Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann

Eigentlich flieht Matteo. Er flieht, weil ihm das Leben die Stimme nahm. Weil er als König mitten im Stück den Text verlor, auf der Bühne in Shakespeares King Lear. Weil wenige Tage zuvor Zofia, die Frau seines Lebens gestorben war. Weil er von all dem weg wollte, was sich seinem einsam gewordenen Leben querstellte. „Die Zartheit der Stühle“ ist ein Buch der Liebe, ein unsäglich zartes Buch.

Dass Jürg Beeler kein ganzes Regalbrett füllt, obwohl er schon vierzig Jahre schreibt, mag daran liegen, dass sich Beeler als Lyriker sieht und nicht eigentlich als Erzähler, obwohl „Die Zartheit der Stühle“ sein siebter Roman ist. „Das ist viel Arbeit“, meint der Schriftsteller in einem Porträt lakonisch. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jürg Beeler wie ein Lyriker Romane schreibt, auf jedes Wort achtend, viel mehr als blosses Erzählen. Das spüre ich diesem Buch an, einem Buch, dem ich die Nominierung für den Schweizer Buchpreis 2022 wünsche, weil es sinnlich erzählt, weil es sich nicht dem Spektakel verschreibt, dafür umso mehr den unendlichen Irrgärten des menschlichen Seins, weil das Kleine, Zarte auf das Grosse weist und weil meine Frau und ich uns das Buch gegenseitig vorlasen und dabei regelrecht beglückt wurden.

Matteo ist ein Einzelgänger, hat es nicht gerne, wenn sich Ausgelassenheit ausbreitet, obwohl er lange Jahre gefeierter Schauspieler war und man nach Premieren gerne mit ihm gefeiert hätte. Auf der Bühne fand er stets seinen Ton, seine Stimme, hatte er Präsenz und Wirkung. Im Privaten fiel im das Sprechen stets schwer und er verkroch sich lieber in seiner immer kleiner werdenden Welt. Zofia war die einzige Frau, mit der er seine Einsamkeit gerne teilte, mit der er lange Jahre zusammenlebte. Dann aber, als er erfahren musste, dass sie unheilbar erkrankt war und nicht beabsichtigte, sich durch weitere Therapien quälen zu lassen, trennte sie sich von ihm, ging auf Distanz. Sie starb. Ihr Tod lähmte ihn. Man begrub sie in ihrer Heimat Warschau, ein Abschied, den er in keiner Weise akzeptieren konnte.

Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann, 2022, 224 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03820-105-2

Matteo sucht Sammlung in Lerone, einer kleinen Stadt ganz im Süden Italiens, einem Sehnsuchtsort, den er schon mit Zofia teilte. Er will nichts mehr. Nur in Ruhe an der Piazza d’Oriente im Leonardo sitzen und schreiben, ohne Ziel. Aber kaum ist er dort, mischt sich die Anwesenheit einer Frau ein, einer Frau, die wie er an einem der Tische an der Piazza sitzt und schreibt. Später erfährt Matteo, dass sie Vera heisst und komponiert. Vera beginnt Platz einzunehmen, Platz, den Matteo eigentlich nur sein er grossen Liebe Zofia zugestehen will. Aber da auch sein dortiger Freund und Anwalt Ettore von der geheimnisvollen Frau angetan ist, beginnen sich Welten ganz zaghaft zu begegnen. Vera verrät nicht viel. Manchmal ist sie da, manchmal verschwindet sie für Tage oder gar Wochen. Aber sie nimmt stets etwas mit, etwas, was Matteo die Ruhe raubt, was ihn nicht in Ruhe lässt. Bis sie eines Tages mit zwei Koffern vor seiner Tür steht und fragt, ob sie für unbestimmte Zeit bleiben dürfe.

Zofia distanzierte sich in der letzten Monaten ihres Lebens. Als er sich nach ihrem Tod mit einem verloren geglaubten Schlüssel Zugang zu ihrer Wohnung verschafft, merkt er, dass er bei weitem nicht der einzige ist, der an der Hinterlassenschaft seiner Frau Interesse zeigte. Er war Eindringling. Und jetzt, Monate später, taucht Vera auf, Jahre jünger als er und stösst ihn in eine Geschichte, aus der es kein Aussteigen mehr gibt.

Matteo erzählt seine Geschichte in einer grossen Rückblende, schreibt in seine Hefte, in der Absicht „ein Buch der Liebe“ zu schreiben. Jürg Beeler trifft in seinem Schreiben als Matteo, manchmal ganz direkt im Du an Zofia gerichtet, genau jenen Ton, den ein solches „Buch der Liebe“ treffen muss. Es ist mit grosser Behutsamkeit geschrieben, immer im Wissen darum, dass Liebe in all seinen Formen, auch in der Verzweiflung und Enttäuschung an flüchtiges, schwer fassbares Gefühl bleibt. Genauso ist dieser Roman geschrieben, absolut überzeugend in seinem Ton, gespickt mit Sätzen, die sich wie Amorpfeile ins Herz bohren.

Interview

Matteo schreibt schon lange. Was wir unter dem Titel „Die Zartheit der Stühle“ lesen, sind die Hefte Nr. 73 bis 77. Alle Hefte zusammen scheinen Matteos Versuch zu sein, sein „Buch über die Liebe“ zu schreiben. Was hinderte Sie daran, Ihrem Roman den Titel „Buch über die Liebe“ zu geben? (Obwohl ich gestehe, dass mir der tatsächliche Titel besser gefällt!) 
„Liebe“ ist ein Allerweltswort, mit „Buch über die Liebe“ hätte ich mich auf ein zu gefälliges Terrain begeben. Jeder glaubt ja zu diesem Thema das Allerwichtigste zu sagen zu haben, nur weil ihm die Liebe einmal etwas unsanft auf die kleine Zehe getreten ist. 
„Die Zartheit der Stühle“ öffnet andere Türen. Dieser Titel hat, so wie ich es empfinde, etwas Poetisches und Schelmisches zugleich und passt gut zum Protagonisten. Matteo war Clown, Pantomime, auf der Bühne trat er stumm auf, auch im Alltag ist er eher ein Stummer geblieben. 
Wie Matteo liebe ich Strassen, Plätze und Cafés. Stühle werfen zarte Schatten, und wenn sie Schatten werfen, was sie im Süden häufiger tun als im Norden, beginnen sie zu erzählen. Ich habe Zeit, ich höre ihnen gerne zu. Oft stellen sie mir provozierende Fragen. Was, wenn unsere Liebe zu Objekten tiefer ist als die zu den Menschen? Oder wenn Liebe ein Phantom ist, wie Matteo einmal vermutet?

Matteo will eigentlich fliehen, nicht zuletzt vor sich selbst, gerät aber immer mehr in den Strudel seiner Vergangenheit, in den Sog des Unberechenbaren. Keine Flucht, sondern sein Besteben, Ruhe zu finden, die Nähe zu sich selbst. Ein Gegenentwurf zu den vielfachen Möglichkeiten der Betäubung unserer Gegenwart?
Alle drei Figuren, Matteo, Zofia, Vera müssen mit Ereignissen zurechtkommen, die ihr Leben einschneidend verändern und bedrohen. Sie sind nicht mehr jung, sie empfinden sich in ihrer Zeit zunehmend als Fremde. Die Gegenwart scheint für sie keine verlässlichen Worte und damit Lebensentwürfe mehr bereitzuhalten. Menschenkenntnis wurde im Alltag durch Vulgärpsychologie und einen kommerzialisierten Zwang zur Selbstverwirklichung ersetzt, was zur kollektiven Übung der Selbstentfremdung verkam. 
In unseren Wohlstandsregimen haben wir die Fähigkeit, die inneren Regungen und Beweggründe des anderen zu erraten, längst verloren. Dazu haben wir auch gar keine Zeit mehr. Vera, Zofia und Matteo versuchen je auf ihre Weise, diese Echolosigkeit zu durchbrechen, einen Weg aus der allgemeinen Betäubung zu finden, der sie wieder in eine Gegenwart zurückführt. 

Zofia sagte sich in ihrem Sterben von Matteo los, wollte ihn in der letzten Phase ihrer Krankheit nicht mehr an ihrer Seite haben. Ist Schonung auch eine Form der Liebe?
Ich glaube ja, eine sehr tiefe. Zofias Rückzug mag vieles zugrundeliegen, sei es Enttäuschung, sei es Diskretion oder Scham. Ein etwas bösartig gestimmter oder pessimistischer Leser könnte in diesem Rückzug allerdings auch eine heimliche Bestrafung des Partners vermuten. Doch Zofia ist eine Figur, die sich dem einfachen Zugriff entzieht. Vielleicht gehört es zur Magie des Romans, dass er eine völlig subjektive Interpretation dem Leser als die objektive vorspiegelt. 
Die Schonung des Partners trägt auf jeden Fall der Erkenntnis Rechnung, dass die Menschen verschieden sind und jeder seinen Weg letztlich allein zu gehen hat. Dem andern sein Leben lassen – darin kommt etwas zum Ausdruck, das vielleicht wichtiger ist als die Liebe: die Freundschaft.  

@ Werner Gadliger

Matteo trägt seinen Schmerz in sich, seine Partnerin Zofia, erst recht Vera. Matteo schreibt die Geschichte dieses Dreigestirns in seine Hefte. Schreiben als ein Versuch, Ordnung in Leben zu bringen. Das Schreiben eines Romans ist ausgebreitete Ordnung. Gedichte hingegen brechen Ordnungen auf. Obwohl Sie in einem Beitrag sagen, Sie schreiben viel lieber Gedichte, Sie wären eigentlich Lyriker, ist „Die Zartheit der Stühle“ Ihr siebter Roman. Was macht die Magie des Romanschreibens aus? 
Ist es nicht einfach die erfolgsversprechendere Möglichkeit, vom Schreiben zu leben?
Mit dem Roman tauche ich in eine Assenwelt ein, er legt in anderer Weise die Spur einer Lebenserfahrung als die Lyrik, die den Rückzug in ein Sprachgehäuse eher erlaubt. Der Roman legt eine Schmerzspur. Doch auch in der Lyrik schaffe ich ‚Ordnung’. Sie ist vielleicht verborgener als die eines Romans. Eine innere Kohärenz – dies mein Anspruch – muss die vordergründig disparaten Zeilen eines Gedichts zusammenhalten. Diese Stimmigkeit muss für den Leser spürbar sein. So gesehen hat das Gedicht immer eine metaphysische Dimension, weil es jede Beliebigkeit ausschliesst. 
Die Anfänge dieses Romans reichen viele Jahre zurück. Die Hauptfigur stand mir von Anfang an deutlich vor Augen, ebenso waren die Atmosphäre, die Musik des Romans von Anfang an da. Die Herausforderung bestand darin, die zu den Figuren passende Geschichte zu finden. Ein Unterfangen, das nicht planbar ist, für mich auf jeden Fall nicht, ich bin da sehr von Stimmungen, von der Umgebung, von der Gunst des Augenblicks abhängig. Ob ich eine Figur auf diese oder eine andere Weise handeln lasse, ist ein intuitiver Entscheid. Letztlich ist es die Sprache, ihre Musik, ihre Atmosphäre, die mich führt. 

Die Musik eines Romans wird nicht von allen Lesern wahrgenommen. Dieses Nicht-Wahrnehmen des für mich Offensichtlichen macht mich immer wieder fassungslos. Manche Leser fürchten das Ambivalente, sie suchen das Erklärbare und Sichere, sie sind glücklich, wenn sie den Protagonisten als ‚Looser’ oder ‚Macho’ identifizieren können. Doch der Roman verhandelt nicht Begriffe, die immer nur kollektiven und fragwürdigen Klassifizierungen entsprechen, er erzählt vom Individuum in seiner Unverwechselbarkeit. In dieser Hinsicht ist er subversiv, und dieses subversive Element übt auf mich einen unwiderstehlichen Sog aus. 

Das Epizentrum eines Romans verbirgt sich in seiner Musik. Seine Unterfütterung kann heiter oder melancholisch sein. Heiterkeit und Melancholie widersprechen sich nicht unbedingt. Auf jeden Fall nicht, wenn man von einer spezifisch romanischen Melancholie spricht. „Auch wenn sie düster und tief ist, findet die Melancholie noch Quellen von Zärtlichkeit. Man könnte sagen, ihr Charakter ist die Sanftheit“, schreibt der italienische Schriftsteller Alberto Savinio. Melancholie ist das Bewusstsein, dass die Zeit verströmt und wir nichts gegen sie ausrichten können. Sie widersetzt sich unseren Plänen, wir können ihr nichts abtrotzen. Das Schreiben setzt sich diesem Fliessen aus, ein Roman kann nicht erzwungen werden. Wer im deutschsprachigen Raum aufwächst, vor allem in den protestantisch-ehrgeizigen Gegenden Deutschlands, neigt weniger zur Melancholie als zur Depression, das mediterrane Laissez-faire ist ihm fremd. Ja, ich liebe Stühle. Sie sind melancholisch und zärtlich. Sie haben immer genauso viel Zeit wie ich, was ich von meinen Mitmenschen nicht unbedingt behaupten kann.  

 „Die Zartheit der Stühle“ ist eine vielfache Liebesgeschichte. Nicht zuletzt jene der nie erfüllten. Wir werden in den Medien überschwemmt von „Liebesgeschichten“, von kitschig über verklärt bis reisserisch. Das alles ist Ihr Roman nicht. Spürten Sie Grenzen, die nicht überschritten werden durften?
Ja, sehr deutlich. Ich habe auch, das muss ich sagen, aus den Fehlern meiner früheren Romane gelernt. Die Frage nach den Grenzen und Tabus, nach der Grenze zwischen Privatem und Allgemeinen ist eine der heikelsten. Gibt es sie nicht mehr, ist der Mensch seiner seelischen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Mit dem Erkennen des Unausgesprochenen, des Ungesagten im alltäglichen Umgang (sowie in Texten) wird erst ein Reifeprozess möglich. 

Auf Verletzung von Grenzen reagiere ich besonders empfindlich, was mit meiner Biographie zusammenhängen mag. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte mich sehr früh – als einziger unter den Schulkameraden – für klassische Musik begeistert. Damit war man der perfekte Exote und folglich ausgegrenzt. Nicht für Filmschauspielerinnen schwärmte ich, sondern für Pianistinnen. Die französische Bibliothek meiner Mutter zog mich mehr an als die Schullektüre, ich war ein begeisterter Leser von Baudelaire, Nerval und Rimbaud. Folglich war ich in meiner eigenen Generation ein Fremder geblieben, was sie interessierte, interessierte mich nicht, und umgekehrt. Ich vermauerte mich gegen eine Zeit, die das „Sie“ und das Private als bürgerlich verschrie und genau wusste, welches das richtige Leben war. Ich fürchtete mich vor dem Terror dieser Nivellierung und dem Ausgrenzungswahn von allem, was fremd und anders war. Unfreiwillig wurde ich zum Verweigerer des angesagten Lebens, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Für mein Schreiben allerdings entpuppte sich meine merkwürdige Bootsfahrt als unschätzbarer Gewinn. 
Nach wie vor reagiere ich äusserst empfindlich auf Ausgrenzungen, und wir leben heute leider wieder in einer Zeit der Diffamierung. Sie macht mir Angst. Rasch ist man mit Worten zu Hand, um den andern zu beschuldigen oder anzuklagen. Sei es, weil er das falsche Geschlecht besitzt, nicht zur gefragten Altersklasse gehört oder einfach Johann Sebastian Bach liebt. 

Aus meiner Generation rettete ich mich in die romanischen Länder. Kurz nach Francos Tod, sehr jung, blieb ich in Spanien hängen und verliebte mich. Ich machte in Madrid die befreiende Erfahrung, dass Bildung nicht als „elitär“ galt. Das Gespür für Grenzen ist in romanischen Ländern immer noch stärker ausgeprägt, auch in der romanischen Literatur. Sie hat den Erzählfaden nie verloren. Nicht ohne Grund lebe ich heute in Frankreich, nah an der spanischen Grenze. Im Vorfeld der Solothurner Literaturtage forderten offenbar einzelne Stimmen lautstark die Abschaffung der „Wasserglas-Lesungen“. Ein keulenartiges Schlagwort. Zum Glück werde ich in dieser ärmeren Gegend von solchen wohlstandsverwöhnten Diskussionen verschont. Man hat hier andere Probleme. 

Flüstert Ihr Papagei noch immer? 
Leider nicht mehr, er ist im vergangenen Sommer gestorben. Dieser uralte, blinde Vogel sass immer auf meiner Schulter, wenn ich schrieb. Gelegentlich wollte er mit mir plaudern, manchmal steckte er seinen Kopf ins Gefieder und schlief. Dann durfte ich mich nicht mehr bewegen. Er fehlt mir, ich rede immer noch mit ihm, vor allem, wenn der Schreibfluss stockt. 

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014).

Beitragsbild © Werner Gadliger

Lesebuch für KomplizInnen

100 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Charles Linsmayers Anthologie «20/21 Synchron» besichtigt die viersprachige Buchschweiz.

von Peter Surber, Kulturredaktor

«Boden unter den Füssen zu gewinnen, flüchtet man in Erinnerung, sieht sich, wie Lenz, der den 20. Jänner durchs Gebirg ging, als kleiner Bub mit Vater nach dem Vesperbrot, wenn der diffuse Tag unmerklich in die Nacht überzukippen beginnt, vom Dorf durch den frischen Schnee die Aufforstung hinauf zum Glaspass stapfen…» – ein erster Satz, der hier noch lange nicht zu Ende ist, ein typischer Hänny-Satz. Reto Hänny, 1947 im bündnerischen Tschappina geboren, hat vor wenigen Tagen den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 zugesprochen erhalten. Darum haben wir ihn als ersten gesucht im Lesebuch zu hundert Jahren Schweizer Literatur, das Charles Linsmayer herausgegeben hat. Hänny ist natürlich drin – aber nicht mit einem Auszug aus seinen Romanen mit den rabiaten Kurztiteln Ruch, Flug oder Sturz, sondern mit einem original für das Lesebuch geschriebenen Text: Glaspass.

Von «überraschend vielen» noch lebenden Autorinnen und Autoren habe er solche bisher unveröffentlichten Beiträge für die Anthologie erhalten, schreibt Linsmayer im Nachwort und bedankt sich für das «intensive Jahr» mit Schweizer Literatur, das ihm die Gespräche mit den Angefragten und die Arbeit am Buch beschert hätten.

Kanon und Entdeckungen
Eine solche intensive Entdeckungsreise durch Regionen, Themen und Jahrzehnte bietet das Buch auch den Leserinnen und Lesern. Es schlägt einen gewaltigen Bogen von 1920 bis 2020, aber geordnet ist es nicht chronologisch, sondern thematisch in kleinen, eher ad hoc gebildeten als systematisch wirkenden Gruppen. «Frühe Erfahrungen» stehen am Anfang, es folgen Texte über die Liebe, über «Väter und Mütter», «Freundschaften», «Städte und Landschaften», die Schweiz wird verhandelt oder der Tod, Schicksale «Auf der Schattenseite» oder Erlebnisse «Jenseits des Realen», Witziges steht neben Tragischem – ein beinah unerschöpfliches Kaleidoskop von Stimmen und Stimmungen.

Walser, Hesse, Ramuz, Hohl, Inglin und so weiter: Die Klassiker sind drin, die Grossschriftsteller von Frisch bis Dürrenmatt bis Burger bis Nizon, die erste Autorinnengarde von Annemarie Schwarzenbach, Alice Rivaz, Amélie Plume, Agota Kristof, Luisa Famos bis Helen Meier. Linsmayer hat den (inoffiziellen, aber über ein Jahrhundert herauskristallisierten) Kanon des viersprachigen Literaturschaffens intus und teils mitgeprägt: Er erinnert auch an Namen, die vermutlich vergessen wären, wenn er sie nicht selber seit den Achtzigerjahren in den 30 Bänden der Reihe «Frühling der Gegenwart» oder in der vierzigbändigen Edition «Reprinted by Huber» ans Licht geholt hätte: Francis Giauque, Cilette Ofaire, Monique Saint-Hélier, Kurt Guggenheim…

Man kommt mit Aufzählen nicht nach. Die Jüngsten? Arno Camenisch, Dorothee Elmiger, Meral Kureishi, Anna Stern, alles Achtzigerjahrgänge. Die Ostschweiz? Neben Elmiger, Meier und Stern sind Regina Ullmann, Niklaus Meienberg, Eveline Hasler, Peter Stamm und Peter Weber in Linsmayers «Long List aufgenommen. Dagegen fehlen wichtige regionale Stimmen wie Christoph Keller, Christian Uetz, Christine Fischer, Renato Kaiser, Lara Stoll und andere.

Generell sind Spoken-Word-Stimmen rar, wohl dem ausdrücklichen Lesebuch-Charakter geschuldet. «Vollständigkeit wurde nicht angestrebt», schreibt Linsmayer gleich selber im Nachwort – bei schweizweit rund 2500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern wäre das auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Auswahl habe sich aus seinen Vorlieben und Erfahrungen ergeben. Begründungen, Gewichtungen und Tonalitäten, Wahlverwandtschaften und Kontraste schält das Nachwort heraus, und eine unübertreffliche Leistung sind die 135 Kurzbiografien, je eine Seite lang, die alle im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren samt Bild vorstellen.

Vögel und Pilze
Am besten folgt man also als Leser ebenfalls seinen Vorlieben. Findet zum Beispiel Dorothee Elmigers Lockdown-Reflexion Schlafprotokoll, verfasst für eine Produktion am Zürcher Schauspielhaus 2020. Oder einen gespenstisch apokalyptischen Text mit dem Titel Vögel, frittiert der Zürcher Romanautorin Silvia Tschui. Darin ist die Welt, überhitzt und zu Tode ausgebeutet, am Ende, die Farben verloren, der Boden ausgetrocknet, die Wörter vergessen, «und man hatte nie eine Chance». «Verhängnis und Vision» heisst das Kapitel, in dem auch eines der wenigen Gedichte im Band zu finden ist, Raphael Urweiders tropische Trauer. Zur Aufheiterung folgt ein paar Seiten weiter Peter Webers Pilzöffentlichkeit, in der die Hallimasche das letzte Wort haben.

In einer kulturpessimistischen Schlussbetrachtung warnt der Herausgeber vor der «digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur globalen Zuschnitts», die das gedruckte Wort zunehmend «in eine Randexistenz» dränge. Er hofft im Gegenzug auf ein Lesepublikum, das, statt «Trends und Moden» zu folgen, dem Geschriebenen wieder mehr Zeit widmet und «zu neugierigen, aufnahmebereiten, geduldigen Adressaten und echten, begeisterungsfähigen Komplizen der Schreibenden» wird. Sein Lesebuch will dazu einen Beitrag leisten.

Dieser Bericht erschien in der Märzausgabe der Kuturzeitschrift Saiten.

Bei der Veranstaltung vom 10. März im Literaturhaus Thurgau sind Klaus Merz uns Silvia Tschui mit auf der Bühne. Begleitet werden Sie vom Gitarristen Philipp Schaufelberger. Moderation Peter Surber

Silvia Tschui, geb. 1974 in Zürich, studierte Germanistik und Grafikdesign. Ihr erster Roman „Jakobs Ross“ war in der Schweiz ein preisgekrönter Bestseller. Ihr aktueller Roman „Der Wod“ erschien bei Rowohlt.
Klaus Merz, geb. 1945, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018).

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Sie kennen die Geschichte. Ein Mann, ein Pfeil, ein Apfel. Seit ich denken kann, prangt auf der grössten Schweizer Münze das Konterfei jenes Helden, den man zum kollektiven Bewusstsein eines ganzen Staates, von Generationen wackerer Eidgenossen machte. Joachim B. Schmidt hat sie neu erzählt. Wirklich neu. Und wie!

Noch bis vor ein paar Jahren wurden Kinder in Schweizer Schulen mit heroischen Gefühlen regelrecht geimpft, dem Glauben, von jenen wackeren Recken abzustammen, die sich mit stolzer Brust gegen den übermächtigen und erdrückenden Feind zu wehren wussten. Erst in den letzten Jahrzehnten bröckelte dieser Mythos und selbst in den Lehrmitteln von Schulen werden jene Geschehnisse vor mehr als 700 Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees relativiert, nur noch als Gründungssagen erzählt. Und doch, ein Rest bleibt. Mit den wackeren Treichlern, den stämmigen Verweigern gegen eine Obrigkeit, den tapferen Ureidgenossen, die sich durch nichts und niemanden ihre Freiheit nehmen lassen. Man fotografiert sich wieder stolzer unter dem strammen Mann mit seinem tapferen Sohn auf dem Denkmal auf dem Markplatz des Urner Hauptortes.

Der Mythos Tell ist eine Schlagader des helvetischen Selbstbewusstseins, und nicht zuletzt einer ganzen Tourismusmaschinerie. Nicht auszudenken, wenn Schiller damals diesen Stoff nicht zu einem Theater gemacht hätte und die Geschichten nur ein paar Seiten im Weissen Buch von Sarnen geblieben wären. Als ich in der Ausbildung war, spielten wir Schillers Wilhelm Tell, der vor 200 Jahren in Weimar zum ersten Mal aufgeführt wurde und seither zum genetischen Code einer ganzen Nation gehört. Damals spielte ich Walter Fürst, einen der drei Eidgenossen, die an den Ufern des Vierwaldstättersees den Eid gegen die verhasste Obrigkeit über den See riefen: „Auf Tod und Leben!“

Zu ihnen drang auch die Geschichte dieses einen Helden, den man zwang, mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen, den man dann trotzdem fesselte, der den Soldaten auf dem Schiff entkam und mit einem Bolzen den verhassten Vogt Gessler erschoss. Schiller machte die Geschichte zu einem Heldendrama, bot mit seinem Theater eine Breitseite, um den heroischen Akt wirkungsvoll zu inszenieren.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Erstaunlich genug, dass sich ein Ausgewanderter traut, den Stoff neu zu erzählen. Eine Geschichte, an der man sich eigentlich nur die Finger verbrennen kann. Ein Bündner in Island inszeniert die Geschichte ganz neu, nimmt ihr (fast) allen Pathos, lässt sie mit Blut und Schweiss auferstehen, entschlackt bis auf die Geschichte einer Familie, die sich an den bewaldeten und felsigen Flanken jenes Sees gegen die Willkür einer übermächtigen Besatzungsmacht und das ewige Verlieren zu wehren versucht. Ich bewundere den Mut des Schriftstellers, der sich auch einen unverfänglicheren Stoff hätte aussuchen können, zumal es aus einem Land schreibt, das an Mythen reich ist. 

In Joachim B. Schmidts „Tell“ kämpft ein Jäger und Bauer gegen ein mehrfaches Trauma, jenes als Knabe in den pfarrherrlichen Gemächern, als junger Mann mit dem mitverschuldeten Verlust seines Bruders und als erwachsener Mann mit dem Bewusstsein, nicht der zu sein, der er sein sollte. Tell ist ein Gepeitschter, ein Getriebener, einer, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, den das Schicksal aber immer wieder zu Entscheidungen zwingt, denen er sich nie freiwillig stellen würde. Sein Leben ist ein Kampf, ein Kampf, den er irgendwann bezahlen muss.

Ich habe das Buch atemlos gelesen. Obwohl ich die Geschichte kenne. Somit kann es nicht an der Handlung liegen. Joachim B. Schmidt switcht in seinem Roman von Person zu Person, erzählt von Walter, Tells Sohn, seiner Frau Hedwig, die einst mit seinem Bruder verheiratet war, von Tells Mutter, Hedwigs Mutter, von Gessler, dem Vogt und Harras, seinem wilden Vasallen und vieler anderer, die in dem Drama rund um die aufkeimenden Uruhen, die an den Gestaden jenes Sees ihren Anfang nehmen. Tell kämpft am meisten gegen sich selbst. Gessler gegen die Rolle, die man ihm aufzwingt und Harras gegen die Ahnung, nie das zu werden, was er sich als Mann zuschreibt. Schmidts „Tell“ ist aber in seiner Spiegelung auch die Geschichte der Frauen dieser drei Gestalten; Tell mit seiner Frau Hedwig und seiner Mutter, die die Familie gleich mehrfach vor ihrer Vernichtung retten, Theresa, Gesslers Frau, die in der Ferne auf ihren Gemahl hofft und ahnt, dass sie ihn nie ihrer Tochter zeigen kann und all jene Frauen, die sich Harras nimmt, die blutend liegen bleiben, während er sein Gemächt einpackt.

Schmidts „Tell“ trieft, ist bestes Kino, haut einem um, zieht einem ganz nah an ein Geschehen, dass einem schaudern lässt. „Tell“ ist die Geschichte eines vielfach Sterbenden. Vielleicht auch die Sterbegeschichte des Mythos „Mann“, einer Sterbegeschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

Tell ist toll – mehrfach!

Interview

Was um Himmels Willen hat dich geritten, als du dich an den Stoff machtest? Braucht es die Distanz „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“? Warum ausgerechnet die helvetischste Sage?

Die Idee, die Wilhelm-Tell-Geschichte neu zu schreiben, trage ich schon lange mit mir rum. Die Person fasziniert mich, die Geschichte selbst ist grandios. Die Gewissheit, dass ausgerechnet ich sie schreiben muss, ein Auslandschweizer, erlangte ich in Island. Ja, in gewissem Sinne bin ich ausgezogen, um Tell neu zu entdecken und nach Hause zu bringen. Hier, in meiner Wahlheimat gibt es die Isländersagas, uralte Manuskripte über die Zeit der Entstehung des isländischen Volkes, die aber erst 200-300 Jahre später niedergeschrieben worden sind – also eine ähnliche Situation. Bloss: Hier in Island ist man stolz auf die Sagas und deren Helden, man glaubt, dass es sie wirklich gegeben hat, man zelebriert sie. Aber den Ausschlag gegeben hat der isländische Schriftsteller Einar Kárason, der vor wenigen Jahren die etwas komplizierte Sturlunga-Saga neu geschrieben hat, die Wirren des isländischen Bürgerkrieges aus der Perspektive der verschiedenen Mitbestreiter schreibt, womit man sich wunderbar in diese Welt und Situation hineinversetzen kann. Ich habe Einar Kárason getroffen, mich mit ihm über Tell unterhalten, und damit endlich die Form gefunden, in der ich «Tell» erzählen wollte.

In dem Stoff lauern Fallgruben noch und noch. Man könnte sich elend verheddern, nicht nur im Dreieck zwischen Mythos, Geschichtsschreibung und nachgefühlter Realität, sondern auch den Interessen all jener, denen Tell noch immer Leitfigur ist, in Zeiten von Treichlern erst recht.

Bei mir stehen die Geschichte und die Protagonisten im Vordergrund. Die Handlung und das Handeln muss glaubhaft wirken. Unbedingt. Ich habe keine politische Agenda. «Tell» ist keinerlei Propaganda. Wann immer ich am Abgrund dieser Fallgruben gestanden bin, habe ich mich gefragt, was der logischste Weg ist. Ich empfand es zum Beispiel immer als unglaubwürdig, dass Tell – der Bergbauer – der Einzige auf dem Habsburger Boot sein soll, der so ein Boot überhaupt steuern kann. Völlig Quatsch. Im «Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft» von den 1470er Jahren, eine der ältesten Tell-Quellen, steht auch, dass die Soldaten den Auftrag bekommen haben, Tell auf dem See zu versenken. So habe ich die Szene neu und logisch interpretiert. Oder dass Tell bewaffnet auf den Markt geht, wo er doch weiss, dass die Habsburger herrschen, grenzt an purer Dummheit und Ignoranz. Es ist viel logischer, dass er ganz einfach nicht mitgekriegt hat, dass er sich vor dem Hut hätte verbeugen müssen. Tell ist überfordert, die Armbrust wird ihm dann in die Hand gedrückt. Aber es ist so: Seit seiner Entstehung ist Wilhelm Tell für politische Zwecke missbraucht worden: Er ist eine Leitfigur, seine Verfasser wollen den Leuten sagen: Wir sind unabhängig, wir sind stolz, und wir sind überlegen. Kämpft! Darum erstaunt es mich nicht, dass sich die Freiheitstrychler mit Wilhelm-Tell-T-Shirt und herausgestreckter Brust gegen die Behörden und die Wissenschaft aufmüpfen. Sie kennen ja nur den Freiheitskämpfer-Wilhelm-Tell, der aus Stolz den Gruss verweigert. Die Rechte missbraucht ihn für ihre Propaganda schon lange. Die Linke versucht, ihn klein zu machen. Mein Tell ist nicht an Politik interessiert. Er ist ein Eigenbrötler. Er kämpft ums Überleben und hat ein Trauma zu verarbeiten. Er ist eine tragische Figur, die in einen Teufelskreis aus Gewalt gerät und sich nicht daraus befreien kann. Und es geht um Vaterschaft. Ein Thema, dass mir viel näher liegt. Darum möchte ich allen sagen: Gönnt dem Tell doch mal eine politische Pause. Er gehört uns allen, und er gehört vor allem sich selbst.

So ganz nebenbei erscheint in deinem Roman Sturla, Sohn des Sighvats, ein Normanne von einer Insel weit im Norden, auf einer Pilgerreise gen Süden. Den Mann gab es (zumindest lese ich das in der grossen Suchmaschine). Ist das nur eine Reminiszenz an deine neue Heimat oder schlummert da mehr?

Sturla ist eine Person aus der Sturlunga-Saga, die auch bei Einar Kárason auftritt. Darum hat sie bei Tell ein Cameo, zumal sie tatsächlich durch die Urschweiz gereist sein könnte auf dem Weg nach Rom. Ich interpretiere hier die Geschichte ganz frech auf meine Weise. Die Historiker sind sich einig, dass Tell seinen Ursprung nicht in Uri hat, sondern möglicherweise in Skandinavien. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo hat schon vor dem Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, dem Verfasser des Weissen Buches von Sarnen, über den norwegischen Toko geschrieben, der auch einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen musste. Die Geschichte könnte dann mit den Pilgern, die durch die Innerschweiz nach Rom reisten, zu uns gelangt sein, so die Vermutung. Ich drehe hier den Spiess um. Die Tell-Geschichte hat bei uns den Ursprung, und die Pilger haben sie in den Norden getragen. Ich mache das aber mit einem Augenzwinkern und nehme es mit den Jahreszahlen nicht allzu genau. Man verzeihe mir diese Frechheit. Aber ich finde eben, dass unser Wilhelm Tell der Beste von allen ist. Im Sinne von: «Wer hats erfunden?» Ich will, dass wir den Stolz auf diese grausam tolle Geschichte wiederfinden. 

Es sind ein ganzer Strauss von Dramen, die sich in deinem Buch miteinander verstricken. Mit Sicherheit wolltest du das schiller’sche Drama, das sich nur auf Männerseite abspielt, in einer starken Frauenseite spiegeln. Nicht ganz einfach, muss doch angenommen werden, dass die Rolle der Frau damals so gar nicht jener entspricht, die heute selbstverständlich sein sollte.

Mein «Tell» ist, wie gesagt, stark von den Isländersagas beeinflusst. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass die Frauen gar nicht so schlecht vertreten waren und durch ihr Handeln auch zu den Geschichten beitrugen, obwohl sie in der Hierarchie nur knapp über den Sklaven waren. Aber es gab sie eben doch, und wahrscheinlich hatten sie mehr Mitspracherecht, als ihnen die männlichen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zugestehen wollten. Vor etwa einem Jahr gab es im Landesmuseum in Zürich eine interessante Ausstellung unter dem Namen: Nonnen, starke Frauen im Mittelalter. Es findet ein Umdenken statt. Mir war es grundsätzlich ein Anliegen, eine realistische Welt aufzuzeichnen, und darin gibt es eben auch Frauen. Tell hat also nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter. Es gibt in «Tell» Nonnen, Bäuerinnen, eine Pfrundsfrau… Trotzdem diente mir Schillers veralteter Wilhelm Tell als Fundament. Auf ihm habe ich meinen aufgebaut. Was mich aber am meisten bei Schiller stört, ist seine Einteilung in Gut und Böse, alles ist schwarz und weiss. Ich habe versucht, nicht bloss Grautöne gemischt, sondern, wenn ich schon dabei war, ein Farbbild.

Hast du mit einer Armbrust geschossen, dich im Dreck mit Riesen geprügelt, in Fell gekleidet im Vierwaldstättersee Wasser geschluckt?

Genau darum bin ich wohl der Richtige für «Tell»! Mit dem Schwung der Isländersagas im Hintern habe ich mich am Schreibtisch zurück in meine alte Heimat begeben. Einer meiner drei Brüder hat früher tatsächlich Armbrüste gezimmert, was nicht ungefährlich war, mit diesen Brüdern habe ich gerungen und wir haben im eiskalten Hinterrhein Wasser geschluckt. Ich bin auf dem klösterlichen Bauernbetrieb in Cazis aufgewachsen, auf dem Julierpass habe ich einige Sommerwochen als Kind und Jugendlicher verbracht, habe dem Senn der Klosteralp helfen müssen, Kühe zu melken, Rinder zu zählen, Käse zu machen. Mit meinem Vater habe ich Bergwanderung gemacht, bin ihm hinterher gekeucht, ich habe Murmeltiere erschreckt, und einmal bin ich fast auf eine Kreuzotter getrampelt. Endlich konnte ich diese wunderbaren Erlebnisse verwerten.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.

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Beitragsbilder © Eva Schram

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl

Vier Männer auf Spitzbergen mitten im arktischen Winter. Künstler, die ihrer Individualität entsagen und als Kollektiv AURORA mit ihren Bildern bis in die letzten Geheimnisse menschlichen Daseins vorstossen wollen. Und eine Frau mit einem Stift, Valerie Vogler, die das Geheimnis lüften will: „Das Journal der Valerie Vogler“

«AURORA ist ein Rätsel.»

Valerie Vogler ist aufstrebende Journalistin. Sie schreibt hauptsächlich über Themen, die sich mit Kunst, mit bildender Kunst auseinandersetzen und zögert deshalb nicht, als sie von einem angesagten Künstlerkollektiv nach Spitzbergen eingeladen wird und die Chance wittert, etwas von den Geheimnissen von AURORA lüften zu können. Eine Künstlergruppe, die nicht mit Individualität auffällt, sondern mit einem für den Kunstmarkt gesichtslosen Kollektiv. Und da solche Geheimnisse wie jenes um Bansky das Zeug haben, Sensationen zu generieren, macht sich Valerie Vogler in die winterliche Dunkelheit in den Spitzbergen auf, eingeladen von vier Männern, die sie mit allerlei Bedingungen durch einen Boten per Schiff und zu Fuss an ihrer Türe absetzen lassen: Kein Telefon, keinen Computer, stets in einem weissen Kittel wie die vier Männer und respektieren, was das Kollektiv als ihr Manifest bezeichnet:

  1. Das Werk steht immer an erster Stelle.
  2. Das Werk hat immer recht.
  3. Kunst kommt von Kollektiv.
  4. Jedes wahrhaftige Kunstwerk ist die zu Ende gebrachte Ausführung einer Idee.
  5. Es gibt keine individuellen Ideen.
  6. Das Individuum hat sich für das Werk zu opfern. 
  7. Das Werk muss für sich stehen, der Künstler nie.
  8. Der eigentliche Held ist die Werkstatt.

«Was im Werk zu sehen ist, entscheidet der Künstler. Was im Werk nicht zu sehen ist, entscheidet der Betrachter.»

Valerie Vogler ist gleichermassen fasziniert, verunsichert und misstrauisch. Sie spürt sehr schnell, dass die vier bärtigen Männer, von denen sie nur auswechselbare Vornamen kennt, nicht wirklich daran interessiert sind, sie an einem Geheimnis, an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Vier Männer und eine Frau in sieben Räumen, alle ausgemalt in verschiedenen Farben, das siebte Zimmer verboten, so wie in den Märchen, wo dieses eine letzte Zimmer verschlossen bleiben muss und man dem Gast von Beginn weg unmöglich macht, über dieses Geheimnis hinwegzuschauen. Valerie bewohnt eines der Zimmer und schreibt, versucht zu ergründen, was die seltsame Inszenierung bedeutet, und was mit ihr geschieht, während sie diesen Männern in der Küche, die gleichzeitig Werkstatt zu sein scheint, in verschiedenster Weise immer näher kommt. 

«Eine Kunst, bei der es um weniger als Leben und Tod geht, wird sich selbst nicht überleben.»

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl, 2022, 128 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-99059-099-7

Je mehr Zeit verstreicht, desto klarer wird, dass in den Räumen von AURORA viele Geheimnisse stecken. Warum dieses verbotene Zimmer? Warum im Gewehrschrank ein eingeritzter Vogel und die Ziffern 4/6? Warum diese seltsame Distanz, wo man sie doch eingeladen hat? Warum diese Abgeschiedenheit, diese Entfremdung von der Welt? Während draussen Schneestürme toben, sitzt man am grossen Tisch und speist, trinkt schwarzen Kaffee. Distanzen weichen auf, Alkohol macht das seinige. Bis Valerie mit Schmerzen aufwacht und in ihrer Armbeuge eine Einstichstelle findet.

«Die einzige Perversion ist die Zurückhaltung.»

Constantin Schwabs Debüt lässt sich wie ein Thriller lesen. Aber „Das Journal der Valerie Vogler“ ist viel mehr; eine Auseinandersetzung mit den Motivationen der Kunst, der Bericht einer Frau, die immer tiefer in die künstliche (durchaus zweideutig gemeinte) Gegenwelt eines Männerquartetts eintaucht, die die feine Membran durchsticht zwischen Realität und Wahn. Ein Buch darüber, wie weit Kunst sich in Leben verhaken kann, wie leicht man zum Opfer werden kann, geblendet, getäuscht, instrumentalisiert. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist das Protokoll eines Abtauchens, ein Gang durch die Labyrinthe der Künstlichkeit. Mitreissend geschrieben, mutig, passiert doch bei der Lektüre eines solchen Buches Ähnliches wie Valerie Vogler; Man lässt sich ein – und wenn man gepackt wird, sind die Grenzen zwischen den Seiten eines Spiegels fliessend, erst recht dann, wenn sich Spiegelbilder verselbstständigen.

Interview

Männer ziehen sich nach Spitzbergen zurück, nennen ihr Künstlerkollektiv AURORA (auch wissenschaftliche Bezeichnung für das Polarlicht). Sie arbeiten nach festgelegten Grundsätzen, nennen es Manifest. Eigentlich gleich ein multipler Gegenentwurf zu aktuellen Strömungen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Tatsächlich lässt sich in der Kunstszene heute wieder ein Trend hin zur kollektiven Arbeit beobachten. Letztes Jahr standen ausschliesslich Gruppenarbeiten auf der Shortlist zum britischen Turner Price, Kunst und Aktivismus vermengen sich dabei zunehmend. Konkretes Vorbild für das Künstlerquartett in meinen Roman war jedoch das kubanische Kollektiv «Los Carpinteros» («Die Zimmermänner»), auf das ich während meiner Arbeit als Museumsaufsicht in der Wiener Albertina gestossen bin. Ich fand es faszinierend, dass diese Gruppe ihre Namen bewusst in den Hintergrund stellt, um sich auf das gemeinsame, anonyme Kunsthandwerk zurückzubesinnen. Während «Los Carpinteros» dem Kunstmarkt jedoch mit viel Humor und Ironie begegnet, muss die Protagonistin in meinem Buch erfahren, dass AURORA ihre Arbeit sehr, sehr ernst nimmt.  

Das handgeschriebene Original-Journal (also die Urfassung) © Constantin Schwab

Eine Handvoll Männer im ewigen Eis, in der Dunkelheit des arktischen Winters. Sie sind Hüter, Bewahrer ebenso wie Erschaffer und Vollstrecker. Und eine Frau, nur eine einzige Frau als Gegenpol. Sie wird, ohne es in den ersten Tagen zu bemerken, zum Opfer. Eine Art Schöpfungsgeschichte?
Ich denke, jede Kunstgeschichte ist irgendwo eine Schöpfungsgeschichte. Da ist es natürlich kein Zufall, dass AURORA ihr Meisterwerk in genau sieben Tagen erschaffen will. Dass eine junge Frau sich dabei völlig alleingelassen in einer verschworenen Männergruppe wiederfindet, spiegelt für mich nur das Gefühl wider, das der männerdominierte Kunstkanon jahrhundertelang erzeugt hat. Man kann «Das Journal der Valerie Vogler» damit auch als Emanzipationsgeschichte lesen, denn diese Frau will sich eben nicht mit der Opferrolle abfinden, die ihr aufgedrängt wird. Die Frage, die sich ihr dabei stellt, ist: Gibt es überhaupt eine Kunst ohne Opfer? 

Das Buch, die Geschichte hat das Zeug für einen Thriller. Aber ganz offensichtlich ging es ihnen um ganz anderes, wohl nicht zuletzt um Fragen um die Kunst. Was sie soll und darf. Sie schaffen auch Bezüge zum „Kollektiv“ um Rubens, zu Munch oder Banksy. War das von Beginn weg ein genauer Schreibplan? Welches Bild, welche Geschichte stand am Anfang?
Am Anfang stand das Bild aus einem Traum: Ich war in einer Art Künstlerkommune und jeder Raum hatte eine andere Farbe. Das war für mich der Ausgangspunkt – ich wollte eine Geschichte schreiben, die an einem isolierten Ort spielt, in genau dieser Kommune. Dann kam mir die Idee mit dem Journal und der jungen Reporterin, aus deren Sicht wir von dem mysteriösen Kunstprojekt erfahren sollten. Dabei habe ich mir selbst die strengen Einheiten von Ort und Zeit auferlegt: Eine Werkstatt, sieben Tage. Am Ende sollte «das absolute Kunstwerk» stehen. Aber wie dieses Werk aussieht und wie ich dort hinkomme, das wurde mir erst klar, als ich das Journal tatsächlich geschrieben habe – mit der Hand, übrigens.

Journal 02 © Constantin Schwab

Wir sind süchtig nach Sensationen, nach Geheimnissen. Banksy erzählt mit seinen Werken astronomische Auktionspreise, in der Literatur lässt das Geheimnis „Elena Ferrante“ die Kasse klingeln. In der bildenden Kunst gab es immer wieder solche „alternative Lebens- und Schaffensentwürfe“, bei denen sich Marketing und tatsächliche Alternative nicht immer klar abgrenzen und erkennen lassen. „Wahrhaftigkeit“ als Marketing?
Auf jeden Fall. Auch die nicht abreissende Welle an «True Crime»-Formaten und Enthüllungsbüchern zeigt das grosse Bedürfnis nach Sensationsgeschichten, hinter der ein unermüdlicher Massenvoyeurismus steckt. Dieser Blick durch das Schlüsselloch in andere Leben wird uns wohl immer anziehen. Wer möchte nicht einmal in einem fremden Tagebuch blättern? Mit diesem Bedürfnis und dem Label der künstlerischen «Authentizität» spielt auch mein Roman. Das ständige Werben mit dem Authentischen, das zurzeit in Mode ist, finde ich in der Kunst allerdings sehr problematisch. Hier wird vergessen, dass Kunst an sich immer schon inszeniert ist. Letztlich führen diese Marketingmaschen des Wahrhaftigen nur dazu, dass es den Leuten immer schwerer fällt, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. 

Ganz am Schluss kippt die Geschichte. Mit einem Mal stehe ich als Leser auf der anderen Seite eines verspiegelten Fensters. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung, über Wahrheiten.
Ganz genau. Ein grosses Vorbild von mir ist Leo Perutz, der es meisterhaft verstanden hat, kunstvolle Romane zu schreiben, die am Schluss oft mehrere Lesarten zulassen. Ich persönlich liebe Bücher und Geschichten, deren Ende mich dazu bringt, alles Vorherige in einem neuen Licht zu betrachten.

Constantin Schwab wurde 1988 in Berlin geboren und wuchs in Kärnten auf. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, wo er heute auch lebt. Seine Geschichten werden regelmässig in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. 2019 gewann er den Emil-Breisach-Literaturpreis der Akademie Graz. Im selben Jahr erschien der Erzählband Der Tod des Verführers. «Das Journal der Valerie Vogler» ist sein Debütroman.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Christian Uetz «Das nackte Wort», Secession

Eine Geschichte fürs Nachttischchen? Nein, sie müssten, wenn sie das Bett mit jemandem teilen und zu erzählen beginnen, mit heftigen Diskussionen rechnen. Strandlektüre? Nein, ausser es stört sie nicht, wenn ihnen die Schamesröte im Liegestuhl in den Kopf steigt. Zur „Reanimation“ auf dem Sofa nach einem Arbeitstag? Ich weiss nicht. Vielleicht erschlägt sie das schmale Buch.

Soll man „Das nackte Wort“ überhaupt lesen? Auf jeden Fall! Wenn man sich selbst etwas zutraut. Wenn man sich nicht ungerne provozieren lässt. Wenn man bereit ist, bei der Lektüre etwas zu investieren – mehr als nur Lebenszeit. Wenn man die Uetz’schen Sprachkaskaden zu geniessen versteht. Erst recht dann, wenn man den Dichter schon einmal live erlebt hat und sich mit der Lektüre der Sound seiner Sprache im Kopf entfaltet. Und nicht zuletzt dann, wenn man im immer grösseren Meer von Büchern nach den Klippen sucht, die das Zeug haben, dass man Schlagseite bekommt. „Das nackte Wort“ ragt wie ein einsamer Monolith aus der Vielheit der Gegenwartsliteratur. Ja doch, Christian Uetz ist ein Polterer, ein Provokateur, aber niemals Schaumschläger oder blosser Selbstinszenierer. Christian Uetz ist es bitter ernst. Er lockt mich aus meiner gedanklichen und weltanschaulichen Komfortzone. Manchmal zerrt er mich förmlich. Er zwingt mich, mich mit meinem eigenen Dasein, meinen Vorstellungen, meinen festgefahrenen Meinungen auseinanderzusetzen. Er rüttelt nicht nur an mir, sondern an den Grundfesten einer Gesellschaftsordnung, die sich schwer tut, sich von Festgefahrenem zu befreien, obwohl leere Kirchen und Querdenkerdemonstrationern vorgaukeln, man sei auf dem Weg der Emanzipation.

Christian Uetz «Das nackte Wort», Secession, 2021, 159 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-96639-045-3

Georg Niemann ist verheiratet und Vater. Er pendelt zwischen Deutschland und der Schweiz, seiner Familie und seiner Arbeit. Seine Ehe ist das, was man eine offene Beziehung nennt. Beide haben an das Gegenüber nicht den Anspruch unbedingter Treue, beide bleiben offen, nicht nur in ausserehelichen Beziehungen, sondern auch im Bestreben, dem andern gegenüber damit offen und ehrlich zu sein. Corona und Lockdown stossen Georg aber in eine innere und äussere Auseinandersetzung mit sich selbst und den Gegebenheiten, die ihn bis in die Grundfesten erschüttern. „Das nackte Wort“ ist eine Art Tagebuch. Georg erzählt von seiner Liebe zu Liv, seiner Frau. Seiner Liebe zu Toa, einer jungen Studentin. Von seinen Dialogen, seinen Gesprächen, seinen Auseinandersetzungen. Von den Tagen, an denen er mit aller verfügbaren Unruhe nach Klarheit und Antworten sucht, denn Georg möchte dienen, sucht nach einer Herrin, die herrscht, sucht nach dem erotischen Kick, der uferlosen Leidenschaft, die das bedingungslose Dienen bei ihm auszulösen vermag. 

Da ist aber nicht nur die Suche nach der grenzenlosen Erregung im Zusammensein mit Liv oder Toa. Georg sucht nach mehr, nach dem Göttlichen im Wort, in der Sprache, nach dem Göttlichen in der unbegrenzten Liebe. Georg schreibt, spricht und argumentiert sich in einen Sprachrausch, weit ab von unbedachten Plaudereien, gedankenlosem Geschwätz, banalem Geschichten-erzählen. Was ich in Georgs Auseinandersetzungen mitlese, reibt  an mir, schleift, eckt an, verunsichert mich. Christian Uetz schreibt keine Wohlfühlprosa. Christian Uetz forscht sprachlich ebenso nach der Göttlichkeit der Sprache, wie nach der Göttlichkeit des Eros. „Das nackte Wort“ ist Prosa gewordene Auseinandersetzung in der von Christian Uetz hochphilosophischen Art (Art sehrwohl doppeldeutig gemeint!).

Dass Christian Uetz zusammen mit dem Musiker Adrian Emanuel Egli zum ersten Mal in „sein“ Literaturhaus eingeladen wird, ist höchste Zeit und tiefe Verneigung vor einem Mann, der sich mit ganzem Geist, ganzer Seele und ganzem Körper der Sprache verschrieben hat!

Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär!  Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012), «Es passierte» (2015) ist «Das nackte Wort» neben vielen Gedichtbänden, den ersten erschienen beim Waldgut Verlag, sein vierter Roman.

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Kiwi

Eigentlich will Michael Hartung nur seine Ruhe. Und in seiner Videothek „Moviestar“ ist Ruhe eingekehrt. Zuviel Ruhe, denn die Miete ist im Rückstand, so wie alles im Leben von Michael. Bis ein Reporter auftaucht und die Tür zu einer glorreichen Zukunft in der Sonne des Glück aufreisst. Mit einem Mal ist Michael Hartung etwas ganz besonderes!

Seit mehr als 30 Jahren ist Deutschland „wiedervereint“. Ein Ereignis, an das jedes Jahr feierlich erinnert wird, ein Ereignis, das im Laufe der Geschichte immer mehr zu Geschichte wird, einer Geschichte, die sich durch Geschichtsschreibung, Dokumentationen, Institutionen immer weiter von dem entfernt, was der Moment damals war. Die Bilder vom Mauerfall, dem Feuerwerk, den Trabis an den Grenzübergängen haben sich ins kollektive Bewusstsein gegraben, obwohl sie bei weitem nicht das repräsentieren, was in jenen Momenten davor und danach wirklich geschah. Aber der Mensch hängt sich ans Spektakel, an einprägsame Bilder, Stellvertreter. Dabei war die „friedliche Revolution“ für viele in der damalige DDR erst einmal ein Verlust aller Sicherheit. Plötzlich war alles schlecht, rückständig und unbrauchbar, was Jahrzehnte lang Fundament war. Plötzlich war der Klassenfeind das Mass aller Dinge. Erstaunlich genug, dass eine aus dem Osten 16 Jahre lang die Geschicke dieses Landes repräsentierte und mitgestaltete.

Michael Hartung arbeitete in den Tagen des Mauerfalls in einem Kohlebergwerk irgendwo in der DDR-Provinz. Seine Aufmerksamkeit galt nicht den Geschehnissen in der Hauptstadt, sondern seiner Familie, die in diesem kalten November in einer Wohnung mit defekter Heizung ausharren musste, was dazu führte, dass die kleine Tochter mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Dass seine Familie in Schieflache geraten war, lag aber nicht nur an der Heizung. Irgendwann war das Feuer auch in der Ehe aus. Er verlor den Kontakt, Stelle um Stelle und irgendwann auch den Glauben, dass es ein Stück Wende auch für ihn geben sollte. Von einem Freund überredet, landet er im „Moviestar“, einem Filmverleih, der am Anfang noch ganz gut lief, aber mit dem Aufkommen all der Streamingangebote mehr und mehr die Laufkundschaft verlor. Längst hat sich Michael im hinteren Teil, dort wo einst die Pornos aufgereiht standen, Bett und Kabinendusche eingerichtet. Sein Leben schien endgültig zu stranden. Bis Alexander Landmann auftaucht.

Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Kiepenheuer & Witsch, 2022, 302 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-462-00084-9

Alexander Landmann ist Journalist. Und weil er ahnte, einer guten Geschichte auf der Spur zu sein, gefunden durch seine hartnäckige Suche in Stasiakten, denen man bisher nie Aufmerksamkeit schenkte, stand Landmann an der Theke des Moviestars und gab Hartung zu verstehen, er wäre Dreh- und Angelpunkt einer Heldengeschichte, die genau das richtige wäre im Nachrichtenmagazin, das sich auf die Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung formiert. In der Nacht zum 12. Juli 1983 passierte ein S-Bahnzug über eine Weiche die Grenze am Bahnhof Friedrichstrasse. 127 DDR-Bürger rumpelten völlig unverhofft in den Westen. In jener Nacht hatte Alexander Landmann Dienst, nach Stasiakten damals Stellvertretender Stellwerkmeister, nach Stasiakten Manipulator jener Weiche, nach Stasiakten danach verhört, eingesperrt und aller Wahrscheinlichkeit nach gefoltert. Klar, Michael war damals im Eisenbahndienst. Aber der besagte Weichenbolzen, der die 127 in die Freiheit führte, war mehr Missgeschick und in Michaels Vergangenheit eines von vielen Missgeschicken, für die er zu büssen hatte.

Mit einem Mal soll Michael Hartung ein Held sein. Landmann verspricht ihm alles Mögliche, nicht zuletzt das Ende aller Geldsorgen. Und tatsächlich. Angereichert durch Landmanns Schreibkunst, aufgeblasen mit der notwendigen Dramatik und einer ordentlichen Portion Pathos wird aus dem Loser ein Held der Nation, denn an Helden fehlt es im Land. Kaum abgedruckt bilden sich Trauben von Reportern, Journalisten und Neugieriger vor dem Moviestar. Selbst die Nachbarn werden plötzlich zu Freunden und die Tochter, zu der er den Kontakt abbrechen liess, meldet sich und ist gleichermassen stolz und verwundert, einen Papa zu haben, den sie bisher so ganz anders einschätzte. Michael Hartung steigt auf wie ein Phönix aus der Asche, obwohl er ahnt, dass auch diese Glückssträhne nicht von Dauer sein kann, denn der Bolzen damals war nur ein Missgeschick mehr, dass durch das Schönschreiben zu einer Heldentat wurde. Als Hartung an den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung im Bundestag eine Rede halten soll, als er genau spürt, dass er seiner neuen Liebe Paula und seiner Tochter Natalie reinen Wein einschenken muss, um beginnendes Glück nicht auf einem Lügenkonstrukt aufzubauen, fasst sich Hartung ein Herz.

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse“ beschreibt, was mit Geschichtsschreibung passiert. Was mit uns geschieht, wenn sich durch ein bisschen Verschiebung der Tatsachen das Blatt wenden lässt, wenn eine Bildkorrektur ein Leben vom Schatten ins Licht stellt. Der Roman offenbart, wie sehr wir Menschen nach Geschichten lechzen, die uns die Welt ganz einfach erklären. Und Heldinnen und Helden, am liebsten jene, die in aller Bescheidenheit im Stille wirken, bestätigen uns, dass das Gute siegt und das Gute immer dort zu finden ist, wo die Sieger stehen. Vielleicht überstürzen sich die Geschehnisse am Schluss des Buches allzu sehr. Als ob man ein Leben in einem einzigen Moment umkrempeln könnte. Aber Michael Hartung ist eben doch ein Held – zumindest im Buch.

Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den «Tatort». 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch «Haltet euer Herz bereit» wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi «Waidmannstod», 2015 «Auentod». 2019 erschien sein autobiografisches Buch «Wo wir zu Hause sind», das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

Beitragsbild © Sven Görlich

Franz Hohler «Enkeltrick», Luchterhand

Eingefleischte Hohler-Fans werden „Der Enkeltrick“ mit Sicherheit lesen, spätestens dann, wenn sie einmal mehr den Tausendsassa auf der Bühne erlebt haben und am Büchertisch stehen. Die Frage ist: Wie kann man all jene zu einem Hohler locken, die noch nicht auf den Geschmack gekommen sind – oder das Gefühl haben, die Reihe im Regal sei lang genug.

Als ich im Literaturhaus Thurgau vor ein paar Monaten eine Lesung mit Franz Hohler organisierte, war unter den BesucherInnen auch eine langjährige Freundin, die nur deshalb einen Platz für die Vorstellung reservierte, weil sich ihre Begleitung diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte. Meine Freundin hatte geglaubt, sie hätte es gesehen, wäre satt genug. Aber nach der Vorstellung schien alles vergessen zu sein. Wie ein junger Groupie hing die dem alten Mann am Mund und liess sich beim Signieren in ein Gespräch verwickeln. Und als sie bei mir stand, leuchteten ihre Augen.

Franz Hohler «Der Enkeltrick», Luchterhand, 2021, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-630-87679-5

Er kann es einfach. Er weiss, wie er die Fährte legen muss, damit ich ihm folge. Er nimmt mich mit, wickelt mich ein, umgarnt mich. Und wenn ich seine Geschichten lese, bekomme ich das Gefühl, nicht nur die Welt ein bisschen besser zu verstehen, sondern diese auch mit anderen Augen sehen zu können, gespiegelt, hinein ins Verborgene, Vergessene, Übersehene.
Wenn Franz Hohler von Beinahekatastrophen erzählt, wie Leben an der Entgleisung vorbeischrammt. Oder vom „blendenden Spitzchen“, einem Berg, der Jahrzehnte aus einem Conrad-Ferdinand-Meyer-Gedicht ruft und in einem Mann eine Sehnsucht weckt, die nur mit Steigeisen und Bergschuhen zu stillen ist, jetzt sofort, obwohl ihn alle und alles zur Vernunft ruft. Oder in jener „sagenhaften“ Geschichte von stets reservierten Tisch im Berggasthof und den Geistern, die man lieber nicht wecken sollte, weil sie sich unweigerlich zu rächen wissen. Oder vom alt gewordenen Joseph Haydn, der sich 1809, kurz vor seinem Tod, zur grossen Verunsicherung seines Kammerdieners, noch einmal in vollem Ornat in seine Kutsche setzt und der Zeit entflieht. Wie sich ein Abenteuer, das sich mit einem Mal aufbäumt im nächsten Augenblick zu Staub zerfällt.

Franz Hohler neuster Erzählband „Der Enkeltrick“ überrascht mit Wendungen, mit vielfältigen Erzählmustern, mal sagenhaft, mal abenteuerlich, mal witzig und nie belehrend. Vielleicht liegt sie grösste Qualität in den Erzählungen des Altmeisters, dass er sich über die mehr als fünf Jahrzehnte jene Unverkrampftheit und Frische bewahrt hat, die jenen fehlt, die irrtümlich glauben, bei der kleinen Erzählform doch eigentlich nicht viel falsch machen zu können. Erzählungen müssen treffen, zielsicher und punktgenau. Und das kann Franz Hohler!

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Rezension «Fahrplanmässiger Aufenthalt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Noa Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe

Fahren Sie mit dem Zug zur Arbeit? Kämpfen Sie auf dem Nachhauseweg manchmal mit Fragen über die Sinnhaftigkeit ihres Tuns – und mit dem Schlaf? Dämmern sie manchmal weg und schrecken auf, weil der Zug einfährt, wo sie aussteigen sollten? Noa Theobaldy zieht mich mit ihrem Debüt «Tunnelblick» ins Unterbewusste, in die dunklen Zonen menschlichen Seins.

Ein Mann fährt Zug, von der Arbeit nach Hause, müde. Nicht nur müde von einem langen Arbeitstag, sondern von einem ganzen Leben, das nicht in die Gänge kommt. Er freut sich auf seine Ruhe, sein Bier und dämmert kurz vor dem Endbahnhof, seinem Wohnort im Zug weg. Als er wieder aufwacht, rattert der Zug durch einen Tunnel. Obwohl es dort, wo er wohnt, keine längere Tunnels gibt. Aber er sitzt in diesem Zug, sieht sein Spiegelbild in der Schwärze des Fensters und wundert sich. Der Zug ist fast leer. Er steht auf, sucht nach anderen, nach Personal, während vor den Fenstern nichts darauf hinweist, dass der Tunnel zu Ende gehen würde.

Zugegeben, als ich mit der Lektüre der Erzählung „Tunnelblick“ begann, erinnerte mich das Gelesene so stark an die Erzählung Friedrich Dürrenmatts, dass ich das Buch beinahe weggelegt habe. „Der Tunnel“, eine Kurzgeschichte des damals noch jungen Dürrenmatts, die mich in meiner Begeisterung für ihn nachhaltig beeinflusste. Ausgerechnet! Aber glücklicherweise verselbständigt sich Noa Theobaldys Erzählung sehr schnell, denn wer spielt im nebulösen Halbschlaf Zug fahrend nicht zuweilen mit dem Gedanken, was wäre wenn. Silvan, um seine Feierabendruhe gebracht, macht sich auf im Zug, findet ein Mädchen allein in einem Abteil, das mit einer Fledermaus spielt, eine Schaffnerin, die sich wegen seines fehlenden Fahrscheins wohl kulant zeigt, sonst aber nur wenig zur Klärung seiner Fragen beiträgt, eine Handvoll Passagiere, vornehmlich ältere Menschen und mit Dauer der Fahrt immer mehr Fragen. Bis der Zug mitten im Tunnel stoppt. Das Mädchen hängt sich an Silvan, die Schaffnerin glaubt, Vater und Tochter vor sich zu haben. Die Fledermaus ist durch einen Spalt im Fenster entflogen. Man heisst die Passagiere des Zuges wegen technischer Probleme aus dem Zug auszusteigen. Die Schaffnerin führt das Grüpplein zwischen Zug und Tunnelwand zur Spitze des Zuges. Der Lokführer spricht von grösseren Problemen, die Schaffnerin von einem Sammelraum weiter vorne, wo man sich hinbegeben solle.

Noe Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe, 2022, 96 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-03867-037-7

Noa Theobaldys Szenerie in ihrer Erzählung entfernt sich mit fortlaufender Lektüre immer weiter von einem realen Geschehen. Es gibt Fenster, die man nicht öffnen sollte, Vorhänge, die geschlossen bleiben sollten, lange Gänge ohne Licht, hinein in ein Dunkel, das einem bei der Lektüre klaustrophobische Gefühle beschert, ein Mädchen, das mit einem Mal verschwindet und Mitreisende, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Silvan sinkt in das Geschehen, lässt sich aufsaugen. Der Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Tunnel zu kommen, eine Erklärung für ein alleine gelassenes Mädchen zu finden, schwinden hinter dem Bemühen, den nächsten Schritt, den nächsten Moment zu verstehen. Der Mann vergisst sich, verliert sich. Genau das macht den Reiz dieser Erzählung aus und verweist auch auf den Titel der Erzählung. Da ist die Kulisse, dieser Tunnel, die Schwärze, die Enge, das Dunkel, fehlendes Licht, fehlende Distanz. Und ein Mann, der nur noch den Moment zu überstehen versucht. Ich fühle mich gespiegelt in Momenten meiner eigenen Biographie, in denen mein Leben in einem Tunnel zum Stillstand kam, in denen mich nichts und niemand aus den klaustrophobischen Gefühlen einer Ausweglosigkeit befreien konnte. 

Mag sein, dass sich die Erzählung aus meiner Sicht etwas zu sehr ins Traumhafte, ins Alptraumhafte begibt und den Schluss der Erzählung in meinem Kopf viel zu früh provoziert. Aber das verzeihe ich der Erzählung, weil Noa Theobaldy so eigenwillig zu erzählen vermag. Ich lese eine Erzählung in einem ganz eigenen Sound, einer Sprache, die sich erfrischend von allem anderen abhebt. Eine Erzählung, über die man sich in einer Leserunde lange auseinandersetzen könnte, die mehr offen lässt, als sie erklären will.

Interview

Schon über den Titel „Tunnelblick“ könnte man sich vertiefen. Zum einen wichtig, um sich zu fokussieren, zum andern blendet er alles aus, was sich auf die Fokussierung des scheinbar einzigen Lichts am Ende des Tunnels entzieht. Ist der Titel bei dir mehr positiv oder negativ besetzt? Ist das Schreiben selbst nicht auch ein Tun, das einen gewissen Tunnelblick voraussetzt?
Bei mir ist der Titel eher positiv besetzt, denn zwar geht der Protagonist anfangs mit einem Tunnelblick durch die Welt, der ihm viele tiefe Begegnungen und Erlebnisse verwehrt, ihn stattdessen innerhalb des Tunnels der Oberflächlichkeit hält. Doch ich sehe dabei immer auch das Licht. Ein Tunnel ist nicht endlos, irgendwann kann sich der Blick öffnen. Vielleicht brauchte der Protagonist sogar den Tunnelblick, um mit seinem schweren Herzen leben zu können, bis die Zeit und der Mut gekommen sind, den Blick zu öffnen und eine ganze Fülle an Eindrücken, erschütternden wie befreienden, zuzulassen.
Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben dieser Erzählung einen Tunnelblick voraussetzte, denn mir war nur der Anfang von Anfang an klar, wie es ausgehen würde, war für mich noch nicht fassbar. Ich bin daher nicht mit Scheuklappen auf ein bestimmtes Ziel zugesteuert. So habe ich die Handlungsstränge eher erhascht, die Figuren und Gestalten sind erschienen, erst im Dunkeln, dann klarer umrissen. Es war eine Annäherung eher vom Offenen ins Konkrete statt umgekehrt.

Silvans Herz ist voll mit Enttäuschungen, steht ganz am Anfang deiner Erzählung. Er ist müde, nicht nur vom Arbeitstag. Du gehst aber fast nicht oder nur andeutungsweise auf das ein, was Silvan hinter sich lässt, erzählst mir mit einem Minimum an Erklärungen. Das ist Absicht, das spüre ich. Ist das nicht ein Wagnis, mich als Leser derart (wörtlich) „im Dunkeln“ zu lassen?
Für mich war es nicht relevant, was Silvan zu schaffen macht, ich wollte ein Grundgefühl vermitteln, das ihn umgibt. Dieses bricht nach und nach auf, und was ihm tatsächlich die Energie entzieht, liegt sehr lange zurück. 
Ich habe auch mich als Schreibende im Dunkeln gelassen, was mich beim Verfassen neugierig gemacht hat. Ich war gespannt darauf, was es zu sehen gäbe, wenn ich meinen Protagonisten nach und nach ausleuchten würde. 

Das Personal bewegt sich im Dunkeln, in Gängen, die kaum ausgeleuchtet sind, tief im Berg. Das Unterbewusstsein?
Ich habe es mir so vorgestellt, dass das Innere des Berges gleichsam das Innere von Silvan widerspiegelt. Trotzdem könnten die Figuren wahrhaftig sein, denn wer entscheidet über die Wahrheit – ist sie das, was man sieht, oder eher das, was dahinter verborgen ist? Anouk, das Mädchen, das in der sogenannten Realität am Ende der Geschichte nochmals auftaucht, verknüpft die beiden Welten. Sie hat für mich etwas Engelhaftes, eine Gestalt, die erscheint und weiterhilft, ohne etwas zu fordern, einfach indem sie da ist. Die Schaffnerin ist für mich jemand, die so tut, als würde sie das Innere von Silvan kennen und könnte ihn führen, doch tatsächlich muss er selbst aus den Irrungen rausfinden und sich in diesem Prozess von den Figuren lösen, die es scheinbar besser wissen.

Man begegnet in deiner Erzählung real scheinenden Menschen, die theatral wirken, manchmal bloss Stimmen, an einer Stelle scheint es der Tod selbst zu sein. Deine Erzählung passt in eine Zeit, in der man sich wie nie zuvor mit der Frage beschäftigt, was nun wirklich wirklich, wirklich wahr, wirklich real ist. Muss dieses Bewusstsein, wie sehr sich Wahrnehmung von Wahrheit entfernen kann, nicht Angst machen?
Damit möchte ich auf all die Fakes, Heilsbringer und Besserwisser eingehen, die uns alle mal einflüstern, mal in die Ohren schreien, jeder mit seiner Wahrheit. Gab es doch einmal eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, es würde eine Wahrheit geben. Auch diese Heilsbringer und Besserwisser wirken sehr oft theatralisch, sind wirkungsvoll inszeniert. Auch dort stülpt sich ein Tunnelblick über die Menschen, die Objektivität mehr als nur vernebelt.
Mir macht dieses Bewusstsein weniger Angst, seit ich für mich akzeptiert habe, dass es keine eine Wahrheit gibt. Ein Reiz, den das Schreiben auf mich ausübt, ist genau dieses Spiel mit der Wahrheit. Ist das Erfinden von Geschichten ja einerseits der Inbegriff von nicht wahr, und doch steckt für viele Menschen eine Menge Wahrheit in einem fiktiven Text. Und so soll sich jeder Lesende das herausnehmen, was für ihn stimmt oder eben: Wahr ist. 
Ich möchte noch einmal auf die Schaffnerin zurückkommen: Sie ist am ehesten die Heilsbringerin, die einiges anstösst, und doch auf Silvans Nachfragen am Ende zugibt, dass sie nie etwas zu sagen hatte: „Ich bin nur Zugbegleiterin. Es ist Ihre Reise.”

Du bist Lehrerin, ein Beruf, der alles abverlangt, je länger je mehr. Ein Beruf, der einen gänzlich ins Hier und Jetzt stellt. Wie schaffst du es, dir Zeit und Raum zu nehmen, dich literarisch in eine derart „jenseitige» Welt zu begeben?
Tatsächlich bin ich nach einem intensiven Schultag oft zu erschöpft zum Schreiben. Es kann aber auch dabei helfen, abzuschalten, wenn ich noch zwei, drei Sätze schreibe, bevor ich zu Bett gehe. An den Wochenenden oder einem freien Tag kann es sehr schön sein, ganz abseits des Alltags in eine andere Welt hinein- oder hinabzusteigen. Allerdings schreibe ich eigentlich nie länger als zwei Stunden am Stück, meistens weniger und am liebsten in einem schönen Café. Daran, dass der Kaffee dabei kalt wird, habe ich mich gewöhnt und er schmeckt mir unterdessen trotzdem. Ich bleibe nie allzu lange hängen und bin, wenn ich aufblicke, sofort im Hier und Jetzt, sehe die anderen Gäste und höre das Stimmengemurmel. Um ein neues Projekt zu entwickeln, brauche ich etwas mehr Raum, da eignet sich zum Beispiel die lange unterrichtsfreie Zeit im Sommer oder, im Fall des Tunnelblicks, die Zugfahrt von und zur Schule. 

Noa Theobaldy, 1985 in Basel geboren, lebt in Bern und arbeitet als Primarlehrerin. «Tunnelblick» ist ihre erste Veröffentlichung.

Urs Mannhart «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen», Secession

Ganz am Schluss des Romans steht ein Mann oben auf einer Treppe, ohne Geld, ohne Kreditkarte, ohne Brille, mit seinen Schnürsenkeln in der Hand. Er hat alles verloren, nur das eine nicht; seinen unbändigen Glauben, stets eine Chance zu haben. Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.

Man kann Urs Mannharts Roman mit einem Lächeln weglegen. Kann man. Wenn man aber weiss, das der Autor nichts anbrennen lässt und alles, was er schreibt, bis ins Detail recherchiert, dann muss im Weglegen schon mal ein kleines Zögern liegen, denn da gehen Welten unter. Man kann den Roman auch weglegen und argumentieren, das Personal sei allzu plakativ und klischeehaft gezeichnet. Aber der Gier, der Dummheit, der Naivität, dem Extremismus, der Verklärtheit, der Verblendung sind selbst in der realen Welt keine Grenzen gesetzt. Die Gegenwart beweist das offensichtlich. Somit müsste auch hier ein Zögern liegen, denn Verrücktheiten sind uferlos, in der Realität und lustvoll in der Literatur.

Pascal Gschwind ist noch nicht lange in der Führungselite eines international agierenden Bergbauunternehmens. Zwar noch in der Probezeit, aber mit bester Aussicht, das Vertrauen seines Chefs zu gewinnen. Gschwind wohnt in einer schmucken Villa am Thunersee, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten verheiratet und gesegnet mit einem Sohn, der eigentlich immer tat, was von ihm zu erwarten war. In der Garage steht ein Tesla der Extraklasse und in ein paar Wochen auch im Bootshaus ein schmucker Schlitten, selbstverständlich um einiges schnittiger als der seines Nachbarn. Gschwind ist mehr als zufrieden mit sich selbst. Und als man in den Bergen über dem Thunersee per Zufall die Seltene Erde Rapacitanium findet, einen Rohstoff, der die Effizienz von Batterien revolutioniert, und Pascal Gschwind von seinem Chef darauf angesetzt wird, scheint einer gesegneten Zukunft im Schoss einer expandierenden Firma nichts mehr im Wege zu stehen. Wär da nur nicht die Tatsache, dass sich Dinge höchst selten so entwickeln, wie man sich das in seinen Träumen vorstellt. 

Während Pascal Gschwinds Frau, die ihren Mann bald nur noch aus der Erinnerung kennt, in den Armen eines fürsorglichen Nachbarn Trost findet, Levin, ihr gemeinsamer Sohn die Schule schmeisst und in den Wäldern mit Gleichgesinnten das wahre Leben zu suchen beginnt, Gschwind die Arbeit mehr und mehr über den Kopf wächst, obwohl er mit jeder Faser seines Seins die Oberhand zu gewinnen sucht, beginnt nach eilig beschlossenen Sondierbohrungen über dem Thunersee die Erde zu beben, der Wasserspiegel des Thunersees zu sinken und ein Strohsack voller Geld im Tesla seines Besitzers zu glühen.

Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, Secession, 2021, 280 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-96639-039-2

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Sei es in Fernsehserien wie „Tschugger“ zur blossen Unterhaltung oder in Romanen wie dem neuen von Urs Mannhart. Denn eigentlich ist mit den im Roman beschriebenen Szenarien nicht zu spassen, weder mit der Gier und der Dummheit der menschlichen Spezies, noch mit den drohenden Abgründen des wirtschaftlich Machbaren. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ peitscht mich als Leser hin und her zwischen perfekter Unterhaltung, scheinbarer Satire und offensichtlichem Mahnfinger.
Schon mit seinem ersten Roman „Luchs“ ging es um den Kampf zwischen Mensch und Tier. In seinem umstritten gewesenen Roman „Bergsteigen im Flachland“ um den Krieg des Menschen gegen die Natur. Urs Mannhart, Reporter, ehemaliger Velokurier und ausgebildeter Biobauer kann und will nicht verbergen, dass es ihm um weit mehr als Unterhaltung geht. Urs Mannhart hat eine Mission. Sein Held in „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ gibt wenig Grund zur Hoffnung. Zu hoffen ist, dass das Zirpen bleibt!

Interview

Pascal Gschwind ist ein Erfolgreicher, „fühlt sich hineingebaut in eine Gemeinschaft von Auserwählten“. Ein Formulierung in deinem Roman, die mich in den Kniekehlen traf. Seien es die Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen, seien sie religiöser, gesellschaftlicher, politischer oder sonstiger Natur. Müssen wir uns vor den Erfolgreichen fürchten, weil ihnen ihr Erfolg stets Recht gibt?
‹Erfolg› ist ein positiv besetzter, semantisch verengter Begriff, dem ein mächtiger Wandel bevorsteht. Erfolgreich zu sein in der Schweiz, das hiess bisher meist, viel Geld zu verdienen und Besitz anzuhäufen. Diese Art von Erfolg ist jedoch folgenreich: Konsum kostet, sei er nun privat, unternehmerisch oder staatlich, und ein grosser Teil dieser Kosten wird derzeit externalisiert. Nur so sind die dicken Löhne in wohlhabenden Ländern überhaupt möglich. Der Rest der Rechnung wird oft von der Natur, von Menschen in anderen Ländern und von kommenden Generationen bezahlt. Bald wird Erfolg bedeuten, unabhängig von Geld tragende Zufriedenheiten zu finden.

Du nennst deinen Protagonisten fast durch das ganze Buch stets mit Vor- und Nachname. Ich glaube, es gibt nur zwei Szenen, in denen aus Pascal Gschwind Gschwind wird. In beiden Szenen ist der geschwinde (schnelle) Gschwind durch das Schicksal arg gebremst, bis zum absoluten Stillstand. Muss der Mensch durch Schock wachgerüttelt werden?
Unvermittelt sind wir angekommen im Anthropozän, in einem Erdzeitalter, das uns daran hindert, die Folgen unseres Tuns länger kleinzureden. Allmählich bildet sich dies auch in den Medien ab. Aber Informationen richten wenig aus; wie die anderen Säugetiere auch verändert sich der Mensch nur äusserst träge. Am liebsten modifiziert er seine Gewohnheiten erst, wenn es anders nicht mehr geht. Unterdessen zeigen sich auch in Europa deutliche Folgen klimatischen Wandels – jedoch längst nicht derart dramatisch, dass man nicht weitermachen könnte wie bisher. Ein Schock wäre also nötig. Wenn ich die Berichte des IPCC lese, dann stehe ich unter Schock.

Die Grenze zwischen Erfolg und Prostitution ist fliessend. Machen dich die Einsichten, die du durch die Recherche zu deinem Roman gewonnen hast nicht hoffnungslos?
Hoffnungslos war ich mit 18, als ich, schwer pubertierend, einen Hass verspürte auf alle Autos und den so genannten Fortschritt. Unterdessen bin ich angekommen bei einem inneren Zustand, der sich vielleicht als gut gelaunt resigniert bezeichnen liesse. Heftige Widersprüche globaler Dimension auszuhalten, das gehört offenbar zum 21. Jahrhundert. Ich versuche, meine Liebe zur Langsamkeit zu leben: Die Hin- und Rückreise von Bern zum Internationalen Literaturfestival Berlin im September 2021 zählt zu meinen schönsten Erlebnissen des Jahres — mit dem Velo bin ich gereist, eine Woche hoch, eine Woche runter, mit Zelt und Schlafsack. Wunderbar.

Gschwind will alles und verliert alles. Er lebt in einem Krieg mit sich selbst, seiner Frau, die er eigentlich liebt, seinem Sohn, der sich ihm entgegenstellt, seiner Mutter, die ihr altes Leben abstreift, selbst mit seiner Grossmutter. Dein Roman liest sich wie ein Kriegsroman, dessen Fronten sich vermischen, in denen alles wegzubrennen droht. Dein Buch gewordener Alptraum?
Ich denke, Gschwind will unbedingt das Gute. Für seine Liebsten, für sich, für die Gesellschaft. Bloss versteht er nicht, wer die Grundlagen der Ökonomie liefert. Als deren Grundlagen sieht Gschwind den Kapitalismus und dessen Gesetzmässigkeiten. Auf was dies fusst, erkennt er nicht; von der Natur hat er sich entfremdet. Wie zahlreiche Menschen im 21. Jahrhundert.

Eine Leserin hat mir geschrieben: «Sie beschreiben alles als Groteske, aber irgendwie ist es auch erschreckend real.» Ich jedenfalls habe den Verdacht, es könnte sich bei Gschwind wider Erwarten nicht um eine Karikatur handeln. 

Urs Mannhart liest aus seinem neuen Roman in der Buchhandlung Bostryche in Biel

Neben deinem Beruf als Reporter, jenem des Schriftstellers, bist du nun auch ausgelagerter Bauer. Was macht die Kombination von Schreiben und Bauern mit Urs Mannhart?
Das Landwirten hält mich in meist angenehmer Weise davon ab, nur am Schreibtisch zu sitzen. Und es politisiert mich, es erhellt meine Sicht auf das Ökologische. Wer selber wertvolle Lebensmittel herstellt, bekommt einen anderen Bezug zum Essen. Betrete ich einen Supermarkt, bekomme ich sogleich schlechte Laune. Die immer noch weiter fortschreitende Industrialisierung beim Anbau von Pflanzen und bei der Haltung von Tieren ist grauenerregend. — Jetzt bin ich freilich eingeschüchtert, weil Du eingangs die ‹Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen› erwähnt hast. Aber als Biolandwirt habe ich tatsächlich eine politische Haltung, und für eine ökologische, tiergerechte und sozialverträgliche Landwirtschaft gibt es meiner Meinung nach eindrückliche Argumente, die sich fern aller Emotionen verankern lassen. Dass ich mich derzeit auf einem kleinen, tierhaltenden, ökologisch wirtschaftenden Hof in der Nähe von La Chaux-de-Fonds engagiere, heisst offenbar, dass ich tatsächlich noch nicht ganz hoffnungslos geworden bin. Vielleicht werde ich künftig vermehrt über Landwirtschaftliches schreiben?

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

Webseite des Autors

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau 

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode

Gehören sie zu den Menschen, die noch mit freudiger Erwartung auf den Briefträger oder die Postbotin warten? Oder schon zu jenen, die sich nur mit einer Mischung aus Befürchtung und Angst einmal in der Woche trauen, das unliebsame Fach zu öffnen? Thomas Pfenniger hat einen wirklich komischen Roman über die verborgenen Kräfte jener Botinnen und Zusteller geschrieben, denen wir sonst kaum mehr Respekt zollen.

Ich wohne seit zwei Jahren in einem Mehrfamilienhaus mit 16 Wohnungen. Müsste ich die Namen aufzählen, würde ich nicht einmal eine Handvoll zusammenbringen. Und wenn ich am Morgen noch in winterlicher Dunkelheit zur Arbeit gehe, aus „meinem“ Haus, vorbei an all den erleuchteten Fenstern, links und rechts vorbei an all den andern Mehrfamilienhäusern, schaudert mich das Wissen, dass dort überall Geschichten und Dramen spielen, mir doch eigentlich so nah, aber ich weiss nicht einmal die Namen. Gesichter bleiben wie stumme Etiketten. Mindestens einmal am Tag taucht der Postbote auf, meist ein junger Mann, manchmal eine ältere Frau. Beide freundlich und mit ihrem Elektroroller ungemein fix unterwegs. Wer glaubt, dass sie nur die Post austeilen, oder wenn noch der gelbe Lieferwagen auftaucht, die Pakete, der irrt gewaltig. Wenn jemand über Jahre die Post zustellt; Pakete, Briefe, Rechnungen, Eingeschriebenes – dann muss sie/er mit etwas Kombination sehr genau wissen, mit wem man es hinter diese Klingel, hinter diesen Türen zu tun hat. Dann tun sich Welten auf. Sie kennen die Namen und noch viel mehr. Vielleicht nicht die Gesichter. Aber die Etiketten sind voll geschrieben, bis ins Kleingedruckte. PostbotInnen sind Geheimnisträger! Ich respektiere sie für ihre Verschwiegenheit und die Tapferkeit angesichts der geringen Anerkennung und der Tatsache, dass aus dem Pöstler aus der Vergangenheit mit selbstbewusster Uniform und dem Nimbus eines Glückbringers ein von der Zeit gepeitschter Vollstrecker geworden ist. Wer bekommt denn noch Briefe! 

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode, 2022, 279 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-905574-00-5

Thomas Pfenninger erzählt von einem Briefträger in einem Aussenquartier von Zürich, der mehr sein will, als ein Auslieferer von Papier. Der Briefträger liebt seine Arbeit. Er liebt auch die Menschen, denen er die Post verteilt. Auch wenn er manchmal mit Ungeduld erwartet wird, wenn er der Überbringer von Schmerz sein muss, wenn er schon vor dem Einwerfen weiss, dass es nicht zur Freude sein wird. Er möchte ein guter Briefträger sein. Und weil dieses „gut“ nicht zu all dem zu passen scheint, was er einwerfen muss, beginnt jener Briefträger in den sonst so klar geregelten Ablauf des Verteilens einzugreifen. Erst sind es einfach ein paar Sendungen, die nicht zugestellt werden, später ein doppelter Boden in seinem Wagen, den er hinter sich herzieht, wo liegen bleibt, was nicht ankommen soll; die eingeschriebenen Vorladungen für Herrn Schweizer, die Rechnungen für das Ehepaar Manzini, die Todesanzeigen für Frau Kälin, den einen, letzten Brief der Tochter an ihre Mutter, Frau Caluori. Aber das Nicht-Zustellen, Zurückhalten ist irgendwann nicht mehr genug. Der Briefträger spürt und ahnt, dass er durch sein Tun die Geschicke jener Menschen beeinflussen kann. Ein bisschen wie Gott. Er rächt sich am strammen Herr Schweizer durch das Zurückhalten, bezahlte die eine oder andere Rechnung für Manzinis aus der eigenen Tasche, verschont Frau Kälin mit immer noch einer Todesanzeige und frisiert die Tochterbriefe an Frau Caluori so, dass der letzte Rest Hoffnung nicht sterben muss.

Und da ist noch Lauriane im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie lebt zusammen mit ihrem nichtsnutzigen Bruder Dave, der es nicht einmal schafft, sich selbst aus dem Dreck zu ziehen. Lauraine bleibt stets oben, schaut nur das eine oder andere Mal aus dem Fenster, bekommt immer wieder einmal eine Karte. Sie wird seine Angebetete, der aber verborgen bleiben würde, dass da ein schmachtender Briefträger ist, wäre da nicht Dave, der durch seine Sucht unvermittelt Mittler wird.

Aber statt dass sich das Glück einstellt, zieht sich die Schlinge um den Hals des Briefträgers immer mehr zu. Es muss unweigerlich zur grossen Katastrophe kommen. Was auch geschieht! Es kann keine Entschuldigungen allein mehr geben.

Thomas Pfennigers Debüt „Gleich, später, morgen“ ist eine überaus köstliche Groteske, ein eigentliches Quartiertheater um die Macht des kleinen Mannes mit wenig viel zu erreichen, den Dingen jenen kleinen Schups zu geben, dass sie sich zum Besseren oder Guten wenden. Aber auch ein Mahnung davor, dass sich letztlich nichts in eine Richtung drücken lässt, das nicht der Allmacht der Logik entspricht. Irgendwann rächt sich alles. „Gleich, später, morgen“ ist verspielt und erzählt doch nichts als die Wahrheit.

Interview

Ich bin einer, der sich jeden Tag auf seine Post freut, weil ich nicht nur Rechnungen, Mahnungen oder Werbung erhalte. Für mich ich die Postbotin oder der Postbote eine gute Fee, die mich beschenkt, es sind Überbringer des Guten. Zwei Generationen zuvor brachten Postboten sogar noch die Altersrente, man lud sie zu einem Kaffee und einem Schwatz ein. Was gab den Ausschlag, einen Briefträger zum Protagonisten zu machen? Ein Stück Sehnsucht nach einer überschaubaren Weltordnung?

Diese Lesart – die Sehnsucht nach Überschaubarkeit – wurde mir schon von verschiedener Seite zugetragen. Sie spielte für die Wahl des Protagonisten aber keine Rolle. 
Entscheidend war einerseits die Funktion des Briefträgers als Übermittler von Botschaften und andererseits als Person, die vielen Menschen natürlicherweise sehr nahe kommt, aber ohne sich ihnen aufzudrängen, ohne dass da Skepsis wäre, ohne dass da Vorbehalte wären. 
Ich wollte einen Protagonisten, dem die Menschen ihre Sorgen erzählen. Einer, dem sie Dinge erzählen, die sie ihren Nachbarn, Ehemännern und Freundinnen nicht erzählen können oder wollen.
Stereotypisiert kämen für diese Rolle natürlich auch andere Berufe infrage: der (in der Popkultur überstrapazierte) Taxifahrer, die Friseurin, der Barkeeper, die Psychologin. Aber kein Beruf passte so gut wie der Briefträger, weil die dem Briefträger (oder der Briefträgerin) angehefteten Attribute wie Integrität, Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit so herrlich total sind. Kein Briefträger ist ein bisschen integer oder ein bisschen zuverlässig. Ich glaube, dieses Bild ist extrem tief in uns verankert. Das fand ich äusserst spannend, weil sich daraus ein grandioses Spannungspotenzial ergibt. Was, wenn der Briefträger diese totale Integrität nicht erreicht? Was, wenn er seine eigenen Regeln der Postzustellung aufstellt? Und was, wenn er es nicht aus schlechter, sondern mit durch und durch guter Absicht tut? 

Ihr Briefträger lässt sich ziemlich tief in die Leben seiner Adressaten verwickeln. Auf eine gewisse Art und Weise nimmt er sich ein Stück Allmacht, um seine Welt ein bisschen besser zu machen. Eine Sehnsucht, die sich arg zu rächen droht. Soll man sich festen Ordnungen ergeben? All die „Braven“ bleiben in der Ordnung, weil Gesellschaft nur mit Ordnung funktioniert.

Ich sehe keinen Sinn darin, sich aus Prinzip gegen eine Ordnung aufzulehnen. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, sich aus Prinzip einer festen Ordnung zu ergeben. Man mag Gesellschaften attestieren, dass sie nur mit und wegen der Ordnung funktionieren. Vielleicht ist das aber ein Trugschluss. Vielleicht funktioniert »Gesellschaft« nicht wegen der Ordnung, sondern durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit, oder sogar mehr noch, die Überzeugung der Zusammengehörigkeit. Ich plädiere also nicht für mehr oder weniger Ordnungsergebenheit, sondern für mehr »wir« und weniger »ich«. 

Ein Briefträger, der nur ein bisschen Kombinationsgabe besitzt, muss ziemlich viel über seine Kundschaft wissen. Mein Briefträger weiss, dass ich viel lese, dass ich Unsummen für Bücher ausgeben muss (was nicht stimmt), dass ich öfters Blumen verschenke, eine erwachsene Tochter habe, die zeichnet und vieles mehr. Und doch bewegt sich mein Briefträger in absoluter Diskretion. Nicht unbedingt eine Tugend der Gegenwart, oder?

Woher weiss Ihr Briefträger, dass Sie Blumen verschenken? Und woher wissen Sie, dass sich ihr Briefträger in absoluter Diskretion bewegt und nicht am Abend zu Tisch erzählt, dass er dem Herrn Soundso heute wieder zehn Kilo Bücher gebracht hat? Wir nehmen diese Diskretion an und ich glaube, wir tun das noch immer zurecht. Ich bin überzeugt, dass 99 % aller Briefträgerinnen und Briefträger absolut diskret und gewissenhaft und integer arbeiten. Daher würde ich bezweifeln, dass Diskretion heute rarer ist als früher oder dass sie im Umkehrschluss gar eine Tugend der Vergangenheit ist. 

Der Briefträger leidet mit, interpretiert, was er sieht, liest und erlebt, manövriert sich in eine Sichtweise hinein, die ihn zum Handeln zwingt. So wie all jene, die vor ihren digitalen Fenstern und Türen sitzen und sich zum Handeln gezwungen fühlen. Der Briefträger greift in fremde Leben ein, glaubt, dass seine Interpretation Rechtfertigung ist. Ihr Roman als Metapher?

Mich faszinierte die Idee von Grenzüberschreitungen, die besten Absichten und besten Überzeugungen entspringen und dadurch eine Art Rechtfertigung erhalten. Der Briefträger will ja niemandem etwas Böses – ganz im Gegenteil! Das lässt sich durchaus auch als Metapher lesen. Nicht nur ins Digitale, aber auch. Die Überzeugung, dass die eigenen An- und Absichten gut und richtig und wahr sind und der Wunsch, dass andere die Welt ebenso sehen, ist sehr menschlich. 
Das Problem ist aber natürlich, dass auch gut gemeinte Grenzüberschreitungen immer Grenzüberschreitungen bleiben. 
Im Roman entwickelt sich dann aus solchen im Grunde harmlosen Grenzüberschreitungen eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Das Spannende an dieser Dynamik ist, dass sie gerade dadurch aufrechterhalten wird, indem der Briefträger versucht, sie aufzuhalten. Als flicke er das Fass an einer Seite, nur dass es an zwei anderen Stellen Leck schlagen kann. 

Schreiben Sie Briefe noch von Hand? Bedanken Sie sich beim Briefträger? Dass der Roman postgelb ist, ist mit Sicherheit kein Zufall. Sollte er nicht Pflichtlektüre werden in der Berufsschule zum Postlogistiker?

Ich lebe mit einer einzigen Ausnahme praktisch papierlos: Bücher. Ich habe bis heute kein einziges E-Book gelesen. Alles andere, Notizen, Briefe (Mails!), Zeitungen, Manuskripte, lese und schreibe ich wenn immer möglich digital. Ich bekomme übrigens auch höchst selten physische Post. Gerade diese Woche aber zum Beispiel die Jahresrechnung der REGA. Hat mich gewundert, dass die im Briefkasten und nicht in der Mailbox gelandet ist.
Hin und wieder überkommt mich aber ein nostalgisches Gefühl und ich nehme mir vor, mein Smartphone wegzuwerfen und nur noch via Festnetz und Briefkasten erreichbar zu sein. Oder mir vielleicht sogar einen Brieffreund zu suchen und dann komplett entschleunigt im Zweiwochenrhythmus mit ihm zu korrespondieren. Aber natürlich habe ich jetzt erstmal noch so einiges zu erledigen und verschiebe das deshalb auf später.
Wenn ich »meiner« Briefträgerin mal begegne, dann grüsse ich sie immer ganz freundlich. Wie gesagt hat sie aber meistens nichts für mich dabei. (Was ihr aber auch nichts auszumachen scheint). Vielleicht sollte ich ihr bei Gelegenheit ein Exemplar des Buches geben? Vielleicht kann sie dann ein gutes Wörtchen für mich einlegen, dass es in den Kanon der postgelben Literatur aufgenommen wird.

Thomas Pfenninger, geboren 1984, wuchs in Zürich auf und lebt heute in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Autor und Texter arbeitete er neben anderem als Mediensprecher oder Kommunikationsbeauftragter für verschiedene Unternehmen in Zürich, Berlin und Bern. 2017 veröffentlichte er im Eigenverlag den Gedichtband «Fragmente». 2018 beendete er die Arbeiten am Roman «Die Löffel-Monologe», welcher noch nicht veröffentlicht wurde. Der Roman «Gleich, später, morgen» ist sein Debüt.

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Beitragsbild © Thomas Pfenninger