Virginia Helbling «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug», edition bücherlese

Caterina bekommt ein Kind. Dass es mit der Geburt von Helena nicht einfach eine Zeit v. H. und n. H. gibt, davon erzählt der Roman «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug». Virginia Helbling thematisiert, was gerne romantisiert wird; Mutter werden und sein. Mehr als ein Vorgang, mehr als eine Aufgabe, mehr als eine Veränderung. Diesen Roman müssten Männer lesen, ob sie Väter sind oder nicht, weil er von einer Reise erzählt, die sie niemals antreten können.

Eric, ihr Mann, ist Musiker, Geiger. Er lebt für seine Musik. Sie wohnen in einer Wohnung mit nur einer Tür, jener zum Bad. Irgendwo in einem Dorf oder Quartier, unweit vom Zentrum Roms. Während sich die Ich-Erzählerin im Spital nach einer schwierigen und langen Entbindung (Was für ein unzutreffendes Wort!) zu fassen versucht, ist Eric auf Tour. Während sich die mit einem Mal gewordenen Mütter auf der Entbindungsstation gegenseitig Normalität und Glück demonstrieren, bedeutet die Geburt des kleinen Mädchens für Caterina eine einzige Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die ihr Mann bei seinen Besuchen, mit seinen Fragen, seinem Umsorgen in keinem Moment stillen kann, so wie die Mutter das kleine Mädchen zu Beginn nicht stillen kann.

«Die Fäden, die einst meinen Tag durchflochten, sind mir aus der Hand geglitten, und nun finde ich sie nicht mehr.»

Virginia Helbling beschreibt einen mehrfach toten Winkel. Jenen in der Literatur (Als Vielleser ist mir dieses Thema in der Art noch nie zur Lektüre geworden) und jenen in der Gesellschaft, die sich mit der Perspektive des «fehlenden Mutterglücks» schwer tut. Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft werden gerne glorifiziert, in pastellenen Farben geschildert. «Fehlendes Mutterglück», jenes Gefühl, nur ein ausfliessender Krug zu sein, wird mit Undankbarkeit markiert. Gesellschaft und Marketing tun alles, um Mutterschaft zu verklären, ohne je anzuerkennen, was diese Aufgabe wirklich bedeutet. Selbst unter Frauen wird «Muttersein» nicht als geltende Arbeit anerkannt.

«Ich zerbrösle im Zweistundentakt.»

Ein Kind kommt zur Welt. Ausgerechnet jenes Erlebnis, das mit vollkommenem Glück verbunden wird, verunsichert die gewordene Mutter total. Sie erkennt sich nicht mehr wieder, weder die von ihr empfundene Wirklichkeit noch jenen Traum, den sie v. H. (vor der Geburt Helenas) hatte. Das, was ihr als Mutterinstinkt versprochen schien, stellt sich nicht ein. Mit der Geburt ist sie so sehr von ihrem kleinen Mädchen entbunden und trotzdem vollkommen eingebunden, dass sie weder weiss, wo ihr der Kopf steht, noch alles andere. Die Protagonistin mäandert zwischen verunsicherter Seligkeit und dem Gefühl, einen Parasiten auf sich zu tragen.

«Helenas Präsenz enteignet mich.»

Wäre es ein schmerzerfülltes Tagebuch von einer Mutter, die einen Weg aus einem Gemisch von totaler Erschöpfung und maximaler Entfremdung von ihrer vorgeburtlichen Realität beklagt, würde ich ein solches Buch niemals lesen. Es ist die Sprache, es sind die Sätze! Virginia Helblings Protagonistin hangelt sich nicht nur mit Hilfe der Musik aus ihrem Loch, sondern die Sprache selbst orientiert sich an der Musik. Ich liebe Bücher, die mich mit Sprache beschenken. Und trotzdem wird die Geschichte, die Thematik nicht zur Nebensache. Virginia Helbling schrieb einen grossartigen Roman über ein grosses Thema, über eine Frau, die über sich hinauswächst, über eine Situation, aus der man sich nur selbst befreien kann.

Studer/Ganz-Preis 2015: «In der ersten Person erzählt «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug» (Originaltitel: Dove nascono le madri, übersetzt: «Wo Mütter geboren werden») die Grauzonen einer jungen Mutter, die zwischen dem Wunsch nach Freiheit und den Aufgaben, die ihre Rolle mit sich bringt, hin- und hergerissen ist. Die Musik durchzieht das gesamte Werk, bestimmt seine Originalität und bietet der Protagonistin einen möglichen kreativen Fluchtweg.»

Viriginia Helbling wurde 1974 in Lugano ­geboren. Sie studierte Literatur und Philosophie an der Universität in Fribourg und arbeitete als Journalistin. Sie ist Mutter von sechs Kindern und lebt in Gorduno.

Jacqueline Aerne, geboren 1964, ist freischaffende Übersetzerin. Sie wuchs in Ascona auf und lebt heute in Basel. Sie hat in Basel und Bologna Italianistik und Kunstgeschichte studiert, war Assistentin und danach Lektorin für Italienische Literatur, mit Schwergewicht moderne und zeitgenössische Lyrik sowie literarische Übersetzung. Jacqueline Aerne ist Präsidentin des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz AdS.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Juli Zeh «Neujahr», Luchterhand

Ein Familienurlaub auf Lanzarote über Weihnachten und Neujahr. Henning ist mit Neujahrsvorsätzen auf einem geliehenen Rad vom Ferienhaus unterwegs hinauf nach Femés. Was als Fahrradtripp beginnt, wird zum Alptraum. Henning öffnet die «Büchse der Pandora», jenes schwarze Loch mit der Angst, damit sein ganzes Leben, seine Familie, seine Ehe aus den Angeln zu heben.

Henning ist verheiratet und hat zwei Kinder. Eigentlich geht es ihm gut, gemessen an anderen sowieso. Der Urlaub auf Lanzarote soll Aufschub gewähren vor dem, was er in seinem Leben nicht mehr abwenden zu können scheint; der zunehmende Stress in seinem Beruf, die immer enger werdenden Pflichten, all das, was er nicht mehr auf die Reihe bringt, was an Hoffnungen und Wünschen auf der Strecke bleibt.
Er und seine Frau haben sich arrangiert. Familien- und Erwerbsarbeit sind auf beider Schultern verteilt, ein kleines Studio ganz oben unter dem gleichen Dach Rückzugs- und Arbeitsort, beide verdienen ganz passabel und die Kinder gedeihen prächtig.

Aber Henning geht es nicht gut. Alles an Pflichten und Erwartungen, seien es äussere oder innere, schnüren an seiner Kehle, drücken auf die Brust. Immer häufiger springt ihn ES an, ein Gefühl, das ihm den Atem nimmt, das Herz aus dem Rhythmus bringt, den Schweiss kalt aus den Poren treibt. Panikattacken, die ihm nicht nur den Schlaf, auch Ruhe und Zuversicht rauben. Zustände, die ihn abdrängen und alles Gleichgewicht pulverisieren. Panikattacken, denen er sich immer mehr ergibt und die seine Frau immer mehr aus der Reserve locken. «Sei ein Mann. Einer, den man lieben kann.»

Aus einer Laune heraus besteigt Henning am Neujahrstag ein Mietfahrrad. Und obwohl er schlecht ausgerüstet ist, weder Wasser noch etwas zu Essen bei sich hat, das Tshirt schon bald an seiner Haut klebt und der Wind und der wachsende Schmerz in seinen Muskeln unmissverständlich machen, wie unvernünftig der Tripp ist, pedalt sich Henning in einen wahren Rausch hinauf auf einen Pass. Die wiegenden Bewegungen auf dem Rad werden zu einem Stampfen gegen alle Zwänge, der Pass oben am Horizont das Fadenkreuz seines Lebens. So sehr die Muskeln schmerzen, so sehr Hunger und Durst nagen, der letzte Schweiss aus den Poren tropft, so sehr scheint er mit der wachsenden Distanz alles hinter sich liegen lassen zu können. Erst recht, als ihn oben, völlig entkräftet, eine SMS erreicht, die ihm alles wegzureissen scheint.

Wie damals. Denn auf dem Pass, über allem, was sein Leben ausmacht, im Delirium von Unterzuckerung und totaler Erschöpfung, in der Angst, dass ihn das ES ein weiteres Mal in die Zange nimmt, trifft er an einem Ort ein Haus. Ein Haus und einen Ort, den er zu kennen glaubt, ein Déjà-vu. Mit einem Mal zerrt die verdrängte Vergangenheit einen Vorhang nieder, öffnet sich die Büchse der Pandora.

Ist das, was man sieht und fühlt, das, was wirklich ist? Juli Zeh spürt einer Existenz nach, die sich vergessen hat, beweist einmal mehr wie viel menschlichen Durchblick sie umzusetzen weiss, wie nahe sie den direkten Problemen des modernen Menschen ist. Henning ist ein männlicher Archetyp; angepasst, modern, verantwortungsbewusst, gestresst und unglücklich. «Neujahr» ist aber nicht eindimensional. Henning stellt sich weder der Gegenwart noch der Vergangenheit. Erst wenn ihn die Konfrontation dazu zwingt – dann aber umso heftiger! «Neujahr» schmerzt beim Lesen, weil Juli Zeh von frühkindlichen Verletzungen erzählt, dessen seismischen Folgen  unaufhörlich Hennings Leben erschüttern. «Neujahr» erfrischt beim Lesen, weil Juli Zeh glasklar erzählt. Juli Zeh ist ein literarisches Ereignis!

© Peter von Felbert

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman «Adler und Engel» (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman «Unterleuten» (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018).

Rezension «Unterleuten» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Charles Lewinsky «Der A-Quotient», Nagel & Kimche

Arschlöcher – Menschen, die nicht mit dem zur Verfügung stehenden Kopf denken wollen oder können. Charles Lewinsky schreibt über jene Sorte Mensch, die lieber mit dem Arsch denkt, lieber AQ statt IQ, über Theorie und Praxis des Lebens mit Arschlöchern. Eine höchst amüsante Lektüre, der Aktualität nicht abzusprechen ist!

Muss man Charles Lewinsky ernst nehmen? Nimmt Charles Lewinsky sich ernst mit diesem Buch? Ganz sicher ist ihm ernst, selbst mit diesem Buch, mit Menschen, die nicht nutzen, was ihnen geschenkt wurde, die gröhlen, brüllen, kopieren, marschieren. «Der A-Quotient», das Buch erscheint bereits zum dritten Mal. 1994 bei Haffmann, 2005 bei Zweitausendeins und nun bei Nagel & Kimche, überarbeitet versteht sich, «denn Arschlöcher vermehren sich wie die Karnickel», so Lewinsky. Weder Unterhaltungsindustrie, Medien und aktuelle Politik geben Anlass zur Hoffnung, dass die Menschheit vom Denken mit Hirn regiert und geleitet wird.

Charles Lewinsky ist bitter böse, beissend komisch und beängstigend nahe an der Wirklichkeit, wenn man sich bei der Lektüre auch zu trösten versucht, es handle sich um Überzeichnung. Er giesst, reizt und teilt aus, was bei seinem letzten Roman, seinem Krimi «Der Wille de Volkes» nur als laues Lüftchen zu spüren war, aber durchaus zum Messerstich hätte werden können. Damals blieb der von mir erhoffte Rundumschlag gegen das satte und selbstgefällige Establishment aus oder kümmerlich. Dabei hätte sich einen solchen niemand besser und mehr leisten können, wie der mit allen Wassern gewaschene Lewinsky. Hier tut er es, köstlich, leidenschaftlich, schamlos, sprachgewandt und «stringent». Nichts und niemand bleibt verschont, selbst er selbst nicht.

«Zum Glück gibt es ein einfaches und unfehlbares System, mit dessen Hilfe man ein Arschloch auf den ersten Blick erkennen kann. Ich weiss, dass es funktioniert. Ich hab’s an mir selber ausprobiert.
Man schaut ganz einfach in den Spiegel.»

Der Meister der literarischen Vielfalt, das sprachliche Multitalent bedient sich der Form eines wissenschaftlich abgestützten Ratgebers: «Über das Denken ohne Benutzung des Kopfes» oder «Spekulationen über die Frage, warum der Kopf so wenig benutzt wird» oder nach einem Theorieteil im Praxisteil «Das handliche Arschloch-Bestimmungsbuch».

Vor vielen Jahren las der 2006 verstorbene Robert Gernhardt im Literaturschiff auf dem Bodensee. Während er las und kaum mit der Wimper zuckte, kugelte ich mich vor Lachen, so sehr, dass der Bauch schmerzte und ich fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich garantiere bei der Lektüre von «Der A-Quotient» ähnliche Nebenwirkungen, vor allem dann, wenn man sich das Buch vorlesen lässt, so wie ich von meiner Frau. Was für ein Vergnügen!

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film «Ein ganz gewöhnlicher Jude». Für den Roman «Johannistag» wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman «Melnitz» wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys jüngsten Romane wurden für die bedeutendsten deutschsprachigen Buchpreise nominiert: «Gerron» für den Schweizer Buchpreis 2011, «Kastelau» für den Deutschen Buchpreis 2014 und «Andersen» für den Schweizer Buchpreis 2016.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Madame Nielsen «Ein endloser Sommer», Kiepenheuer & Witsch

Genauso schillernd und schwer fassbar wie das Buch ist die Autorin selbst. Eine Frau, die mit «Ein endloser Sommer» ein grosses literarisches Kunstwerk schuf, eine Frau, die selbst Kunstwerk ist, sich in ihrem Leben nicht nur einmal selbst erfand. Ein grosses Buch, weil die Sprache oszilliert, Sätze über ganze Seiten mäandern und mich der Roman in verschiedenster Hinsicht über die Massen in Bann zieht.

Ein endloser Sommer, irgendwo in Jütland, auf einem dem Verfall preisgegebenen Gutshof. Dort beginnt das Buch und zieht seine Fäden in all die folgenden Jahre wie ein Pilz, der sich ausbreitet. Autobiographisch ist der Roman mit Sicherheit, weil sich schon in jenem Sommer weit in der Ferne im Leben eines Mädchens abzeichnete, was die Autorin heute ausmacht. Damals eine Familie, die unter dem Terror eines cholerischen Vaters leidet. Eine Mutter, die nicht einmal die Liebe ihrer Kinder richtig zu erwidern versteht und ihre Zeit viel lieber auf dem Rücken eines Pferdes verbringt. Ein Mädchen und ihre beiden Brüder, sich selbst überlassen. Ein endloser Sommer beginnt, ein Sommer, der alles möglich macht, mit dem alles möglich ist.

Madame Nielsen ist eine Kunstfigur, die sich schon als Mädchen aus ihrem angeborenen Leben zu schälen begann. «Ein endloser Sommer» ist ein Sprachgemälde der grossen Gesten, ein Blick durch Zeiten in eine Vergangenheit, die an Intensität und Dichte derart kräftig leuchtet, dass es mir beim Lesen manchmal den Atem nimmt. Man schnappt nach Luft, fasziniert und verunsichert zugleich.

Madame Nielsen war als Claus Beck-Nielsen in den Neuzigerjahren Mitglied der Performance-Gruppe «The Wooster Group» um den Schauspieler Willem Defoe. 1999 veröffentlichte Claus Beck-Nielsen seinen ersten Roman und im Jahr darauf begann das, was mit der Figur Madame Nielsen 2013 sein «vorläufiges» Ende gefunden hat. Claus Beck-Nielsen löscht einen Teil seines Namens und will damit auch Erinnerungen löschen, lebt ohne Pass, ohne Geld und «ohne Gedächtnis» auf der Strasse am Bahnhof Kopenhagen. 2001 erklärt er Claus Beck-Nielsen für tot und reist mit Anzug und Krawatte als Klaus Nielsen nach Kuwait, in den Iran, den Irak und nach Afghanistan als Mitglied eines «nomadischen Parlaments». 2013 veröffentlicht sie unter dem Namen Madame Nielsen, elegant als Frau gekleidet, stets beängstigend dünn, ihren ersten Roman.

Was «Der endlose Sommer» ausmacht ist nicht so sehr die Geschichte, als vielmehr die Sprache und das, was die Sprache beim Lesen auslöst. Die Form ist nicht einfach Mittel zum Zweck. Form und Inhalt sind kongruent. So nebelhaft, traumhaft die Geschichte über weite Strecken ist, so wirkt auch die Sprache, die sich einem nur erschliesst, wenn man ihr mit absoluter Aufmerksamkeit folgt. «Ein endloser Sommer» belohnt einem dann mit absolutem Genuss, wenn man das Buch laut liest.
Madame Nielsen nimmt keine Rücksicht auf den Leser. Sie will nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen. Es geht um Kunst. «Der endlose Sommer» ist eine literarische, eine sprachliche, eine geschriebene Performance. Madame Nielsen lässt einem mit vielen Leerstellen allein, mit Personen, die nur skizziert scheinen, einem Text, der sich nicht um Ordnung oder Chronologie kümmert.

«Der endlose Sommer» ist die Spur auf der Suche nach dem, was wirklich in einem steckt.

Ich las das «Der endlose Sommer» zusammen mit einer meiner Literaturgruppen. Ein einhelliges Urteil: Grossartig, unbedingt lesenswert!

© Sofie Amalie Klougart

Madame Nielsen, geboren 1963, Autorin, Sängerin, Künstlerin, Performerin. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, und sie war mehrfach für den Nordic-Council-Preis nominiert. Performances u.a. in Berlin und Wien.

Der Übersetzer Hannes Langendörfer, geboren 1975 in Heidelberg, studierte in Freiburg und Uppsala Skandinavistik und Germanistik. Er lebt als Übersetzer aus dem Dänischen, Schwedischen und Englischen in Berlin.

Ein Lesungsvideo auf der Webseite des Verlags

Olivier Guez «Das Verschwinden des Josef Mengele», Aufbau

Eine Biografie über den Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele, diesen besessenen „Wissenschaftler“ am Menschen, bräuchte ich nicht zu lesen. Nicht einmal einen Erklärungsversuch darüber, warum sich die Alliierten so wenig erfolgreich darum bemühten, des in Südamerika untergetauchten Mediziners habhaft zu werden. Und trotzdem fasziniert dieses Buch total.

Olivier Guez, der mit dem Drehbuch zum beeindruckenden Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“, zeigte, dass er sich mit einem besonderen Blick auf die Geschichte um Aufarbeitung bemüht, schrieb mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ein sowohl literarisch wie in seinen historischen Zusammenhängen packendes und aufschlussreiches Buch. „Der Staat gegen Fritz Bauer“ war ein Film über den Kampf eines Frankfurter Generalstaatsanwalt, den Kampf gegen ehemalige Verantwortliche des Naziregimes, wie den Organisator des Holocaust Adolf Eichmann, den Kampf gegen das Vergessen und Verhindern.
Der Roman «Das Verschwinden des Josef Mengele» ist ein Lehrstück eines unbelehrbar Fanatischen, einer Nachkriegszeit, in der die Ideen der nationalsozialistischen Weltherrschaft noch lange munter weiterglimmen und ein Beispiel dafür, wie genügsam Nachkriegsdeutschland, die Alliierten und die Öffentlichkeit waren, nachdem man sich mit den Nürnberger Prozessen der Frage nach der Verantwortung gestellt zu haben schien.

1945, wenige Monate nach dem Krieg, arbeitet Mengele unter falschem Namen auf einem Oberbayrischen Bauernhof und selektioniert Kartoffeln. 1949 reist er in Argentinien ein, im aufstrebenden Land von Joan und Evita Perón und versucht sich mit Hilfe der „Rattenlinien“, ehemaliger Nazigrössen, die sich neu formierten, eine neue Existenz zu schaffen. Später flieht er nach Uruguay, dann nach Brasilien, wo er 1979 durch einen Schlaganfall beim Baden am Meer ertrinkt, 68jährig, 34 Jahre lang untergetaucht und nie vor ein Gericht gestellt.
Der Mann, der direkt oder indirekt verantwortlich war für abertausende von absonderlichen Tötungen im Dienste einer grausamen Ideologie. Der Mann, den die wenigen Überlebenden den «Todesengel von Auschwitz» nannten.

Mengele findet ein Leben lang Gesinnungsgenossen, finanzielle Unterstützung, Menschen, die sich seiner annehmen. Seine im schwäbischen Günzburg tief verankerte Industriellenfamilie unterstützt ihn fleissig, um der Agrartechnikfirma nicht zu schaden (Noch heute liest man auf landwirtschaftlichen Maschinen den Namenszug.) Das Argentinien unter Joan Perón, der auch in Europa im Strahlenmeer seiner zur Legende gewordenen Ehefrau Evita so etwas wie Kultstatus geniesst, war Sammelbecken für all jene entflohenen und untergetauchten Nazis, die es mit Geschick verstanden, sich ihrer Verantwortung zu entziehen oder auch nur den Hauch einer Schuld einzugestehen. Peróns Absicht war es, mit Hilfe all der Militärs, Wissenschaftler und Finanzgrössen Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und die USA nach der sicheren Niederlage in einem 3. Weltkrieg als Supermacht abzulösen. Man trifft sich bei Gesinnungsgenossen in grossen Landgütern mit Hitlerbüste im Garten und einem Hakenkreuz aus Granit auf dem Grund des Pools.

Dass es Deutschland mit der konsequenten Aufarbeitung auch 10 Jahre nach dem Krieg nicht allzu ernst war, zeigt die Tatsache, dass 1956 das westdeutsche Konsulat in Buenos Aires Josef Mengele einen Personalausweis und eine Geburtsurkunde ausstellte – ohne irgendwelche Konsequenzen.

Zweifelsohne war Mengele ein Monster. Olivier Guez legt sein Augenmerk aber nicht in erster Linie auf die Gräueltaten «des ehrgeizigen Chirurgen des Volkes, der grossen Hoffnung der Genforschung». Guez interessiert sich ebenso genau für die Umgebung, die es diesem Mann möglich machte, über dreissig Jahre auf der Flucht zu sein und selbst ein Jahr vor seinem Tod beim Aufeinandertreffen mit seinem leiblichen Sohn, der heute als Anwalt in München mit dem Namen sehr Frau lebt, sich weigerte nur ein Fitzelchen eines Irrtums einzugestehen.

Gut, wenn Bücher wie ein solches in Zeiten gelesen werden, in der Mitglieder des deutschen Bundestages Hitler und die Nazis nur als «Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» bezeichnen. Noch besser, wenn sie gut geschrieben sind, sorgfältig recherchiert, nie mit dem Zeigefinger mahnend. Bis auf den letzten Satz: «Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.»

© JF Paga – Grasset

Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren, ist Autor und Journalist. Er arbeitete unter anderem für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Für das Drehbuch von «Der Staat gegen Fritz Bauer» erhielt er den deutschen Filmpreis. Olivier Guez lebt in Paris.

Übersetzt von Nicola Denis.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Marie Modiano «Ende der Spielzeit», Edition Blau

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt.
Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist  die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Erstaunlich, wie treffsicher sich der Rotpunktverlag mit seiner literarischen Reihe «Edition Blau» in der obersten Liga der wertvollen Literaturveröffentlichungen bewegt! Lesen Sie aus dieser Reihe. Es lohnt sich!

Marie Modiano ist Musikerin, Schriftstellerin, Schauspielerin. Geboren 1978 in Paris, Schauspielausbildung an der Royal Academy, London. Weitere Auslandsaufenthalte, u.a. in den USA und in Berlin. Verschiedene Filmrollen und Theaterengagements, Zusammenarbeit u.a. mit Luc Bondy; Veröffentlichung mehrerer Bücher und CDs mit Chansons. Ende der Spielzeit ist Modianos zweiter Roman und die erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

Webseite der Autorin, Musikerin, Schauspielerin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Usama Al Shahmani „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, Limmat

Sommer 2007. Usama spaziert mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn am Bodensee, als ihn sein Bruder Naser anruft und ihn bittet, ein Foto anzusehen. Ein Foto von jungen Männern, die alle zur gleichen Zeit in Bagdad getötet wurden und auf einem Friedhof auf ihre Identifizierung warten. Aber da ist kein Bildschirm aufzutreiben, dafür ein Mann zwischen den Welten; 2002 aus dem von Saddam Hussein beherrschten Irak geflohen, mit dem Herz und der Seele irgendwo zwischen Irak und der Schweiz hängengeblieben.

Vielleicht ist genau das eine Facette der Faszination, die vom Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ ausgeht. Usama lebt in der Schweiz, bewegt sich in jenem Teil des Landes, das ich wie meine Westentasche kenne. Gleichzeitig ist seine Welt noch immer, auch nach fünfzehn Jahren und allen Bemühungen, sich zu integrieren und die Qualitäten jenes Landes zu erkennen, das seiner Familie ein neues Zuhause gibt, jene seiner Geschwister, seiner Eltern, der Erinnerung. Ein Land, das es nicht mehr gibt, wohl auf der Karte, aber nicht einmal dann, wenn er es besucht. Ein zerrissenes Land, der man die Geschichte genommen hat. Ein Land, das in krassem Kontrast zu dem Land steht, in dem er im Asylverfahren und Arbeitsprogrammen beschäftigt wird. Einem Land, in dem die Menschen „wandern“, etwas, was ein Iraker nie tun würde, höchstens als Pilger. Hier puppenhausartige Orte wie Stein am Rhein, Frauenfeld oder Weinfelden mit ihren sauberen Fassaden und den Wanderwegen durch grüne Wälder mit Sicht auf den See. Dort Bagdad oder was in der Erinnerung und Realität davon geblieben ist. Ein Ort an dem ein Mensch verschwindet, Ali, Usamas Bruder.

Von einem Moment auf den anderen ist Ali unauffindbar, geschluckt von den schrecklichsten Ahnungen. Der Augenstern einer ganzen Familie, der mit seinem Verschwinden tausend Fragen offen und eine verzweifelte Familie zurücklässt. Eine weitere Facette des Romans; die Geschichte einer aufgeladenen Schuld. Was geschieht mit all jenen, die aus welchen Gründen auch immer ihrer Heimat meist für immer den Rücken kehren und andere zurücklassen, die nicht folgen können oder wollen? Wie weit zieht man mit Flucht seine Familie mit ins Unglück? Wie ist das Leben in dieser perfekt scheinenden Kulisse zu ertragen? Auch hier ein Buch der Kontraste. Über einen Mann, der den Westeuropäer, den Schweizer zu verstehen versucht, dem vieles ein Rätsel bleibt.

Usama arbeitet nach verschiedenen Gelegenheitsjobs, die einem Mann im Asylverfahren zur Verfügung stehen in einem Beschäftigungsprogramm, in dem eine bunte Gruppe in den Wäldern der Ostschweiz Bäume pflanzt, den Wald pflegt. Er, der seiner Familie im Irak nur schwer erklären kann, was es in einem Wald zu tun geben könnte. Aber Usama findet einen ganz speziellen Zugang zu Bäumen. So auf einer Wanderung auf den Säntis, dem höchsten Berg der Ostschweizer Voralpen. Eine noch nicht alte Birke, der er verspricht, noch einmal vor ihr zu sehen ,“wenn die Falten in meinem Gesicht tiefer geworden sind und der Stamm sieben weitere Ringe zählt“. Usama offenbart sich den Bäumen, spricht mit ihnen, weil sie uneingeschränkt zuhören. Der Baum, der Liebe, der Baum der Hoffnung, der Baum der Ungewissheit, der Baum des Todes, der Baum der Heimat, der Baum des Traums, der Baum der Geduld – so wie die Kapitel seines Romans überschrieben sind.

„In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ ist die Annäherung Usama Al Shamanis an zwei Heimaten, die verschiedener nicht sein könnten, an eine Geschichte, an Schicksal und den tiefen Schmerz einer ganzen Sippe über einen für immer verlorenen Sohn. Ein zart erzähltes Buch, dem man die Tradition des arabischen Geschichtenerzählers anmerkt, das einen klaren Blick verrät, nicht nur den in die Fremde und in die Nähe, sondern auch den in die Tiefe des Herzens.

Usama Al Shamani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 als Flüchtling in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittelter und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann und «Der Islam» von Peter Heine. Usama Al Shamani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

Claudia Schreiber «Goldregenrausch», Kein & Aber

Ein Hof und daneben ein Haus. Eine Familie mit ein paar Kindern und daneben eine ledig gebliebene Tante, die Schwester des Bauern. Was als Setting so gar keine Spektakel verspricht, wächst sich in Claudia Schreibers neuem Roman „Goldregenrausch“ zu einem veritablen Drama aus, in das ich als Leser so sehr einsteige, dass ich am liebsten Brandbeschleuniger hinzuschütten würde, um ein Schrecken ohne Ende abzuwehren.

Marie, das fünfte Kind der Bäuerin, flutscht. Ein ungewollter Nachzügler, ein Mädchen nach vier Rabauken, nachdem sich das Leben auf dem Feld, mit der Hacke in der Hand längst endgültig eingespielt hatte. Während die Bäuerin im Wochenbett das süsse Nichtstun geniesst und mit ihrem kräftigen Busen stillt, bringt sie ihr Arzt darauf, die überflüssige Muttermilch zu verkaufen. Interessierte verschiedenster Couleur gäbe es genug. Und so wird aus dem Wochenbett ein monatelanger, ärztlich abgesegneter Dauerzustand. Es fliesst Geld, viel Geld, von dem der Bauer keine Ahnung hat und das die Träume der Bäuerin beflügelt.

Aber kaum ist das nicht mehr länger aufrecht zu haltende Wiegenfest zu Ende, beginnt für die kleine Marie, das Mädchen, das noch nicht einmal spricht und noch in Windeln liegt, ein Leben im Abseits. Während die Eltern von morgens bis abends auf dem Feld rackern und die viel älteren Brüder die Schule und Umgebung verunsichern, parkiert man Marie in einem Laufstall, mit einer Flasche Milch und einer Flasche Wasser, überlässt sie dem Schicksal, im Sommer im Garten und im Winter in einem leeren Zimmer mit psychodelischer Tapete.

Bauer und Bäuerin erwarten von Greta, der Schwester des Bauern, die im kleinen Häuschen neben dem Hof Wohnrecht geniesst, keiner geregelten Arbeit nachgeht und eine begnadete Gärtnerin ist, dass sie sich um die kleine Marie kümmert. Aber Greta wurde nie gefragt, so wie sie im Leben nie gefragt wurde, wenn man über ihr Leben entschied. Der Bruder ist davon überzeugt, Greta sei zurückgeblieben, protzt in Gesellschaft, „der Vater habe nach Gretas Geburt versehentlich ihren Körper im Garten vergraben und statt dessen deren Nachgeburt grossgezogen“.

Aber irgendwann schafft es die kleine Marie, die gehärtete Seele ihrer Tante zu erweichen. Nicht durch Überzeugung, aber mit der Erkenntnis, es den Pflanzen gleichtun zu müssen, freundlich zu erblühen, selbst mit ganz wenig Wasser.
So entgleitet Marie immer mehr den herzlosen, abgestumpften Eltern. Selbst Arzt und Klerus können nichts bewegen. Zwischen Marie und Greta wächst eine Allianz der Verschmähten, zwei Vergessener. Marie, ganz im Stillen zum grossen Mädchen geworden, an den Eltern vorbei heimlich bis zum Abitur, findet allen Widrigkeiten zum Trotz den Zugang zur Welt. Zusammen mit ihrer Tante. Manchmal auch im Goldregenrausch, da die Tante sehr gut weiss, wie die heilende und tröstende Wirkung des Krauts einzusetzen ist.

In einer „Familie“, in der nur Arbeit und Erfolg zählt, in der Probleme mit flotten Sprüchen weggewischt werden, in der man sich am Feierabend zudröhnt, muss eine Frau wie Greta, die nie einer geregelten Arbeit nachging und trotz allem in ihrem Gleichgewicht nicht gestört werden kann, eine permanente Provokation. So sehr, dass die kleine Bühne von Hof und Nebenhaus Schauplatz eines Dramas wird, dass niemand aufzuhalten vermag. Am wenigsten ich Leser, der zurufen will: „Nimm endlich das Gift!“

Kein Kind verdient, wohin es geboren wird. Nicht die Kinder in Kriegsgebieten, nicht die Kinder in familiären Kriegsgebieten. Die Schäden und Traumas, die Kinder in ihr Erwachsensein schleppen, lassen sich untereinander nicht vergleichen und nicht einstufen. Schrecklich sind sie allemal. Und jeder, der in irgend einer Weise mit dem Schicksal solcher Kinder konfrontiert ist, weiss, wie schwierig es ist, Einfluss zu nehmen, etwas bewirken zu wollen. Wie schnell «elterliche Gewalt» zur existenzbedrohenden, realen, körperlichen und psychischen Gewalt werden kann.

Claudia Schreiber schreibt markig, unverblümt und direkt. Beschönigungen und Vorsicht liegen ihr nicht. Es lässt sich auch nicht verbergen, dass Männer in ihrer Geschichte alles andere als gut wegkommen. Marie und ihre Tante Greta sind einsame Kämpferinnen. Eine ganz junge und eine alte, die mit dem, was ihnen geblieben ist, den Kampf aufnehmen. Einen Kampf mit ungleichlangen Spiessen. Eine Kampf allerdings, der erst auf den letzten Seiten des Buches ausgetragen ist. Ein Kampf, bei dem man bei der Lektüre zum schweigenden Mitlesen gezwungen ist. Wahre Kraft verbirgt sich nicht hinter denen, die den Mund aufreissen. Und wer wie Greta den Menschen durch Enttäuschungen abgeschworen hat, mit der Natur, den Pflanzen und Tieren aber mehr als nur verbunden bleibt, dort ist auch die Liebe geblieben.

Ein in vieler Hinsicht starkes Buch von einer starken Frau über starke Frauen!

Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

«Die Brautmutter» von Claudia Schreiber, eine Kurzgeschichte auf der «Plattform Gegenzauber»

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michèle Minelli «Passiert es heute? Passiert es jetzt?», Jungbrunnen

Wolfgang wird von der Polizei in die geschlossenene Jugendpsychiatrie gebracht. Seine kleine Schwester Leonie muss zu den Grosseltern und von der Mutter ist kaum mehr die Rede. Nicht erst die Katastrophe hat die Familie zerrissen und ein Trümmerfeld hinterlassen. Was mit einem lauten Knall ein Ende mit Schrecken fand, die dünne Fassade einer Familie pulverisierte, zerstörte das Letzte, was von dem geblieben war, was ein gnadenloser Vater über Jahre durch Herzlosigkeit und Willkür in seinen Grundfesten vernichtete.

Michèle Minelli, die mit «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» ihren ersten Jugendroman schrieb, hat sich mit ihrem Roman keine leichte Aufgabe gestellt. Eine Aufgabe, bei der es viele Möglichkeiten des Scheiterns gäbe, die nur dann funktioren kann, wenn der Grad an Nähe und Distanz sowohl zu den Protagonisten wie zur Katastrophe nicht in Trvialität kippt. Nicht nur die Themen, mit denen sie konfrontiert, sondern auch die Perspektiven des Erzählens, die Art (Kunst), wie sie sich mitten ins Geschehen setzt, sind explosiv.

Eine Geschichte, die unter die Haut geht, weil sie die Schrecken einer in sich eingeschlossenen Familie genauso spiegelt wie die Unmöglichkeit, eine sich anbahnende Katastrophe in diesem eingeschlossenen Kosmos vorauszusehen oder sie gar abzuwenden. So sehr die Familie als «Keimzelle der Gesellschaft» bezeichnet wird, so sehr schliessen sich Konflikte in ihr ein. Kinder werden zu Gefangenen, zu Eingesperrten, Eingeschlossenen, hilflos der «elterlichen Gewalt» ausgesetzt.

Wolfgang ist sechzehn. Nicht einmal sein Geburtstag ist Grund zur Hoffnung oder Freude. Wolfgang hat längst resigniert, den väterlichen Terror zur Selbstverständlichkeit erklärt. So sehr er die blauen Flecken seiner Mutter, ihr stundenlanges Beten im Bügelzimmer, seine permanete Angst und Verunsicherung, seinen blinden Gang auf dem Minenfeld hinnehmen muss, so sehr wird er zum Beschützer seiner kleinen Schwester Leonie, deren Auflehnung gegen ihren Vater irgendwann in der Katastrophe enden muss.

Wolfgang nennt seinen Vater im Stillen «Möchtegernvater». Einer der sich zum Vater erklärt, einer, der seine Position erkaufen, erzwingen und zurechtschlagen muss. Sein Vater nennt ihn ganz offen «Jammerlappen» oder «Murks», weil er nichts zustande bringe, nichts tauge. Ein Vater, dem die Liebe längst abhanden kam, wo man nicht einmal den Fotos aus der Vergangenheit traut, der die Liebe durch Drill, bodenlose Strenge, Verachtung und Gewalt ersetzte, dessen Unberechenbarkeit alles Vertrauen längst zerstörte.

Bis an einem Donnerstag das eskaliert, was längst zu einem unaufhaltsamen, zerstörerischen Höllensturz wurde. Wolfgang reisst für einen kurzen Augenblick die Macht an sich, um die zerstörerische Dynamik von seiner Schwester und seiner Mutter weg auf ihn selbst, seinen Vater zu richten.
Mit einem Mal sitzt Wolfgang an einem Ort, wo Türen und Fenster geschlossen sing, die Böden beim Gehen fiepsen und die Erwachsenen Fragen ohne Fallen stellen. An einem Ort, wo nicht nur er mit einem schrecklichen Geheimnis, das mit einem Knall durch ihn hindurch gegangen war und nicht hängen blieb, sondern auch andere Jugendliche auf Antworten warten, die sie sich ohne Hilfe nicht geben können, die sich in der Vergangenheit verbergen.

Michèle Minelli sticht mitten hinein. Sie schrieb eine Geschichte, die ihr zu Herzen ging, die erzählt werden musste. Beispielhaft für all die Familientyranneien, die nie nach aussen gelangen. Kein Protokoll, kein Bericht. Michèle Minelli setzt sich als Erzählerin unter die Haut eines Sechzehnjährigen, ganz nah, unmittelbar. Sie schildert, was in den Tagen nach der Katastrophe passiert und nicht passiert, was mit einem Jungen geschieht, der nicht realisieren kann, was Not und Affekt mit ihm machten. Die Geschichte geht unter die Haut und wird es überall dort tun, wo man ihr in ihrer Dringlichkeit Zutritt gewährt. Ein Buch, das abverlangt und stehen lässt.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
„Schon als Kind fand ich schreiben einfacher als reden. Mit Fremden sprechen war das Allerschlimmste; noch mit zwölf heulte ich, wenn mich meine Mutter einkaufen schickte. So wurde das Schreiben zu dem Ort, an dem ich mich wohl und aufgehoben fühle und von wo aus ich am besten mit der Welt in Kontakt treten kann. Dass ich heute auch für Jugendliche schreibe, bedeutet für mich, dass sich der Kreis nun schließt.“

Von Michèle Minelli erscheint im Salis Verlag der Roman «Der Garten der anderen».

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Erich Hackl «Am Seil», Diogenes

«Am Seil» ist eine Heldengeschichte. Die Geschichte eines Mannes, der sich selbst nie zum Helden erklärt hätte und nur durch die Hartnäckigkeit der Geretteten und ihrer Nachfahren zu einem solchen, als «Gerechter unter den Völkern», erklärt wurde. Eine beispielhafte Geschichte aus der Zeit der schlimmsten Judenverfolgungen für eine Zeit der grössten globalen Fluchtbewegungen.

«Reinhold ist der Held meiner Geschichte. Nur seinetwegen erzähle ich sie.» Lucia Heilman

Ich begleite das Werk Erich Hackls schon drei Jahrzehnte und bin tief beeindruckt. Erich Hackl ist ein Anwalt derer, die keine Stimme finden. Sein Thema ist weder die eigene Befindlichkeit noch die Fiktion. Es sind Widerstandsgeschichten und fast immer auf authentischen Fällen basierend. Er setzt Denkmäler; sei es das eines in einem KZ ermordeten Romamädchens, eines verschleppten Opfers der argentinischen Militärjunta, seiner eigenen Mutter, die sich durch Kriegs- und Nachkriegsjahre kämpfen muss oder wie in «Am Seil» das stille Leben des Kunstschlossers Reinhold Duschka, der Lucia Heilman und ihre Mutter während viereinhalb Jahren in seiner engen Werkstatt versteckt und damit vor dem sicheren Tod rettet.

Erich Hackl lädt diese Geschichten aber nicht wie andere mit nachempfundenen Emotionen auf. Er dramatisiert nicht, wo es den Kern der Sache damit verfälschen würde. Erich Hackl zeichnet in knappen Strichen nach, skizziert Leben, Schicksale in seinen Ereignissen so klar und schlicht, dass die Figuren in der Fantasie des Lesers umso mehr wachsen und an Bedeutung gewinnen. Sie bleiben mit ihrer Geschichte authentisch.

Rudolf Kraus und Reinhold Duschka waren Freunde. Beste Freunde «zu einer Zeit, in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten, vor einer halben Ewigkeit also». Rudolf Kraus ist der Vater Lucia Heilmans. Aber Lucias Mutter meint zu Rudolf, er sei «anständig und gewissenhaft, hilfsbereit und alles, was du willst, aber als Ehemann wäre er nicht auszuhalten».

Als die Zeichen des Tausendjährigen Reiches, das Säbelrasseln und die Stiefelabsätze immer unüberhörbarer werden, als die kleine Lucia aus ihrer Schule verbannt werden und sie und ihre Mutter Regina bald darauf auch ihre Wohnung verlieren, Juden überall abgeführt und in Lastwagen wegtransportiert werden, um nie mehr wiederzukehren, finden Regina und ihre Tochter Lucia in der Werkstatt des Freundes ihres Vaters ein Versteck.

Der Kunstschlosser Reinhold Duschka ist nicht nur der Freund von Lucias Vaters, sondern auch ein Seilkamerad im Alpenverein, in den beide eintreten, ein Kletterkamerad. Als Kletterer weiss man; wer in Gemeinschaft am Berg, am Seil unterwegs ist, braucht unbedingtes Vertrauen. Auf-jemanden-angewiesen-sein ist keine Schwäche, sondern die einzige Chance zu bestehen. So auch in der Not des Weltkriegs, im Angesicht der Ausrottung ganzer Völker und damit der Menschlichkeit, all der Verfolgung und Denunziation. Reinhold Duschka leistet Widerstand, ohne diesen zu provozieren, «intelligenten Widerstand». Widerstand, der das eigene Risiko möglichst gering hält, ohne Zugeständnisse zu machen. Widerstand ohne Abenteuer.

Lucia und ihre Mutter Regina leben viereinhalb Jahre in der Werkstatt Reinhold Duschkas, der alles daran setzen muss, dass das Versteck nicht durch eine kleine Unvorsichtigkeit auffliegt. Jeder Gang zum Klo, jede Lebensmittelbeschaffung wird zum Wagnis, bis Lucia und Regina nur noch in Lumpen in der Werksatt herumhuschen, beschäftigt von Reinhold, abgelenkt nur durch die Erinnerung und Bücher, die Reinhold aus der Bücherei mitbringt.

Alle vier überleben den Krieg. 1990, drei Jahre vor Reinhold Duschkas Tod, wird ihm für seinen selbstlosen Einsatz die Auszeichnung «Gerechter unter den Völkern» verliehen. Erich Hackl hat uns diesen Mann zurück in die Erinnerung gebracht und damit ein deutliches Zeichen für jene Menschlichkeit gesetzt, die auch in der Gegenwart verloren zu gehen droht.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. «Auroras Anlaß» und «Abschied von Sidonie» sind Schullektüre. Unter anderem wurde er 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet.

Interview mit Erich Hackl

Lucia Heilman erzählt in der ORF TVthek.

Erich Hackl liest u. a. am 10. Dezember im Aargauer Literaturhaus Lenzburg.