Jon Fosse «Das ist Alise», Mare

„Das ist Alise“ ist ein seltsames Buch. Jon Fosse geht es nicht darum, eine dramatische Geschichte zu erzählen. Es sind traumhafte Bilder, Erinnerungen, die sich in der Zeit vermischen, ein langes Gebet über die Unergründlichkeit des menschlichen Schicksals, ein langes Gebet. 

Signe erinnert sich. Sie ist alleine alt geworden und wohnt in einem keinen Haus über dem Fjord. Sie liegt auf der Bank im Haus, ihren Blick zur Decke gerichtet, manchmal zum Fenster und erinnert sich an den Tag, als ihr Mann nicht vom Meer zurückkam, als Asle, ihr Mann, auf dem Meer, in den Wellen, der Dunkelheit, dem Regen und der Kälte verschwand und nicht zurückkehrte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, in dem sie mit dem Warten nie ganz aufgehört hat.

Asle wohnte in dem Haus sein ganzes Leben lang, als Kind mit seinen Eltern, als Ehemann mit Signe. So lange wie er verschwunden ist, kannten sie sich, bevor sie heirateten. Zwanzig Jahre lang waren sie gemeinsam in dem Haus, in das Asle nicht zurückkehrte. Signe sieht ihn am Fenster stehen, den Mann, der sich schon vor seinem Verschwinden zu entfernen begann, der immer schweigsamer, immer seltsamer wurde.

Jon Fosse «Das ist Alise», Novelle, Mare, 2023, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-86648-743-

Damals war Asle draussen. Schlechtes Wetter. Nichts hat ihn gezwungen, in sein schmales Holzboot zu steigen und hinauszufahren. Und doch stieg er in sein Boot, musste wohl. Einem Boot, das für einen Sturm viel zu klein war, ein Ruderboot.

Draussen, bevor er in sein Boot stieg, auf seinem Spaziergang durch die Dämmerung, sah er Alise, seine Ururgrossmutter mit einem Kind im Arm. Eine Erscheinung. Mit einem toten Kind im Arm, das in dieser Bucht ertrank, ihrem Enkel Asle, seinem Vorfahr, nachdem er getauft wurde.

Jener Asle, der damals ertrank, bekam von seinem Vater zum siebten Geburtstag am 17. November 1897 ein kleines, selbst gebautes Holzboot. Ein Boot, mit dem er noch an seinem Geburtstag im Wasser, im Fjord spielte, Wellen machte mit einem langen Stecken, irgendwann die Hose auszog, um das Boot zurück ans Ufer zu holen – und ertrank.

Im November 1979 stieg Asle in sein Boot, als ob ihn das Boot, das Meer gerufen hätte, und kam nicht wieder. Am nächsten Tag fand man das leere Ruderboot am steinigen Ufer. Fast ein Jahr blieb es dort liegen, bis zwei Jungen aus dem Nachbardorf darum baten, das Boot beim Johannisfeuer verbrennen zu dürfen.

„Das ist Alise“ ist mehrperspektivisch erzählt, kümmert sich nicht um Chronologie, setzt in seiner Erzählart kaum ab, macht selten Punkte, spricht zu mir wie eine Stimme aus dem Off, aus dem Unterbewusstsein. Liest man das Buch laut und ganz langsam, dann spricht jemand. Ein Stimme, die keine Geheimnisse ergründen will, aber dem nachspüren will, was die Menschen in dieser rauhen Gegegend immer wieder aus dem Alltag reisst. Ein archaisches Leben, eine Natur, die nimmt und gibt, von der man keine Logik fordert.

Jon Fosses Novelle liest sich wie ein Meditation, eine Vergegenwärtigung. Da schreibt jemand, der keine Geschichte erzählen will, sondern Gefühle malt, innere Bilder, Stimmungen erzeugen will. Literatur, die sich wie die Musik von Arvo Pärt gängigen Mustern entzieht. Literatur, die nicht abbilden will, wie die Malerei von Gerhard Richter. Literatur, die mich in einen ganz eigenen Sound hineinzieht.

So schmal dieses Buch ist, so beglückend die Lektüre, so nachhaltig die Bilder, die auf der Netzhaus der Erinnerung hängen bleiben.

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt mit seinem vielfach ausgezeichneten und in über 40 Sprachen übersetzten literarischen Werk als einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Seine mehr als 30 Theaterstücke werden weltweit aufgeführt. Er lebt heute in der »Grotte«, einer Ehrenwohnung des norwegischen Staates am Osloer Schlosspark, in Frekhaug bei Bergen und in der niederösterreichischen Gemeinde Hainburg an der Donau. 2023 erhielt Jon Fosse den Nobelpreis für Literatur.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren zählen Louis-Ferdinand Céline, Jean Echenoz, Tomas Espedal, Henrik Ibsen, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds, dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert) und dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Beitragsbild © Agende Brun/Det Norske Samlaget

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.