Angelika Waldis «Ich komme mit», Wunderraum

Als ich dieses Buch Anfang November kaufte meinte die Buchhändlerin: Sie werden sehen, das wird Ihr Buch des Jahres 2018, worauf ich entgegnete, ich lasse mich gerne überraschen aber eigentlich hätte ich meine Wahl bereits getroffen …

Eine Buchbesprechung von Elisabeth Berger, gehalten am 10. Dezember im «Tröchneturm» in St. Gallen, am Bücherabend am Kamin

Ein Leben-bejahendes Buch für jung und alt, in einer ganz jungen Sprache.
Wir lernen Lazar Laval kennen, genannt Lazy, Student und Vita, um die 70.
Die beiden wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus und machen sich manchmal Gedanken. Vita etwa, wenn sie die roten Turnschuhe vor der Tür stehen sieht. Lazy, wenn er der etwas schrägen Alten von oben wieder einmal begegnet.
Vita hat irgendwann das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, weil die roten Turnschuhe wochenlang unverändert dastehen. Und so erfährt sie, dass Lazar immer wieder ins Spital muss, weil er Leukämie hat. Nun macht sich Vita noch mehr Gedanken. Ihr Helferinstinkt regt sich. Lazar ist zeitweise so schlecht unterwegs, dass er Vitas Fürsorge immer mehr zulässt. Von den gelegentlichen Wurstbroten anfänglich, geht er später regelmässig bei ihr essen. Und als es noch mehr bergab geht mit ihm, bekommt er das Zimmer von Vitas Sohn Moritz, der in Australien lebt und sich selten meldet. Die beiden reden und schweigen zusammen, können lachen, sich auch in Ruhe lassen und entwickeln ein Art Wortspielerei beim Philosophieren darüber, was Leben eigentlich ist.

Als es Lazy immer mieser geht, sagt er irgendwann: «Wenn die nächste Chemo nichts bringt, dann hau ich ab.» – und Vita sagt: «Ich komme mit.»
Vor der endgültigen Abreise findet Vita, sie könnten aber vorher nochmals richtig verreisen. Und weil Lazy fasziniert ist von allem, was sehr alt ist (weil er es selber nie werden wird, wie er vermutet), geht die Reise in die Türkei zur ältesten Tempelanlage der Welt (Göbekli Tepe), erbaut vor mehr als 11’000 Jahren (7000 Jahre älter als Stonehenge und die Pyramiden von Giseh).
Die Reise ist schwierig. Einerseits hat Lazy eine Begegnung, die ihn wieder Leben spüren lässt, andererseits macht sein Körper immer weniger mit. Und wieder zuhause wollen sie eigentlich das geplante Vorhaben umsetzen … eigentlich …

Trotz der Thematik ist das Buch zu keinem Moment schwer, was am lockeren, aber zu keiner Zeit oberflächlichen Schreibstil liegt. Und am ganz überraschenden Schluss.

Gastbeitrag von Elisabeth Berger

Angelika Waldis liest aus «Ich komme mit» am 18. Februar um 20 Uhr in der Kellerbühne St. Gallen.

© Peter von Felbert

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen.

Webseite der Autorin

Literaturvorschläge aus dem Turm

Liebe Bücherfreunde

Zusammen mit Elisabeth Berger stellte ich am Nikolaustag im Tröckneturm St. Gallen lesenswerte Bücher vor. Elisabeth Berger sechs – ich ebenso. Bücher, die man schenken kann. Bücher, die sich  lohnen zu lesen. Bücher, die man vorlesen kann. Bücher für viel mehr als ein paar schöne Stunden.

Falls sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen, vertrauen sie dieser Liste!

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«Die Annäherung» von Anna Mitgutsch für alle, die sich für das vom letzten Weltkrieg dominierte Geschehen eines Jahrhunderts interessieren, für Familiengeschichte mit viel Unausgesprochenem.

«Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng für Neugierige, die hinter Fassaden schauen wollen, Witziges mögen.

«Schlaflose Nacht» von Margriet de Moor, für jene, die bereit sind, mit der Erzählerin mitten in der Nacht in der Küche zu stehen, um zuzusehen, was der Suizid des Mannes im Gewächshaus hinter dem Haus anrichtet.

«Das achte Leben – für Brilka» von Nino Haratischwili für fleissige LeserInnen, die sich von 1300 Seiten nicht abschrecken lassen und dafür belohnt werden mit einem georgischen Epos in Breitleinwand über beinahe 100 Jahre – ein fantastisches Buch!

«Cox oder Der Lauf der Zeit» von Christoph Ransmayr für jene, die sich vor einer mächtigen chinesischen Kulisse von einem Meister der Sprache in die Fremde entführen lassen wollen.

«Hier können sie im Kreis gehen» von Frédéric Zwicker, die erfahren wollen, warum sich ein alter Mann hinter einer vorgespielten Demenz im Altersheim verstecken will.

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«Bella Mia» von Donatella di Pietrantonio für jene, die sich in eine der vielen Behelfsunterkünfte nach dem grossen Beben 2009 in Italien versetzen lassen wollen, ins Schicksal dreier Menschen, die sich neu erfinden müssen.

«Nora Webster» von Colm Toibin für jene, die sich literarisch entführen lassen wollen in die irische Provinz der 60er Jahre, an einen Ort, wo der Verlust des Mannes die persönliche Katastrophe der hinterbliebenen Frau vervielfacht.

«Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» von Zora del Buono, für jene, die wissen wollen, was eine unmögliche Liebe bewirkt in einem Land, das von den NSA-Enthüllungen gebeutelt ist.

«Der lange Atem» von Nina Jäckle, die sich auch vor dem Trauma eines erlebten Tsunamis in Japan nicht abschrecken lassen, vom Tod in all den entstellten Gesichtern, im Buch von einer eindringlichen Sprache belohnt.

«Der Hut des Präsidenten» von Antoine Laurain, für jene, die wissen wollen, was ein verlorener Hut des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anrichten kann. Heiter!

«Lügen sie, ich werde ihnen glauben» von Anne-Lare Bondouz und Jean-Claude Mourlevat für jene, die sich gerne gut unterhalten lassen von einem E-Mail-Roman voller Witz und Charme.

Zwei Büchermenschen: Gallus Frei-Tomic und Elisabeth Berger

mehr Infos unter lebendiger-advent.ch