Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren. Nach dem Theologiestudium in Basel bei Karl Barth wurde er Pfarrer in Niederlenz bei Lenzburg und später an der Nydeggkirche in Bern. Seit den 1950er Jahren veröffentlichte er neben theologischen und publizistischen Texten auch literarische Werke, erste Poesie- und Prosabände entstanden. Er erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Literaturpreis des Kantons Bern (1967 und 2010), den Johann-Peter-Hebel-Preis (1972) sowie den Kurt-Tucholsky-Preis (1997). Marti lebte bis zu seinem Tod 2017 in Bern.

Kurt Marti Stiftung

Beitragsbild© Im ElfenauPark, Bern (2011), © Urs Baumann

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso

Was aus einer Begegnung werden kann, beweist der Gedichtband „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“. Hussein Bin Hamza, syrischer Dichter und eine der bedeutendsten poetischen Stimmen seines Landes, traf an den Heidelberger Literaturtagen 2018 auf die Autorin, Veranstalterin und heutige Verlegerin Monika Lustig. Der Beweis dafür, dass Literaturtage und -festivals nicht einfach Ansammlungen von Veranstaltungen sind, sondern Orte schöpferischer Begegnungen, weit über Kulturen hinaus.

Hussein Bin Hamza lebt derzeit in Hannover im Exil, weit weg von seiner Heimat, in der Krieg, systematische Verfolgung und Terror noch immer Alltag sind. Auch wenn das Land, der Despot, Vertriebene und Gebliebene aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerutscht sind. Es sind Hunderttausende geflohen. Viele von ihnen mit Schlauchbooten übers Meer. Tausende von ihnen haben ihre Flucht mit dem Leben bezahlt. Alle bezahlen sie mit unauslöschlichen Erinnerungen, mit Gefühlen der Einsamkeit und der Sehnsucht nach einer Heimat, die in Trümmern liegt.

Im Gedicht Grenzöffnung beschreibt Hussein Bin Hamza genau das, und doch ganz anders als ich es erwartet hätte.

Grenzöffnung

Wären wir doch bloss im Asyl unserer Träume geblieben
Hätten uns vorgetastet, mit verbundenen Augen
als jagten wir verstreuten Sternen nach
klopften an unsichtbare Türen
Wären wir bloss in fernen Wäldern durch den Schlamm gerobbt
samt unserem Gepäck, randvoll mit Kleidung und Erinnerung
Hätten wir bloss nicht unsere Vergangenheit ins Meer geworfen
um die Schlepperboote zu erleichtern
Wären wir doch dichtgedrängt wie Sardinen in der Büchse
in Turnhallen und Klassenzimmern geblieben
die in den Sommerferien als Unterkünfte dienten
Hätten die Zeitungen und Nachrichtensendungen bloss keine Fotos von uns verbreitet
fiel doch ohnehin keinem auf, dass die Ertrunkenen
gar nicht mit auf dem Bild waren
Wären wir doch nie gezwungen gewesen, neue Sprachen in den Mund zu nehmen
die schmeckten wie Gerichte, die wir als Kinder nicht mochten
Hätten wir doch bloss nicht alles hinter uns gelassen
nur um eine neue Einsamkeit zu erdulden
Wären wir doch Flüchtlinge im eigenen Land
und nicht dort und nicht hier geblieben
hätten wir weiterhin den verstreuten Sternen nachgejagt, wie Blinde
und an unsichtbare Türen geklopft
Hätten die bleiernen Erinnerungen uns doch in die Tiefe gezogen
noch bevor wir das Ufer erreichten
Wären wir doch bloss hängengeblieben
zwischen dem, was wir zurückliessen
und jenen neuen Träumen, die wir unbeholfen verfolgten
Hätten sie doch nie die Grenzen für uns geöffnet!

ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود

ليتنا بقينا لاجئين داخل أحلامنا القديمة
نتقدّم بعيونٍ معصوبة
كما لو أننا نطاردُ نجوماً منثورة أمامنا
أو كأننا نطرق أبواباً غير مرئية
ليتنا لم نلوّث ثيابنا بوحل الغابات الأجنبية
ليتنا لم نجرجر حقائبنا المتورّمة بالثياب والذكريات
ليتنا لم نرْمِ ماضينا في البحر كي تخفّ حمولتنا في قوارب المُهرّبين
ليتنا بقينا مكدّسين كأسماك السردين 
في المعسكرات وصالات الرياضة ومدارس الصيف الفارغة
ليت الصحف ونشرات الأخبار لم تنشر صورنا 
التي لن ينتبه أحد أنها لا تضمُ من غرقوا منا
ليتنا لم نُجبر على مضغ لغاتٍ جديدة طعمُها يشبه الطبخات التي كرهناها في طفولاتنا
ليتنا لم نترك كل شيء خلفنا
واستدرنا لنواجه
معاً وعلى حِدة
عزلاتنا الجديدة والشاقة
ليتنا بقينا لاجئين لدى أنفسنا
 ليتنا بقينا لا هنا ولا هناك
نطارد كالعميان نجوماً منثورة أمامنا
أو نطرق أبواباً غير مرئية
ليت ذكرياتنا الثقيلة أغرقتنا قبل أن نصل إلى الشواطئ
ليتنا بقينا عالقين
بين ما تركناه
وما ركضنا خلفه كالعدّائين الهُواة
ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود.

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso, 2020, 98 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-9819763-6-6

Was sich in seinen Wiederholungen wie ein flehentliches Gebet liest, ist die Zusammenfassung all jenen Schreckens, durch das Elend von Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit nie zu tilgen ist. Hätten und Wären werden zu Peitschenhieben auf die eigene Haut und zeigen die Lähmung, nachdem man sich in existenzieller Bedrohung zwischen zwei Übeln entscheiden musste, im Wissen darum, dass man den anderen Weg immer als Vorwurf seiner selbst hören wird. Hussein Bin Hamzas Gedicht ist schonungslos, wütend und doch nur eine Anklage gegen sich selbst, das eigene Dilemma. Kein Rundumschlag, keine Anklage gegen die Welt, die zuschaut. Aber Hussein Bin Hamza nimmt mich mit, nimmt mich ganz nah an seinen Schmerz. Einen Schmerz, der mir unmöglich gleichgültig sein kann. Einen Schmerz, der sich durch seine Gedichte auffächern muss, damit er zurück in die Köpfe und Herzen der Verschonten kommt.

Ein anderes, immer wiederkehrendes Thema in den Gedichten ist die Einsamkeit. Das Getrenntsein von Heimat und nicht zuletzt von sich selbst.

Einsamkeit

Jeden Tag gehe ich
von zu Hause zur Arbeit
von der Arbeit wieder nach Hause
Ich bin ein alter Bus
der durch die grosse Stadt kurvt
doch Fahrgäste sitzen keine darin
nur meine Einsamkeit fährt er spazieren
vertreibt sich die Zeit mit ihr
von Haltestelle zu Haltestelle.

وحدة

كلّ يوم
من البيت إلى العمل
ومن العمل إلى البيت
أنا حافلةُ نقلٍ هرمة
في هذه المدينة الكبيرة
ولكنها خالية من الركاب
إنها فقط
تُنزّهُ وحدتي
وتلهو بها بين مكانينْ.

Einsamkeit ist zum dauernden Begleiter geworden. Eine Einsamkeit, die sich wie eine fremde Haut anfühlt, die einem distanziert von dem, was geblieben ist. Die Lakonie, mit der Hussein Bin Hamza darüber schreibt, offenbart die Tiefe der Zerrissenheit. Der Schalk darin die Weisheit des Dichters, sich von diesen Gefühlen nicht auffressen zu lassen. Hussein Bin Hamza lädt nicht ab, er zeigt mir Unabänderliches, dem er sich stellt, von dem er sich nicht schlucken lässt.

Ein anderes Themenfeld in „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“ sind die Gedichte über das Schreiben selbst.

Verlorene Gedichte

Viele Gedichte habe ich geschrieben
Auf die Rückseite von Strom- und Telefonrechnungen
auf Bank- und Schulgeldquittungen
auf Papierschnipsel, die mir in den Hosentaschen zerkrümelten
auf Tischkanten und auf Stühle
auf die freien Ränder von Zeitungen und Büchern
Auf Theater- und Kinokarten
Viele Gedichte habe ich geschrieben
Und sie hätten mich zu einem grossen Dichter gemacht
Wären sie nicht alle verlorengegangen
Alle ausser diesem hier.

قصائد ضائعة

كتبتُ قصائدَ كثيرة
على قفا فواتير الهاتف والكهرباء
على إيصالات البنك والأقساط المدرسية
على قصاصاتٍ احتفظتُ بها وتهرَّأت في جيوبي
على أطراف الطاولات والكراسي
على الهوامش الشاغرة في صفحات الجرائد والكتب
على تذاكر المسرح والسينما
كتبتُ قصائد كثيرة ربما كانت ستجعلُ مني شاعراً عظيماً
ولكنّي أضعتُها
هذه القصيدة
نَجَتْ.

Hussein Bin Hamza musste neu beginnen, vieles, fast alles zurücklassen. Hussein Bin Hamza hat eine lange Spur hinter sich gelassen, eine Spur, die sich verloren hat. Hussein Bin Hamza schreibt immer und von sich selbst, dass er in ein Haus geboren worden sei, „in dem das geschriebene Wort grösste Wertschätzung, fast heilige Verehrung erfuhr“. Aufgewachsen in einer Welt, in der das Buch schon immer ein Fluchtpunkt gewesen war und nun, nach der Flucht nach Deutschland der Beginn einer „neuen“ Existenz auf den Trümmern des Verlorenen.

Ich wünsche dem Dichter viele neue LeserInnen und Leser, denen er wie mir die Tür zu einer andern Welt öffnete. Einer Welt, die mitten unter uns Verschonten existiert.
Und ich wünsche dies auch der neu gegründeten Edition Converso, die sich mit ihrem Bestreben, den Kulturen rund ums Mittelmeer über die Nationen hinaus Gehör zu verschaffen und sich dabei viel vorgenommen hat.
(Die arabischen Gedichte sind auch im Buch den deutschen Übersetzungen von Günther Orth gegenübergestellt. Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diese veröffentlichen zu dürfen.)

Übersetzung des Gedichts im Titel:

Vergangenheit

Unsere schwere Vergangenheit
zieht uns unter Wasser, noch bevor wir die Küste erreicht haben
Wir Syrer.

© Hussein Bin Hamza

Hussein Bin Hamza wurde in einer kurdischen Familie im syrischen Al-Hasaka geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten poetischen Stimmen seiner Generation in der arabischen Welt. An der Aleppo University studierte er Wirtschaft. 1995 zog er nach Beirut und arbeitete als Redakteur und Kritiker für führende libanesische Zeitungen und veröffentlichte kritische Artikel über Lyrik, Prosa, Theater und Kunst. Er leitete den Verlag des Instituts für irakische Studien.

Günther Orth geboren 1963 in Ansbach, studierte Islamwissenschaft, Geografie und Soziologie in Erlangen. Er promovierte zur modernen Literatur des Jemen und war Dozent für Übersetzung und Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Universitäten. Er übersetzt Literatur aus dem Arabischen ins Deutsche und arbeitet als Konferenzdolmetscher. Orth lebt als Dozent, Dolmetscher und Übersetzer für Arabisch in Berlin.

Isabella Krainer «Vom Kaputtgehen», Limbus

Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Band „Vom Kaputtgehen“.

von wegen

vater war dafür
sagte nur
deswegen

verwegen

mutter fragte wofür
dachte nur
weswegen

verlegen

krieg vor der tür
kämpfe nur
entlegen

von wegen

 

Wie an manchen Abenden wollte ich meiner Frau vor dem Schlafengehen noch ein paar Gedichte vorlesen. Immer liegt ein Gedichtband auf meinem Nachttisch. Nicht dass ich nur vor dem Einschlafen Gedichte lese. Aber sie blenden noch einmal ein Licht in meine Seele. Und manche Lichter wirken bis in die Nacht hinein.

Ich versuchte es mit dem neuen Gedichtband einer bekannten Autorin, der die Rezeption meist zu Füssen liegt. Die Gedichte aber prallten ab, trotz der glänzenden Verpackung. Wir lagen beide ziemlich ratlos in den Laken. So stand ich noch einmal auf und holte ein neues Buch aus der Bibliothek, eines aus dem Regal der «wartenden Bücher». 

Was dann passierte, als ich mich wieder unter die Decke begeben hatte, in der Hoffnung, meine Frau sei noch nicht in den Schlaf hinüber gerutscht, gab es noch nie. Zum einen lachte meine Frau während des Vortrages immer wieder laut auf, zum andern reihte sich Gedicht an Gedicht. Bei den Mundart-Gedichten der geborenen Kärntnerin las meine Frau, ebenfalls Kärntnerin.

Es wurde spät und wir mussten ihr Buch vorsätzlich weglegen, um nicht gleich an einem Abend den ganzen Spass in grossen Schlucken zu geniessen. Isabella Krainers Werk ist es Wert, in kleinen Portionen zu verkosten.

manchmal

manchmal möchten möhren
eingesetzt
vielleicht auch zu höchstleistungen
angetrieben
oder mehr noch
wegen
medial produzierter minderwertigkeitskomplexe
karotten genannt
und überhaupt
attraktiver
werden

 

Isabella Krainer «Vom Kaputtgehen», Limbus, 2020, 91 Seiten, CHF 18.90, ISBN 978-3-9903917-0-9

Die Dichterin mäandert in Alltäglichkeiten, Situationen mit viel Wiedererkennung, durch ein ganzes Leben, einen ganzen Kosmos. Ihre Lyrik ist direkt und ungekünstelt, nicht verkopft und alles andere als unzugänglich. Manchmal schliessen sich ganze Geschichten auf, Szenerien, die neben und zwischen den Zeilen ein Vielfaches von dem entfalten, was die knappe Dichtkunst der Schriftstellerin auszeichnet.

Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich. Und wenn sich dann auch noch eines ihrer Gedichte reimt, dann ist es, als würde sie noch einen draufgeben, als packe sie der sprachliche Übermut.

selbst ort gedanken

ich
ist ein
ort

an den
ich
gehe

wenn
ich
bleibe
wer ich bin

 

Und ganz nebenbei; Wer den Limbus Verlag noch nicht entdeckt hat, der sollte sich einmal Zeit nehmen, sich auf dessen Webseite zu tummeln. Neben all den literarischen Leckerbissen – was für schöne Bücher! Gewisse Verlage haben es geschafft, im Erscheinungsbild ihrer Bücher einen Wiedererkennungseffekt zu generieren. Das schafft Limbus mit einem Teil seiner Veröffentlichungen, vornehmlich mit seiner Lyrik, genauso. Ein vielsinniges Bucherlebnis!

(die hier veröffentlichten Gedichte aus Isabella Krainer Gedichtband «Vom Kaputtgehen» mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tina Brunner

Lisa Elsässer «schnee relief», Wolfbach

Warum einen Gedichtband lesen, der den Schnee besingt. Jetzt, wo die Sonne brennt, die Hitze flirrt und Schnee und Eis zur Erinnerung werden. Weil Lisa Elsässer in ihrem neusten Gedichtband den Schnee als Zustand beschreibt, Schnee in seinen Aggregatzuständen. Kein Zustand zwischen Wasser und Eis, so wie die Lyrik kein Zwischending ist zwischen Erzählen und Gesang.

Lisa Elsässer ummantelt sich mit Schnee, steht in ihn hinein, fühlt sich aus Räumen hinaus in den Schnee und vom Schnee hinein in Innenräume. Sie geht durch den Schnee, durch die Landschaft, schreitet durch Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, die sie einnehmen, begleiten, durchdringen. Schnee ist das Weisse, das das Denken zudeckt, vergessen macht, was darunter liegt, was für eine Weile in Starre verborgen bleibt. 

Im Gedicht „schnee von gestern“ beschreibt die Dichterin genau das, eine Vergangenheit, die in einem Gespräch mit einem Gegenüber von der Redewendung zur schmerzhaften Geste, einem wegwischenden Kommentar wird.

3 Gedichte in Fragen eingebettet:

schnee von gestern

es regnete bindfäden
weiss waren nur die häuser
die möwen der rand einer
zeitung und der pappbecher

unsere schuhe schlürften wasser
und durstig waren auch wir
doch es schneite nicht
schnee von gestern sagtest du

meintest den winter vor jahren
jenen regen den windzerfetzten
schirm die weissgetränkte gischt
das gestern voller schnee doch

es schneite nicht

In ihrem Gedicht „schnee von gestern“ offenbart sich mir ein gemeinsamer Spaziergang. Nicht einfach ein Spaziergang, um sich Bewegung zu verschaffen. Da wird nicht viel gesprochen, auch nicht mehr viel verstanden, dafür umso mehr dem nachgehangen, was einzelne Satzfetzen auslösen, so wie das wegwischende „schnee von gestern“, das Vergangenheit zunichte macht. In vielen ihrer Gedichte transformieren sie Zustände, Momente in Bilder, die sich in den Farben des Schnees beschreiben lassen. War der „Schnee“ von Beginn weg das Programm?

Ja, das war Absicht: ich wollte für einmal einen thematisch „engen“ Raum, und darauf warten, was das Wort Schnee mir alles (ausser nur Schnee) hinschneien würde, was sich sprachlich ergeben könnte! Und da war halt plötzlich, wie fast immer beim Gedicht, der „Schwellenzustand“ (Inger Christensen) da, also der Ort, wo sich Äusseres und Inneres sprachlich zu verbinden suchen!

Lisa Elsässer «Schnee Relief», Lyrik, Wolfbach, 2020, 79 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-906929-38-5

In einem Gedicht von Inger Christensen steht „Stehe ich / alleine im schnee / wird klar / dass ich eine uhr bin». Im Schnee wächst scheinbar das Bewusstsein der Vergänglichkeit, zerrinnender Zeit, weniger wie eine tickende Uhr, als das Vergehen und Erwachen in der Natur, diese kosmische, viel umfassendere Uhr. Sind dann diese Schneegedichte, ist dieser Schneezyklus die Hoffnung im Vergänglichen? Ein Versuch, die vom Menschen eingerichtete Zeit aufzureissen?

Die Vergänglichkeit wird schon in einigen Gedichten thematisiert, aber meines Erachtens nicht als Hoffnung, sondern als klare oder schmerzliche Wahrnehmung dessen, was uns allen passiert! Die Zeit ist ja bloss die unschuldige Zuschauerin dieses Welkens … die lass ich gerne „unzerrissen“!

mitläufer

nur kurz die schönheit
rostgefärbte bäume
mein schatten läuft
vor mir stummer
Begleiter überm boden
hartes weiss

hände fallen mir ein
von gleichem kalt
beschattet unerlöst
auf starrem grund
erfroren das berührte
einst im schnee erstickt

Der Schatten als Mitläufer. Ihre Gedichte sind Bilder mit intensiven Farben und starker Textur. Wovon lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen?

Das Schreiben bedingt, zumindest bei mir, grosse Konzentration und Fokussierung auf das, was ich als Wesentliches erachte: Sprache, Sprache und nochmals Sprache! Ablenkungen sind unerwünscht! Ich lasse mich nur von dem beeinflussen, was der Dringlichkeit dient: bei sich und dem Wort bleiben. Das ist übrigens auch bei der Prosa das gleiche Prinzip: ich gewichte das Literarische wesentlich stärker als den Marktschrei, was natürlich auch seinen Preis hat!

gras

wächst
darüber
bald wächst
schnee
darüber
wächst
vergessen
darüber
erblindet
im schnee
ertrinkt
im vergessen
bald wächst

zeit darüber

Wieder ist es die Zeit, die Einsicht, dass unter den Schichten des Schnees nichts verborgen wird und schon gar nicht verborgen bleibt. Es legt sich bloss Schicht um Schicht, Ring an Ring, Haut auf Haut. Sie suchen in ihren Gedichten nicht nach Antworten, sondern reflektieren, was mit ihnen und in ihnen geschieht. Für mich als Leser präsentiert sich ihre Offenheit in sprachlicher Harmonie. Ist aber das Schreiben, das Feilen, das Warten, das Verändern nicht oft ein schmerzlicher Prozess?

Das, was als fertiges Gedicht sichtbar ist, trägt oft, gerade auch durch die grosse Zurückhaltung die Spuren dessen, wonach man ringt! Das ist ja nicht nur die Form, es ist der Inhalt, die Sprache, der Rhythmus! Ich würde diesen Prozess nicht als schmerzlich, aber als sehr anspruchsvoll, durchdacht benennen!

Naturbeobachtungen überlagern sich mit Weltbetrachtung, Erkenntnissen. Das eine spiegelt sich im andern. Können Sie etwas erzählen über die Entstehungsgeschichte eines Gedichts? Gibt es Zustände, in die Sie sich hineinversetzen oder fangen Sie die Bilder ein?

Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Handke hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet! 

(Die drei Gedichte aus «schnee relief» wurden mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags auf literaturblatt.ch wiedergegeben.)

Lisa Elsässer-Arnold ist 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren und lebt sei 1986 in Walenstadt. Diverse Ausbildungen, unter anderem Bibliothekarin und Buchhändlerin. Von 2003-2005 absolvierte sie den Literaturlehrgang an der EB in Zürich (Peter Morf), von 2005-2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Lisa Elsässer ist für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden. Neben Gedichtbänden beim Wolfbach Verlag erschienen im Rotpunktverlag Lyrik, Erzählungen und der Roman „Fremdgehen“ (2016), zuletzt die Erzählungen „Erstaugust“ (2019).

Fotos © Niklaus Strauss, Zürich