Selbst wenn man seine Vergangenheit zu leugnen versucht, eine schwere Decke über alles legt, was einst Leben ausmachte, ein tiefes Loch gräbt und alles verschwinden lässt – Vergangenheit, Geschichte lässt sich nicht leugnen. Sie wirkt, auch im Verborgenen. Alena Mornštajnová schrieb mit „Stille Jahre“ nicht nur eine mitreissende Familiengeschichte, sondern die Geschichte einer verlorenen Ideologie.
Bohdana wächst in der Tschechoslowakei auf, als Mädchen noch vor dem Einmarsch der Sowjets 1968 und als junge Frau in der Tschechoslowakei danach. Die Geschehnisse 1968, zuerst der Prager Frühling, die aufkeimende Hoffnung, eine demokratische Bewegung und im Sommer der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, werden zu einem Wendepunkt. Nicht nur in der Geschichte jenes Staates, der 1992 in zwei Staaten, in die Tschechei und die Slowakei aufgelöst wurde, sondern in der Geschichte vieler Familien, vieler Menschen, die sich nach dem Krieg ganz den sozialistischen Idealen verschrieben und mit Hilfe des grossen sowjetischen Bruderstaates hofften, eine neue Gesellschaftsordnung, ein neues Menschenbild mitgestalten zu können.
«Schweigen hat den Vorteil, dass einem niemand beim Lügen erwischen kann und jeder sich das Schweigen auf seine Weise auslegt.»
Alena Mornštajnová «Stille Jahre», aus dem Tschechischen von Raija Hauck, Wieser, 2021, 306 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-99029-466-6
Svatopluk kommt 1935 zur Welt, erlebt die Schrecken des Krieges, das Sterben bis in seine Familie hinein. Als der Krieg 1945 für beendet erklärt wird, ist er das nur auf dem politischen Parkett, aber noch lange nicht in den Köpfen und Herzen all jener, die Blut und Leben verloren haben. Schon als junger Mann gibt es für Svatopluk keine Alternative, als sich ganz dem Aufbau eines neuen Staates zu verschreiben, alles daran zu setzen, dass eine neue Ordnung aus den Trümmern des Krieges entsteht und den Menschen zu einem wertvollen Dasein verhilft. Dazu gehört auch eine eigene Familie, selbst gegen den Grimm und Groll seines verbitterten Vaters, selbst gegen die beengten und ärmlichen Verhältnisse, aus denen er selbst auszubrechen versucht. Svatopluk lernt Eva kennen, eine Frau aus aristokratischer Herkunft, heiratet sie gegen den Willen seiner Familie. Und während Svatopluk in den Hierarchien des Staates als junge Kraft steil aufsteigt, stellt sich auch das Familienglück mit der Tochter Blanka ein. Doch Svatopluks Glück beginnt zu bröckeln, zum einen in der Familie, zum andern in den politischen Verhältnissen, die mit der immer stärker werdenden Öffnung dem kapitalistischen Westen gegenüber so gar nicht mehr seinem Verständnis einer sozialistischen Ordnung entsprechen. Auch an seiner Tochter ist der Wandel sichtbar. Und dann, in einer Nacht, als Blanka mit ihrer Band, in der sie singt, unterwegs ist, betrunken einen Fahrradfahrer mit dem von ihrem Vater geliehenen Auto umfährt, den Verletzten aus lauter Verzweiflung mit ihren Gefährten in ein Gestrüpp am Strassenrand zieht und liegen lässt, kippt das Glück endgültig. Svatopluk lässt sich von seiner verzweifelten Tochter hinreissen, ihr zu helfen, sich in den Westen abzusetzen. Die Flucht gelingt, aber mit ihr beginnt der Abstieg Svatopluks, seine Ächtung und sein langer Zorn nach der Einsicht, von seiner Tochter missbraucht worden zu sein.
Alena Mornštajnová erzählt chronologisch, aber nicht nur aus der Sicht Svatopluks. 20 Jahre nach Svatopluks Heirat, weggezogen aus Prag, ein neues Leben begonnen, wird Eva noch einmal Mutter. Mit dem Versprechen, nichts und niemandem vom alten Leben preiszugeben. Alena Mornštajnovás zweiter Erzählsprung ist jener von Bohdana, Svatopluks zweiter Tochter, die aber erst als junge Frau aus erwachender Neugier zu ahnen beginnt, dass es in ihrer Familie unausgesprochene Geheimnisse gibt. Alena Mornštajnová erzählt in wechselnder Folge Vater- und Tochterkapitel. Von einem Mann, der sein Herz an ein Ideal verliert, den Glauben an Vater Staat und Mutter Familie. Von einer jungen Frau, die zu erklären versucht, warum sie von ihrem eigenen Vater wie Luft behandelt wird, warum die Mutter ihren Vater verlässt, als sie selbst eine Familie gründet, warum dieses eine Klavier im Haus steht, auf dem nie jemand spielt.
„Stille Jahre“ ist berührend nah geschrieben, von vereinnahmender Intensität, sowohl erzählerisch wie sprachlich. Alena Mornštajnová spannt einen Bogen durch ein halbes Jahrhundert, konstruiert geschickt, leuchtet das Geschehen von innen aus, bis es mir als Leser wie Schuppen von den Augen fällt. Und ganz beiläufig erfahre ich ein Stück Geschichte aus einer mir wenig vertrauten Perspektive. Ich fühle mich in ein Leben, einen Mann, der eigentlich stets nur das eine wollte; das Gute, das Wahre, das Kluge, der aber erfahren muss, wie Ideologie gewordener Glaube brechen kann, wenn der Wind dreht.
Vielleicht ist es eines der stärksten Bücher, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, ein Buch, das noch lange nachhallen wird.
Alena Mornštajnová, geboren 1963, ist eine tschechische Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie schrieb vier Romane und ein Kinderbuch. Alena Mornštajnová studierte Englisch und Tschechisch an der Universität Ostrava. Ihr Debüt gab sie 2013 mit dem Roman «Slepá mapa» (Blinde Karte) und 2015 erschien ihr zweiter Roman «Hotýlek» (Das kleine Hotel). Vor allem auf Grund ihres dritten Romans, «Hana», zählt Alena Mornštajnová seit 2017 zu den beliebtesten zeitgenössischen tschechischen Schriftstellern. Ihr Roman «Hana» wurde unter anderem mit dem Tschechischen Buchpreis 2018 ausgezeichnet und auf der Website Databáze knih (Datenbank der Bücher) zum Buch des Jahres 2017 gekürt.
Raija Hauck, geboren 1962, Slawistik-Studium in St. Petersburg und Brno. Promotion an der Universität Greifswald und dort bis 2019 Lektorin für Tschechisch und Russisch. Liebt das Saarland und lebt als freie Übersetzerin in Saarbrücken.
Die Geschichte des weiblichen Wassergeist Undine ist alt, der Name Undine indogermanisch, von „Welle“ abgeleitet. Die Urgeschichte aus dem 13. Jahrhundert wurde vielfach nacherzählt, u. a. 1811 von Friedrich de la Motte Fouqué als Märchennovelle und in verschiedenen Varianten auch in anderen Figuren wiederzufinden (Loreley). Günter de Bruyn erzählt die Geschichte neu und doch mit der Patina einer unsterblichen Sage.
Undine, eine junge Frau aus der Wasserunterwelt, will das Menschsein ergründen, verliebt sich und muss ihren Geliebten warnen. Denn einmal verheiratet, muss der Geliebte seine Untreue mit seinem Leben bezahlen und Undine wird verschwinden. Beide Geschichten, jene von Friedrich de la Motte Fouqué und die von Günter de Bruyn sind in dem überaus schmucken Band zusammen mit den Illustrationen von Jörg Hülsmann abgedruckt. So etwas wie der dritte Band, nach „Effi Briest“ von Theodor Fontane und „Sternstunden der Menschlichkeit“ von Stefan Zweig, die alle von Jörg Hülsmann illustriert in jede Bibliothek von BuchliebhaberInnen gehören.
Günter de Bruyn «Die neue Undine», illustriert von Jörg Hülsmann, S. Fischer, 2021, 160 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-10-397041-8
Ein einsames Fischerpaar am Ufer eines grossen Sees geniesst das späte Familienglück bis die Tochter an einem stürmischen Tag verschwindet. Todunglücklich ergeben sich die beiden ihrem Schicksal bis urplötzlich ein Mädchen an ihre Haustüre klopft, tropfnass, unbeeindruckt vom Unwetter in ihrem Rücken. Das Mädchen ist blond, gleich alt wie ihre verschwundene dunkelhaarige Bertalda. Die beiden nehmen das Mädchen auf und sie bleibt bei ihnen, wenn auch immer fremd und dem Wasser zugeneigt. Jahre später verschlägt es einen jungen Ritter zu den Fischern an das Ufer des Sees. Und weil dieser durch ein Unwetter gezwungen ist zu bleiben, verlieben sich die beiden jungen Leute. Der Ritter hält um die Hand Undines an, die ihm gerne in seine heimatliche Burg folgt mit der Warnung, dass er etwaige Untreue teuer zu bezahlen hätte. Zurück am Hof des Ritters wird klar, dass das Mädchen, dem er vor seiner Reise seine Hand versprochen hatte, die verschollene Tochter des Fischerpaars ist, eine junge Frau, die ihre Vergangenheit vergass. Es kommt, wie es kommen muss.
Warum eine alte Geschichte nacherzählen? Weil Sagen mehr als bloss Geschichten sind. Weil sie zum Erbmaterial einer ganzen Kultur gehören. Und wenn solche Geschichten bis zu Ariellefilmen aus dem Hause Disney verniedlicht werden, ist bitternötig, dass man dem alten Erbe kein neues Gesicht, aber ein neues Gewand gibt, keine Adaption in die Moderne, aber in einer Sprache erzählt, die nichts vom sagen-haften Zauber der Urfassungen eingebüsst hat. Und wer kann ein solches Kunstwerk besser als ein alter Meister seines Fachs.
Dass der Verlag S. Fischer bei dieser Veröffentlichung den Illustrator Jörg Hülsmann mit ins Boot nahm, macht aus der Sage einen Buchschatz erster Güte. Kein Buch, das man nach der Lektüre so einfach zwischen andere Bücher ins Regal schieben will. Ein Buch, das Raum nimmt und Raum braucht, dass sich zeigen lassen will, das zur Verführung aufruft, so wie die schöne Wasserfrau aus den Tiefen des Sees. „Die neue Undine“ ist eine literarische Sirene!
Der letzte vom Autor zu Lebzeiten abgeschlossene Text!
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays «Als Poesie gut» und «Die Zeit der schweren Not», die autobiographischen Bände «Zwischenbilanz» und «Vierzig Jahre» sowie die Romane «Buridans Esel» und «Neue Herrlichkeit». Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow.
Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage wie S. Fischer, Suhrkamp Insel, DuMont oder die Büchergilde Gutenberg und für Magazine wie das mare-Magazin, die Frankfurter Rundschau und Das Magazin des Tages-Anzeigers, Zürich.
Manchmal wächst Gras über eine Sache oder ein ganzer Wald. Manchmal will man vergessen, obwohl man spürt, dass es unmöglich ist. Das Erlebte modert über Jahrzehnte weiter, Wunden verschliessen sich nie, Versöhnung, auch jene mit sich selbst, ist unmöglich. Didi Drobna erzählt, wie sich der Schrecken über Generationen fortsetzt, die Geschichte zweier Familien im langen Schatten des Grauens.
Besucht man die Webseite der Ortschaft Hirtenberg in Niederösterreich, erinnert nichts an den Umstand, dass in der Hirtensteiner Patronenfabrik Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlinge unter widrigen Umständen den Krieg an den Fronten mit Munition zu versorgen hatten, dass kurz vor der deutschen Kapitulation über 300 Frauen gezwungen wurden, einen 150 km langen Gewaltsmarsch Richtung KZ Mauthausen unter die Füsse zu nehmen, ohne Perspektive, bewacht von der SS. Selbst der Wikipediaeintrag über Hirtenberg verrät bloss mit einer Notiz die ansässige Munitionsfabrik und ihre Rolle im 2. Weltkrieg. Wichtiger dort der Vermerk, dass die Auslastung des Werks „gut“ war.
Aber was in Landschaften und Ortsbildern verschwunden ist, wirkt trotzdem weiter. Ganz bestimmt in den Geschichten all jener, die von Geschichte direkt oder auch in Generationen danach betroffen waren. Dass das grosse Schweigen über die dunklen Jahre des Nationalsozialismus ein Phänomen ist, das bis in die Gegenwart wirkt, ist nichts Neues, dass persönliches dem institutionellen Aufarbeiten meist hoffnungslos hinterherhinkt, ebenfalls. Didi Drobna erzählt eine Geschichte, ein Stück Geschichte, Tatsachen, die mit den letzten Überlebenden, die berichten könnten ins allgemeine Vergessen zu rutschen drohen.
Didi Drobna «Was bei uns bleibt», Piper, 2021, 256 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-492-07052-2
Klara, nie weit weg gekommen, selbst in der Seele verwundet durch einen Vater, den die Front schluckte, wird als Zwangsarbeiterin in der Hirtensteiner Patronenfabrik verpflichtet. Eine Patronenfrau, in einer Zeit, als nur noch die Parteibonzen an den Endsieg glaubten. Man produziert Munition für die Front, jeden Tag eine Million Patronen. In den letzten Monaten des Krieges soll die Produktion durch KZ-Häftlinge noch gesteigert werden. So arbeiten in den letzten Wochen einheimische Zwangsarbeiterinnen und ausgezehrte KZ-Frauen Schulter an Schulter. Als die Front immer näher rückt und mit ihr die Angst, werden kriegswichtige Maschinen in einen Zug verfrachtet, mit ihnen eine begrenzte Zahl der Belegschaft. Ein Zug in den Tod. Klara bleibt zurück, schlägt sich in die Wälder und folgt dem Zug jener KZ-Frauen, die von SS-Leuten bewacht zu Fuss nach Mauthausen aufmachen. Unter den KZ-Frauen ist Lujza, die Klara nicht aus den Augen verlieren will.
Klara, weit über 80, spürt, dass sich ihre Lebenskraft verabschiedet. Sie muss sehen, wie die Geschehnisse rund um jenen fürchterlichen Krieg, den sie als junge Frau miterleben musste, selbst im Leben ihres Enkels Luis weiterwirken. Sie sieht ihren Nachbarn Horst, der ganz alleine seine wilde Tochter Dora grosszieht, die an den „Geistern ihrer Vorfahren“ leidet. Und weil Luis ebenfalls spürt, dass nicht nur das Dach des Hauses, in dem er seit dem Tod seiner Eltern mit seiner Grossmutter zusammen wohnt, in Ordnung gebracht werden muss, nimmt Klara an der Hand und fordert sie auf, ihr Schweigen endlich zu brechen.
Didi Drobna erzählt ganz behutsam. Von einer unkritischen jungen Frau in einer kriegswichtigen Fabrik, die einfach zufrieden ist, einen sicheren Platz in einer unsicheren Zeit zu haben. Von der Begegnung mit einer jungen Frau, der man alle Rechte, jede Würde genommen hat. Von einer alten, fürsorglichen Frau, die den Alp nie abschütteln konnte, der bis ins Leben ihres Enkels wirkt. Von einem Mann und seiner Tochter, die das Schicksals einer Mutter und Ehefrau mit sich herumtragen, ein Schicksal, das sich im Leben der Tochter spiegelt, dem das Mädchen hilflos ausgeliefert ist. „Was bei uns bleibt“ ist keine Enthüllungsgeschichte. Aber eine Mahnung dafür, dass weder Gras noch Bäume das Leiden in der Vergangenheit verbergen können.
Didi Drobna bei den Ruinen der zweiten Hirtenberger Patronenfabrik
Interview
Sind wir uns der Tatsache, dass der Boden, auf dem wir leben, von Geschichte getränkt ist, zu wenig bewusst? Man mahnt zwar immer, man müsse im „Hier und Jetzt“ leben. Aber birgt sich darin nicht eine fatale Portion sich permanent entschuldigender Oberflächlichkeit?
Nach dem Krieg floss alle Kraft in den Wiederaufbau. Viele Dinge wurden ausser Acht gelassen, auch die konsequente Auseinandersetzung mit verbliebenem nationalsozialistischem Gedankengut. Es gab da eine grosse Angst, selbst in den Fokus zu geraten. In manchen Punkten ist in Österreich der Umgang mit dieser Zeit immer noch viel zu zögerlich. Auch da ist die Geschichte meines Romans ein gutes Beispiel: Dass eine Fabrik wie in Hirtenberg nach 1945 nahtlos weiterproduziert, ist wenig überraschend. Irgendwo ist immer Krieg, und damit lässt sich Geld verdienen. Heute hat Hirtenberg auf ganze andere Produktsegmente umgestellt und ist nach 160 Jahren Patronen und Granaten endlich „friedlich“. Andererseits erinnert vor Ort immer noch nichts an die Vergangenheit. Keine Gedenktafel, kein Schild, das aufklärt. Das hat mich bei meinen Besuchen und Recherchen vor Ort irritiert. Wichtig ist aber, dass wir dieses Kapitel nicht als abgeschlossen begreifen.
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ mag in gewissen Situationen stimmen. Aber wir alle schleppen Geheimnisse mit uns herum, kleine und grosse, mit unter lebensbedrohliche. TherapeutInnen verschiedenster Couleur kassieren im Kampf gegen dieses Schweigen vielleicht eben jenes Gold. Warum fällt es dem Menschen so schwer zu reden, zu erzählen? Ich glaube, dass einige Menschen mit der Zeit oder im Alter von Schuldgefühlen oder Reue eingeholt werden können. Es gibt doch immer etwas zu bereuen, Dinge die man getan oder eben nicht getan hat. Das können kleine oder grosse Dinge sein. Nicht immer muss es sich dabei um etwas Schlechtes handeln. Aber ich kann mir vorstellen, dass besonders grosse Lebensthemen und Geheimnisse am Ende stark hochkochen können – so wie sie es im Roman bei der Hauptfigur Klara tun. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, gab es eine ganze Generation, die ihre Erfahrungen, egal ob gut oder schlecht, zu einem grossen Grad verschwiegen hat. Manche konnten nicht darüber sprechen und manche wollten es auch nicht. Für die nachkommenden Generationen ist es aber unglaublich wichtig, von diesen Erfahrungen zu lernen und diese Geschichten zu hören.
Klara und ihr mittlerweile erwachsener Enkel Luis, ein junger Mann, den sie an Stelle seiner Eltern grossgezogen hatte. Sie beide sind Versehrte. Klaras Nachbar Horst, ein alleinerziehender Vater und seine Tochter Dora. Das ist das Viereck, in dem sich ihr Roman bewegt. Auch sie beide Versehrte. Alle allein gelassen, gepeinigt durch die Geschichte. Müssten nicht all jene, die das Glück der Unversehrtheit oder einer minimalen Versehrtheit geniessen dürfen, laut skandierend auf den Strassen ihr Glück demonstrieren? Dazu zitiere ich gerne einen Satz, der im Roman meine Hauptfigur Klara mehrmals umtreibt: «Die Abwesenheit von Unglück ist ein Glück an sich.»
Wie sind sie auf diesen Stoff gestossen? Am Anfang von allem stand Klara – eine alte Frau, die auf ihr Leben zurückblickt. Eher zufällig kam mir die Idee, ihr eine Vergangenheit in der Patronenproduktion zu geben. Im Zuge der Recherchen dazu stiess ich auf Hirtenberg und war völlig erstaunt, dass ich noch nie von diesem Ort und dieser Fabrik, die zwei Weltkriege beliefert hatte, gehört habe. Dann fiel ich wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch: Ich recherchierte in verschiedenen Archiven, darunter auch dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Archiv der Hirtenberger Fabrik, sprach mit ZeitzeugInnen, las mich umfangreich zum Zweiten Weltkrieg ein und durchkämmte den Hirtenberger Wald nach den Überresten der zweiten Fabrik. Spätestens da wurde mir klar, dass ich hier auf ein Stück Geschichte gestossen bin, das wie die Erinnerungen der dort arbeitenden und gefangenen Menschen bisher verschüttet geblieben ist. Und ich entschloss mich, diese Geschichte mit Hilfe von Klara zu erzählen.
Ihr Roman ist nicht zuletzt ein Roman darüber, was „Familie“ bedeuten kann. Selbst dann, wenn das Personal dazu alles andere als dem überall als Mass genommenen Idyll entspricht. Klara und Horst sind dabei zwei ziemlich entgegengesetzte Archetypen. Beide Familien in einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Pumpen wir das Ideal „Familie“ nicht zu sehr auf? Familie ist in meinen bisherigen Werken immer ein zentrales Thema. Der Begriff «Familie» hat sich im Laufe der Zeit sehr stark gewandelt, dessen Personal ebenso. Dem versuche ich mithilfe meine Figuren nachzuspüren.
Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe und lehrte von 2018-2019 an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Wiener IT-Forschungszentrum. 2018 erschien ihr zweiter Roman «Als die Kirche den Fluss überquerte» bei Piper.
Thomas Kunst ist ein Meister der skurrilen Poesie. Dass es sein neuster Roman „Zandschower Klinken“ in die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte, ehrt das Buch, den Schriftsteller, aber auch die Jury des Buchpreises, die ein Buch ins Scheinwerferlicht stellen wollte, das in vielem gängigen Mustern widerspricht. „Zandschower Klinken“ ist ganz und gar Kunst-Werk!
Das Wort „Klinke“ müsste man vielen in der Schweiz erklären. Das helvetische Pendant „Türfalle“ würde wohl nicht klingen wie Klinke, ergäbe aber in der Geschichte durchaus Sinn. Zandschow gibt es nicht, genauso wie seinen Nachbarort Höverlake. Aber Zandschov muss irgendwo in der flachen Pampas Norddeutschlands liegen. Ein Kaff, ein paar Häuser und ein Feuerwehrteich mit einer Schenke am Ufer und einer kleinen Insel mitten im kleinen Wasser.
„Im glücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, die du liebst. Im unglücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, kurz vor deinem Tod, die dir egal sind.“
Thomas Kunst «Zandschower Klinken», Suhrkamp, 254 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1
Bengt Claasen ist mit seinem Auto aus seinem alten Leben weggefahren, mit der Absicht, nicht zurückzukehren und dort zu bleiben, wo das Hundehalsband, das er auf das Armaturenbrett unter der Frontscheibe gelegt hat, runterrutscht. Folglich fährt Claasen langsam, langsam und sehr lange. Ungeachtet dessen, dass sich andere Autos hinter dem seinigen stauen und hupen. Bis das Hundehalsband wirklich rutscht und er seinen Wagen an den Strassenrand stellt, nicht weit von Zandschow, dem kleinen Ort im Nirgendwo. Kulturelles und gesellschaftliches Zentrum dort ist die Schenke am Feuerlöschteich; „Getränke-Wolf“. Dort gibt es alles, was es zum Existieren braucht. Und wenn nicht, dann hilft Getränke Wolf auch mal bei den Etiketten nach, um die Bedürfnisse seiner Gäste zu stillen. Zandschow folgt einem strikten Wochenplan. Am Montag übt man im ausrangierten Bauwagen das U-Bahn-Fahren, dienstags die Handhabung eines wiederbelebten Geldautomaten zwischen den Bäumen am Feuerlöschteich. Mittwochs dann die Europakonferenz mit Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Altersdemut und Selbstverteidigung. Am Donnerstag werden Plastikschwäne ausgesetzt, an den Freitagen soll jeder im Ort demonstrieren, wie der Weltuntergang manipulativ aufzuhalten sei und die Wochenenden sind zur Naherholung an der Küste. Der Teich ist Zandschows Indischer Ozean und Getränke Wolfs Sansibar. Im hintern Teil des Ladens steht eine Sonnenbank mit Lichtanimationen im Innenraum. Auch Wolf ist einer, der hätte gehen können, aber geblieben ist. Und wenn man nicht in die Welt draussen zieht, dann holt man die Welt zu sich, Sansibar an den Feuerlöschteich, feiert jedes Jahr das Darajani-Fest mit Hängematten und Freibier.
„Wolf besass alles, um aus Zandschow herauszukommen. Um aus Zandschow herauszukommen, blieb er in Zandschow.“
Claasen ist nicht der einzig Gestrandete in Zandschow. Da gibt es auch noch den Kleinen Grabosch, der vor Jahren mit einem Handwagen, allerlei Zeugs und einem übergrossen Kronleuchter in Zandschow ankam. Grabosch auf der Suche nach einem Ort, einer Decke, einem Raum für seine Leuchte.
Zandschow ist ernstzunehmen. Zandschow ist der Gegenentwurf zur Rationalität. Claasen hat sein Leben zurückgelassen. Zum Wenigen, das er mitnahm, gehört das Hundehalsband ohne Hund und seine Erinnerungen. Erinnerungen an seine Familie, einen fehlenden Vater, eine strenge Mutter und sein Reh, seine Schwester.
Es geht nicht darum, die Geschichte zu verstehen. So wenig, wie es dem Autor darum geht, eine Geschichte zu erzählen. „Zandschower Klinken“ ist eine literarische Symphonie mit Themen, die immer wieder auftauchen, Wiederholungen, Verdopplungen. Man spürt die Musikalität des Textes. Zugegeben, die Komposition ist eigenwillig und, zumindest für mich, nicht immer nachvollziehbar. Aber eben genauso wie das Leben selbst, dass nie einem Plan folgt, das eigenwillig bleibt, voller Wiederholungen und Zusammenhängen, die sich nie erschliessen. Thomas Kunst Roman hat etwas Fellinisches, einen ganz eigenen Zauber.
Thomas Kunst, geb. 1965, studierte zunächst Pädagogik. Er schreibt Lyrik und Prosa und befasst sich mit musikalischer Improvisation (Gitarre und Violine). Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch «Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung». Seitdem sind seine Texte in 16 Einzeltiteln sowie in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Internet veröffentlicht worden. Thomas Kunst ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, lebt und arbeitet in Cuba.
Ludwig Fels starb am 11. Januar dieses Jahres in Wien. Wie gerne hätte ich den Schriftsteller kennengelernt. Wie gerne hätte ich ihm zu seinem letzten Roman gratuliert, der noch vor seinem Tod bei Jung und Jung erschien. Denn „Mondbeben“ ist starke Literatur, stark in seiner Sprache, stark in seiner Konstruktion, stark in seiner Geschichte!
Angesichts seiner 75 Lebensjahre hätte ich Zeit genug gehabt, den Autor zu entdecken, sowohl für seiner erzählerisches Werk wie auch für seine Lyrik. Aber ich habe ihn zu meinem grossen Bedauern versäumt, habe die Einladung nie angenommen und schäme mich fast ein bisschen. Jetzt, nach der Lektüre von „Mondbeben“, einem Roman, dessen Lektüre in mir auch eine Art Beben auslöste, ergebe ich mich dem Konjunktiv, gestehe mein Versäumnis ein und werde posthum nachholen, was in meiner „Bibliothek der Grossen“ noch fehlt.
Ludwig Fels debütierte 27jährig mit seinem Gedichtband „Anläufe“, zwei Jahre später mit seinem ersten Roman „Die Sünden der Armut“. Etwas, was den Autor durch all die Jahrzehnte ausmachte, war seine Wucht und seine Wut in einer Sprache, einem Erzählen, das sich nicht zurückhält. Keine selbstzerstörerische Kraft, aber eine Energie, die sich auch in seinem letzten Roman unmittelbar in mir als Leser fortsetzt, eine Wut über schiere Ungerechtigkeit und die Unausweichlichkeit des Schlechten. Ludwig Fels beschreibt den Kampf, das Aufbäumen von Menschen, die gefangen sind in Vergangenheit und Gegenwart. Keinen Gutmensch, kein Helden, Menschen, die sich glücklos zu wehren versuchen.
Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung, 2020, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-99027-241-1
Olav Ostrander wird nach seiner Haft erwartet. Von seiner Frau, wegen der er für Jahre im Knast auf die Freiheit wartete, auf ein neues Leben, eine zweite Chance. In seinem alten Leben war Olav eine Art Schuldeneintreiber. Nicht von der netten, freundlichen Art, sondern um die Schuldner daran zu erinnern, dass es kein Entrinnen, kein Vergessen, kein Umgehen gibt. Ein Schuldeneintreiber, der auch nicht davon zurückschreckt, Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Knast war Olav aber wegen ganz anderem. Er sah im Haus gegenüber einen Mann, der seine Frau verprügelte, hetzte nach drüben, brach in die fremde Wohnung ein und verprügelte den Mann windelweich, den Mann jener Frau, die er Monate später im Gefängnis heiratete.
Olav und Helen wollen neu beginnen, auf Zifere Island, der Insel der Inseln, irgendwo vor der Afrikanischen Küste. Dort fand Helen in einem Prospekt der Hidden Pearl Resort Company eine zum Verkauf ausgeschriebene Villa, nicht weit vom Meer. Ein Haus, das sie mit dem kleinen Vermögen bezahlen konnte, das sie geerbt hatte, das ihnen beiden ein neues Leben schenken, der Beginn einer Neuzeit werden sollte, an einem Ort, der im Prospekt wie ein Paradies anmutet. Aber das Abenteuer gerät schon im ersten Hotel, in dem sie nach dem Flug absteigen, in Schieflache, weil das Paar mit einer Prostituierten in Streit gerät und Helen über dem Auge ernsthaft verletzt wird. Aber auch Olav zieht eine Spur hinter sich her, denn seit einiger Zeit mischt sich Blut in seinen Urin. Irgendwann stehen sie mit dubiosen Vermittlern in dem Haus mit Pool, einem grossen, leeren Haus, eingezäunt, nicht weit vom Meer, das nur über Schutt- und Abfallhalden erreichbar ist. Statt nun endlich das neue Kapitel in ihrem Leben beginnen zu können, werden die Tage zu einem Spiessrutenlauf zwischen Kliniken, Arzt, Taxen und den kleinen Nischen, in denen sie jene Ruhe suchen, die sie sich gegenseitig versprachen. Zu allem Unglück versinkt das Land in gewaltsamen Auseinandersetzungen, einem blutigen Putschversuch und Helen und Olav in den Machenschaften eines korrupten Polizeiapparats und den Fängen einer eigentlichen Immobilienmafia. Olav, der Mann, der einstmals vor nichts zurückschreckte, um zu holen, was befohlen war, wird zum Spielball eines unseligen Kampfes um Macht, Geld und den eigenen Vorteil. Es beginnt ein Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist.
„Mondbeben“ zieht mich als Leser in ein Geschehen, dem ich nicht entsagen kann. Der Roman zieht mich in einen Strudel, der mich erzittern lässt, der das Beben in mir fortsetzt. „Mondbeben“ ist ein Roman, der mich in meinen Grundfesten erschüttert, mich förmlich demütig macht, in all den Privilegien, in denen ich mich mit aller Selbstverständlichkeit bewege. Und „Mondbeben“ ist einer jener Romane, die in seiner Stimmlage, ihrem Sound genau dem entsprechen, was Geschichte, Kulisse und Hintergründe zeigen wollen.
Sackstark!
Ludwig Fels, geboren 1946 in Treuchtlingen (Franken), gestorben am 11. Januar 2021 in Wien. Seit 1973 freiberuflicher Schriftsteller. 1983 Übersiedlung nach Wien. Zahlreiche Publikationen, Gedichte, Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Lebte bis zu seinem Tod in Wien. Auszeichnungen unter anderem: Leonce-und-Lena-Preis,Hans-Fallada-Preis,Kranichsteiner Literaturpreis und Wolfgang-Koeppen-Preis. Ludwig Fels debütierte 1973 mit dem Lyrikband «Anläufe» bei Luchterhand. Nach weiteren Lyrikbänden und dem Prosaband «Mein Land» folgte 1981 der Roman «Ein Unding der Liebe». Mehrere Monate hielt sich der Titel auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. 1988 wurde das Buch verfilmt (ZDF). Zuletzt erschienen der Roman «Die Parks von Palilula» (2009) und der Gedichtband «Egal wo das Ende der Welt liegt» (2010) bei Jung und Jung.
Schon mal ein Solei gegessen? Bis zur Lektüre von „Ei_Land“ kannte ich diese Art von haltbar gemachten, gekochten Eiern nicht. Mit der Lektüre dieses köstlichen Romans ist nicht nur die Lust auf ein solches Ei gewachsen, sondern auch jene, endlich einmal einen Blick in jene schwarzen Löcher zu werfen, die der Hunger nach Kohle in unser Nachbarland schürft und in das literarische Werk eines Schriftstellers, der mir bis jetzt entgangen ist.
Es öffnen sich riesige Löcher in Deutschland; Kohletagebau. Und an den Rändern, die sich immer tiefer in die Landschaft fressen, zerfallen Geistersiedlungen. In einer dieser Siedlungen, in einem kleinen Dorf, harren ein paar alte Männer, die sich nicht bewegen lassen, die einen aus Trotz, die andern weil sie nicht mehr können oder weil ihnen der Ort jenes Versteck bietet, das es braucht, um in Ruhe gelassen zu werden. Ein Haufen alter Kerle, die eigentlich nichts mehr wollen, schon gar nicht, dass man ihnen den letzten Rest ihres Lebens nimmt.
Mitten im Winter, viel Schnee liegt auf den Strassen, verirrt sich ein Fremder ins Dorf. Und weil sein Auto stecken bleibt und er zu erfrieren droht, tritt er ein, in das, was von aussen wie eine Dorfkneipe aussieht. Wolters, ein Makler „des guten Geschmacks“ will nur eine Nacht bleiben und dann wieder weg vom Ende der Welt. Aber die Dorfkneipe ist längst keine Kneipe mehr mit Ausschank und Speisekarte. Jeder muss sein Zeug selber mitbringen. Man trifft sich dort, die letzten Verbliebenen als eine Art Dorfrat, der im Turnus immer wieder einen neuen Vorstand, eine Art Bürgermeister bestimmt. Weil Wolters ganz offensichtlich Hunger hat, bietet man ihm Soleier an, zusammen mit Pfeffer, Salz, Senf, Essig, Öl und Worcestersauce. Soleier werden in einem Sud aus Wasser, Salz und Kräutern haltbar gemacht, nachdem man die Eier hartgekocht mit gebrochener Schale mit dem heissen Sud übergiesst und in grossen Einmachgläsern aufbewahrt. Der Fremde bekommt eine Schlafstelle bei Hagen Siegfried, einem der Gebliebenen, der im Haus einer Frau wohnt, die ihm, als auch er sich ins Dorf verirrte, ihr Haus als Erbe vermachte, weil es sonst niemanden gab, nicht einmal mehr einen Friedhof, auf dem man die toten Angehörigen hätte besuchen können.
Andreas Hillger «EI_LAND», Osborn, 2021, 250 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-95510-255-5
Aber Wolters ist Geschäftsmann. Und weil er nicht mitansehen kann, wie die sechs Männer, der von oben bis unten tätowierte Liebig, der hagere Werner, Lokführer Herbert, der ehemalige Gastwirt Joachim, der „König ohne Land“ und Konrad der Gewohnheitstrinker nur mehr warten und harren, was da kommt, macht er den Mannen den Vorschlag, aus den Soleeiern ein Geschäft zu machen, aus der Not eine Tugend; The Egg from the Edge! Es gäbe in den Städten, den hippen Bars und angesagten Lokalen Potenzial genug, um die urigen Soleier vom Ende der Welt an zahlungskräftige Konsument:innen zu bringen. Ein Stück alte Kultur, ein Relikt aus der Vergangenheit, etwas „Echtes“ für den kleinen Hunger zwischendurch. Was am Anfang Stirnrunzeln verursacht, kommt, angefeuert durch Scarlett, die singende Tochter des Gastwirts immer mehr in Fahrt. Man kauft Orloffs, Altenglische Kämpfer und Deutsche Reichshühner, man richtet sich ein; Ställe mit Freilauf, ein eigentliches Labor, in dem man nach Rezepturen forscht. Liebig kommt gar auf die Idee, den Eiern durch die Schale hindurch eine verborgene Tätowierung zu verpassen. Die Maschinerie beginnt zu laufen. Bis der Motor durch einen Haufen Muskelmänner ins Stocken gerät.
Was Andreas Hillger literarisch einkocht, ist pures Lesevergnügen. Zum einen das Personal, seien es die schrägen Typen im Dorf, die singende Scarlett mit ihrer Band «Drei Schwestern“, die die Kampflieder rund um das Experiment EI_LAND singen, sei es die Kulisse, dieses Geisterdorf am Randes zum Nichts, sei es die Welle aus eine Mischung aus Enthusiasmus, Gier und Schnapsidee, die sechs Figuren auf standby in Aufruhr versetzt. Andreas Hillger sprudelt aber auch sprachlich, gibt dem Geschehen jene gesellschaftskritische Würze, die aus dem Roman viel mehr als eine Geschichte macht. „EI_LAND“ ist eine Parabel über den alten Mann, der es der Welt noch einmal beweisen will!
Grosses Lesevergnügen, das Hunger auf noch viel mehr als nur Buchstaben macht!
Interview
Sechs müde Männer am Abgrund, die noch einmal alles auf eine Karte setzen, auf ihr Ei des Kolumbus. Da das leere Loch in der Landschaft, ein kaputtes Dorf am Rand, ein Gasthaus mit verlorener Lizenz, ein im Schneegestöber festgefahrener Fremder und ein Glas mit eingelegten Eiern – wie sind sie auf die Idee gekommen?
Das war eine Mischung aus verschiedenen Inspirationen – oder Aromen, wie man im Fall der Soleier wohl sagen müsste. Zunächst wollte ich nach zwei historischen Romanen in der Gegenwart ankommen und dabei einen anderen, etwas groteskeren Tonfall finden. Dann beobachtete ich bei längeren Aufenthalten in Berlin das absurde Tempo, mit dem dort Moden und Trends wechseln – auch in der Gastronomie, deren Entwicklungen ich als neugieriger Dilettant verfolge. Und schliesslich fand ich das Thema gewissermassen vor der Haustür: Ich lebe in Dessau, die nächsten Braunkohle-Gruben und Baggerseen sind nicht weit entfernt, als Kind waren die vier Schornsteine des Kraftwerks Vockerode eine unübersehbare Landmarke für mich. Also ist „EI_LAND“ in gewisser Weise auch ein Heimatroman – ein Genre, das in der deutschsprachigen Gegenwarts-Literatur ja fröhliche Urständ feiert und dabei eine tiefe Sehnsucht nach Herkunft bedient. Dass ich die Geschichte dann in die Lausitz verlegt habe, liegt einerseits an der fortwährenden Präsenz des Tagebaus in dieser Landschaft und andererseits an meiner Liebe zur sorbischen Kultur, die trotz unmittelbarer Nähe so fern wirkt.
Sie sind ein Theatermensch. Das spürt man ihrem Roman an, gibt ihm die klaren Konturen, die Dramaturgie und die markige Kulisse. Was gibt den Ausschlag, ob sie einen Stoff zu einem Bühnenstück machen oder zu einem Roman?
Das ist schwer zu beantworten. Einige Themen – etwa die Geschichte des barocken Augenarztes John Taylor, der sowohl Johann Sebastian Bach als auch Georg Friedrich Händel vom Grauen Star befreien wollte – habe ich sowohl im Prosatext als auch für die Bühne verarbeitet. Im Roman kann ich eine Atmosphäre jenseits der direkten Rede schaffen, die im Theater von anderen Künstlern kreiert wird. Jedes Schauspiel, jedes Musical entsteht im kollektiven Prozess, was im Idealfall eine grosse Bereicherung für den Autor sein kann – aber natürlich auch Leidensfähigkeit voraussetzt. Immerhin kann man sich im Falle des Scheiterns darauf verlassen, dass die Inszenierung irgendwann von der Bildfläche verschwindet. Die Arbeit am Roman ist einsamer, fast ein wenig asozial – aber im Ergebnis eben auch dauerhafter. Ich liebe es, zwischen diesen Gattungen zu wechseln und zwischendurch immer wieder auch dramaturgisch zu arbeiten. Und „EI_LAND“ sollte ursprünglich tatsächlich ein Musical werden. Damals ging es allerdings noch um Pumpernickel …
Ihr Roman ist vielschichtig, in Vielem eine Groteske und doch ganz nah an der Wirklichkeit, ein Schelmenroman, auch wenn die Protagonisten alte Männer sind, durchaus eine Satire und hinter allem Gesellschaftskritik. Ich spüre als Leser das Vergnügen des Schreibens, des Fabulierens, des Zuspitzens. Männer und ihre Eier! Mussten Sie sich gegen das Überborden stemmen?
Ich versuche beim Schreiben, mich selbst bei Laune zu halten – und freue mich immer wieder, wenn mir die Wirklichkeit dabei hilft. Viele Details der Geschichte habe ich selbst erst entdeckt, als das Thema bereits feststand und meine Herrenrunde in Schwarzmühl bereits Position bezogen hatte. Das Deutsche Reichshuhn etwa oder die absurde Geschichte der Kirchen, die man behutsam aus den abzubaggernden Dörfern entfernt, um sie an anderen Orten als leere Hüllen ohne Gemeinde wieder aufzubauen … das muss man sich doch nicht ausdenken, das ist alles tatsächlich da! Das Mit- und Beschreiben der Realität habe ich als Journalist gelernt, nach meinem Seitenwechsel kann ich die Tatsachen nun mit mehr Phantasie verknüpfen. Und dabei liebe ich das Überbordende.
Haben Sie zuhause in Ihrer Küche auch einmal Eier in Soleier verwandelt? Mögen Sie sie noch immer?
Andreas Hillger mit einem Denkmal für die „Lutki“ im Spreewald-Ort Burg
Die aufwändige Zubereitung – also das Würzen mit Essig und Öl, Senf und Worchestersauce – hat in der Familie meiner Frau Tradition. Mich hat dieser Kult, der mit dem Einfachsten getrieben wird, immer zugleich amüsiert und gerührt. Gelegentlich beteilige ich mich noch immer daran … Aus meiner Jugend kenne ich zudem noch die Eckkneipen, in denen das Glas mit den eingelegten Eiern auf dem Tresen stand und die zumindest im Osten Deutschlands nach der Wende fast vollständig verschwunden sind, was man als Verlust eines Kulturgutes durchaus bedauern kann. Aber es gibt ja Hoffnung: Kurz nach Erscheinen von „EI_LAND“ las ich im Netz, dass Migros in der Schweiz tatsächlich jene vegane Variante auf den Markt bringt, an deren Herstellung meine Männer im Roman so lange erfolglos arbeiten. Dass sie tatsächlich aus Tofu hergestellt wird, wie es ja auch im Buch geschieht, hat mich sehr amüsiert – ebenso wie der futuristische Name „V-Love The Boiled“, gegen den mein „Soul-Eye“ nachgerade banal wirkt. So wird das hartgekochte Ei für biobewusste Trendsetter fashionabel. Manchmal ist der Text eben doch klüger als der Autor.
Über jedem der Kapitel steht eine Strophe der „Drei Schwestern“, einer Frauenband, angeführt von Scarlett, die wegen der Liebe zum Film diesen Namen trägt. Manchmal beissende Kommentare, die sich stets reimen, wie eine musikalische Stimme, die sich von Bühnenrand immer wieder ins Geschehen mit einmischt. Kamen diese Strophen im Nachhinein dazu? Hören Sie sie beim Schreiben?
Ich spiele gern mit solchen zweiten Ebenen, die als Orientierung oder Kommentar gelesen werden können. In meinem Bauhaus-Roman „gläserne zeit“ hatte ich den Protagonisten die drei Grundformen Dreieck, Kreis und Quadrat zugeordnet, in „Ortolan“ gab es kleine Piktogramme für die Hauptfiguren. Für „EI_LAND“ muss ich mir nun tatsächlich den Vorwurf des Plagiats machen – auch wenn ich nur bei mir selbst abgeschrieben habe. Fast alle Strophen stammen aus Musicals und Oratorien, die ich mit verschiedenen Komponisten geschrieben habe. Wenn es bissig wird, sind es meist Texte aus der Neubearbeitung von John Gays „Beggar’s Opera/Polly“, die zusammen mit Christoph Reuter für das Anhaltische Theater Dessau entstand – oder aus dem Fugger-Musical „Herz aus Gold“, das Stephan Kanyar und ich für das Staatstheater Augsburg schreiben durften. Andere Zeilen sind aus der Kinderoper „Oskar und die Groschenbande“ oder aus dem Melanchthon-Oratorium „Gott allein die Ehr‘“ entliehen. Aber weil die darstellende eben auch eine flüchtige Kunst ist, wollte ich den Fragmenten ein wenig Dauer verleihen – die ich beim Schreiben tatsächlich im Ohr hatte, weil sie ja bereits melodisch ausformuliert sind. Daher habe ich sie den „Drei Schwestern“ in den Mund gelegt, deren Name natürlich auf Tschechow verweist – und auf ein Leben im toten Winkel, das von Sehnsucht nach der Grossstadt verzehrt wird. Das schien mir irgendwie passend.
Andreas Hillger arbeitet nach langer journalistischer Tätigkeit als freier Autor und Dramaturg. Sein Hauptinteresse gilt dabei historischen Themen, die er oft auf dem Theater verhandelt – so u.a. zuletzt im mehrfach ausgezeichneten Fugger-Musical «Herz aus Gold» für das Staatstheater Augsburg oder im Melanchthon-Oratorium «Got.alein/die.Ehr». Bei Osburg erschienen seine Romane «Gläserne Zeit» (2013) und «Ortolan» (2020).
Gabriele Alioth hat mit einem Teil ihrer eigenen Geschichte ihrem neuen Roman Leben eingehaucht. „Die Überlebenden“ klingt dramatisch, was es und er auch ist. Der Roman ist die Geschichte des Krieges, eines Kriegs, der von aussen auf die Protagonisten einwirkt, durch die Kriege dieses Jahrhunderts und eines Krieges von Innen, gegen seelische Gewalt, gegen das Vergessen, gegen das Schweigen.
Eine Familiengeschichte, die Geschichte dreier Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen von Gewalt zu leiden hatten. Gabriele Alioth erzählt in einem Interview, wie sie vor Jahren die Briefe einer Tante an ihren Mann in die Hände bekam, einer Tante, die die Briefe nach Jahrzehnten noch einmal gelesen hatte, die der Autorin sehr schnell offenbarten, dass da Stoff für mehr als eine Geschichte zu verarbeiten war. Und doch ist Gabriele Alioths Roman „Die Überlebenden“ keine Spiegelung von Tatsachen. Der Autorin geht es um die Fragen, die aus den Leben der Protagonisten resultieren, ob man dem biographischen Gencode einer Familie entfliehen kann, wie sehr das Schweigen in einer Familie durch die Zeiten wirkt, zerstörerisch über die Jahrzehnte. Gabriele Alioth will viel mehr als nacherzählen. Ihr Roman ist der Versuch einer Einordnung, vielleicht sogar einer versöhnlichen Klärung.
„Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnerten, Erdachtem und Erträumten zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint.“
Vera, die eigentliche Erzählerin im Roman, kommt aus einer Bäckerdynastie. Mina, eine Tochter jenes Grossvaters, heiratet Oskar, einen Mann, der selten zuhause ist, während und nach dem Krieg nicht nur seinen undurchsichtigen Geschäften nachgeht, sondern in der Ferne ein Leben führt, das mit dem seiner Familie, seiner Frau und seiner Kinder gar nichts zu tun hat. Mina, die gezwungen ist, ihre Familie in eigener Regie durch die Zeit zu manövrieren, wird mehr als deutlich von ihrem dominanten Mann aufgefordert, brieflich genauestens zu rapportieren, was zuhause abgeht. Mina formuliert in diesen Briefen krampfhaft beflissen und positiv, was zwischen den Zeilen mehr als deutlich ihren Kampf ausmacht. Den Kampf vieler Frauen in jener Generation, die in ihrem Alltag ihren „Mann zu stehen hatten“, während die Ehemänner an ganz anderen Fronten ihre breite Brust zeigten. Den Kampf einer Frau, die trotz Familie und Ehe alleine ist.
Irgendwann ist Mina gezwungen auch noch den Sohn ihrer Schwester in ihrer Familie aufzunehmen. Max aber ist kein leichtes Kind, viel mehr ein Rebell, ob in Minas Familie, ihrem Zuhause, in der Schule oder in der Ausbildung. Beide reiben sich aneinander, bis Max ausbricht und sich als Pilot im Vietnamkrieg seinen Feinden stellt.
Als er nach Jahren zurück an die Stadt am Rhein kommt, quartiert er sich bei seiner Cousine Vera ein, einer Frau, die Schmetterlinge züchtet, jene filigranen Lebewesen, die durch eine blosse Berührung fluguntauglich gemacht werden können. So wie die eine Tochter von Oskar, die durch einen sexuellen Übergriff ihres Vaters „fluguntauglich“ gemacht wurde, eine Tat, an der Mina ein Leben lang zu kauen hatte, nie darüber sprach, die sich wie ein Alp über die ganze Familie stülpte. Statt gegen den Mann anzutreten, kämpft sie gegen den Rebellen Max, den Pflegesohn, der seinen Kampf wiederum bis in den fernen Osten schleppt.
„Die Überlebenden“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Auch kein Roman, der eine Geschichte linear nacherzählen will. So wie es im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte nie um eine Chronologie der Ereignisse geht, mischt Gabriele Alioth die Ereignisse so, wie sie dem Nachdenken darüber erscheinen. Das macht es für mich als Leser nicht ganz einfach. Aber genau das entspricht der Wirklichkeit. Gabriele Alioth zeichnet in einer verdichteten Sprache, im Mäandern zwischen Briefen, Erinnertem und Erdachtem. Sie legt ein Mosaik aus Stücken zusammen, die erst aus der Distanz, nicht zuletzt aus der zeitlichen Distanz eine grosse Ordnung ergeben. Mag sein, dass die Lektüre nicht so einfach flutscht. Aber Wahrheiten flutschen selten.
Kein Buch über die «Heilige Familie».
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.
«Die Eule über dem Rhein» vom Grossmeister Hansjörg Schneider ist ein liebender Blick auf die Stadt am Dreiländereck, ein Buch voller Erinnerungen, über das Schreiben, sein Wachsen, die grossen Lieben des Lebens, gegen das Vergessen, ohne Pathos aber mit den Augen eines Weisen.
Es gibt Autoren, an denen ich mich nicht „vorbeilesen“ kann, nur schon deshalb, weil sie mich schon ein ganzes Leseleben begleiten. Noch während meiner Ausbildung las ich Hansjörg Schneiders Roman „Lieber Leo“, von einem der auf sein scheinbar gescheitertes Leben zurückschaut, verwundet, weil ihn seine Liebe ohne Abschied verlässt. Es war der erste Schneider im Regal. Ein Paar Jahre später provozierte Hansjörg Schneiders Theaterstück „Sennentunschi“ nicht nur das brave Theaterpublikum, nach einer Fernsehproduktion auch unsere Familie, weil mein Vater darauf bestand, das Gerät abzuschalten, er dulde keine Pornografie im Wohnzimmer. Und als kurz vor der Jahrtausendwende „Das Wasserzeichen“ erschien, noch immer mein liebstes Schneiderbuch, weil es mich mit seiner Sprache und seiner Geschichte in ganz neue Sphären wegzog, wurde ich endgültig zu einem Schneiderer, schon lange vor all den Hunkelerkrimis, und erst recht bei deren Verfilmungen mit Matthias Gnädinger.
Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes, 2021, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-257-07162-7
Mit „Die Eule über dem Rheinknie“ hat Hansjörg Schneider bei Diogenes kurze Prosa veröffentlicht, Kolumnen von 2015 bis 2017 und Betrachtungen über sein Leben. Auf dem Dach des Basler Münsters sitzt eine steinerne Eule. Sie blickt über den Rhein auf „die andere Seite“. Hansjörg Schneider, der mit seiner Familie früh nach Basel zog, blieb immer ein Aargauer, obwohl er längst ein Basler Urgestein ist. Wie die Eule blickt er in seinem Schreiben auch stets leicht erhöht „auf die andere Seite“, auf eine Schweiz, die ihm oftmals eng erscheint, sein Basel, vom Geldadel erdrückt, hinüber ins Elsass, in die Vogesen, wo er auch seinen Ermittler Hunkeler schickte, wenn ihm das Geschehen am Rheinknie auf die Pelle ging. „Die Eule über dem Rheinknie“ ist der Blick eines Mannes, der das Leben aus dem vergangenen Jahrtausend mit ins neue nimmt, von einem, der an den Gewohnheiten festhält, nicht aus dumpfem Trott, sondern weil ihm sein Tun, Denken und Handeln lieb geworden ist. Ein Schriftsteller, der noch immer von Hand schreibt, ein Heft nach dem andern füllt, mittlerweile mehrere hundert, einen Schatz, den er dem Schweizerischen Literaturinstitut übergab. Der sein Geschriebenes noch immer mit einer mechanischen Schreibmaschine abtippt und gleich korrigiert, kürzt oder ergänzt, dem das Tippen als körperliche Handlung ebenso wichtig ist, wie das Geräusch, auf das er nicht verzichten will.
Hansjörg Schneiders Blick schweift, manchmal ganz nah, wenn er von seinen Nachbarn erzählt, von den Alten in seinem Quartier, den Begegnungen im Supermarkt, wie sehr wir uns in unserem Hafen sicher fühlen, wie sehr wir uns an all die Annehmlichkeiten gewöhnt haben. Von seinen Spaziergängen in der Stadt, vorbei an den gestylten Joggern. Dann zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit und Jugend in Zofingen, über den Schmerz, mit seinen Krimis nie an die Solothurner Literaturtage eingeladen worden zu sein, über seine Zeit in Paris als bettelarmer Niemand. Über seine Schriftstellerkollegen Guido Bachmann, Dieter Fringeli, Christoph Mangold und Werner Schmidli, mit ihm ein Basler Pentagon, von denen alle bis auf ihn gestorben sind, die man mehr und mehr vergisst.
Hansjörg Schneider schreibt mit seinem ganz eigenen Witz und Schalk, nicht ohne Kopfschütteln über sich selbst. Er schreibt von einem Mann, der sein Leben und Tun liebt, der mit seinem Schreiben seine zweite grosse Liebe gefunden hat. Der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er Schwätzer mit Namen nennt und sich zuweilen Schmerz darüber einschleicht, was alles unwiederbringlich verloren geht. Aber das darf ein Mann von 83 Jahren, dessen Blick fast immer ein liebender und freundlicher ist.
Warum nicht mit der Eule über dem Rhein in den schneider’schen Kosmos einsteigen!
Interview
Ich schreibe Ihnen meine Fragen von Hand auf Papier. Sie schreiben noch immer in Hefte ebenfalls von Hand und tippen es anschliessend in eine mechanische Schreibmaschine. Schwingt da der Wunsch des Haptikers mit, „Spuren“ zu hinterlassen? Ich schreibe erst von Hand, dann in die Schreibmaschine, weil ich es so gelernt habe und nie einen Grund sah, davon abzuweichen. Ausserdem finde ich meine Handschrift schön, obschon sie offenbar schwer zu entziffern ist. Aber es stimmt schon: Heimlich bin ich stolz auf meine handschriftlich gefüllten Hefte.
Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an Ihre Mutter, Ihre Kindheit, den Blick in die Weite, die Stadt Paris und viele Freunde, die nicht mehr sind, darunter auch Werner Schmidli, einen Schriftsteller, von dem ich wie von Ihnen alles gelesen habe, der mir lieb ist, auch wenn er mich einst mit meinem Bücherstapel in Händen zum Signieren ganz an den Schluss der Warteschlange schickte. Fühlen Sie sich manchmal alleine gelassen? Natürlich finde ich mich alleine gelassen, natürlich sitze ich allein am Tisch. Mit 83 Jahren ist das wohl normal.
Sie arbeiteten wie Peter Bichsel vor mehr als einem halben Jahrhundert als Lehrer. Ich bin es in meinem Brotberuf noch immer, schon 37 Jahre lang. Manchmal leide ich etwas unter dem Sisiphos-Effekt, an den immer gleichen Problemen, die man den Berg hinauf schiebt und rollt. Obwohl ich ein grosser Leser bin und mir das freie Schreiben in der Schule ganz zentral erscheint – nicht bloss Sprachübungen – entmutigt mich die Entfremdung von der Sprache manchmal, die Verflachung und Verarmung. Muss man Angst um die Sprache haben? Wird echte Auseinandersetzung mit Sprache immer seltener, einsamer? Ich habe mein Germanistikstudium mit Stellvertretungen an aargauischen Bezirksschulen verdient, mit weissem Hemd und Krawatte und lauter Militärköpfen im Lehrerzimmer. Da wollte ich nicht mitmachen. Heute ist es ganz anders in den Schulen, viel lockerer. Da ich den Lehrerberuf als sehr wichtig erachte, könnte ich mir heute ein Lehrerdasein gut vorstellen. Über die Sprache würde ich mir keine grossen Sorgen machen. Sie lebt, sie verändert sich, wie sie sich immer verändert hat.
Warum zählen Krimis mit einem literarischen Anspruch, so wie Ihre Hunkeler-Krimis noch immer zu minderwertiger Literatur? Zumindest im deutschsprachigen Raum, ganz im Gegensatz zu den „Angelsachsen“? Die Verachtung des Krimis als Literaturgattung ist völlig idiotisch. Am besten nimmt man sie einfach nicht zur Kenntnis. Für mich ist der Krimi eine wunderbare Gattung. Man kann erzählen, beschreiben, was und wie man will. Schreiben heisst, sich die Freiheit nehmen, die man sich nehmen will.
Sie sind 83. Ihr Werk ist umfangreich, vielfältig und gross. Bald werde ich vor einer Gruppe „Studierender“ stehen und ihnen von der aktuellen CH-Literaturszene erzählen. Lauter Menschen, die davon träumen, dereinst ein Buch mit ihrem Namen in Buchhandlungen zu finden. Was würden Sie den mehr oder minder jungen Hoffenden raten, waren Sie doch auch einmal einer, auf den niemand gewartet hatte. Selbstverständlich hat keiner auf mich gewartet, als ich jung war. Ich erhielt nur Absagen, von Zeitungen und Verlagen, auch von Theatern. Bis es eben doch geklappt hat, mit viel Glück. Natürlich ist Erfolg etwas Schönes. Aber der Grund, warum man schreibt, ist ja das Schreiben selber.
Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter „Sennentuntschi“ und „Der liebe Augustin“, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine „Hunkeler“-Krimis, verfilmt mit Matthias Gnädinger, führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.
«Das Foto täuscht nicht, natürlich nicht. Sondern wir täuschen uns.» Das wir dem nicht mehr trauen, was wir sehen, zeigt die Gegenwart mehr als deutlich. Dabei ist es nicht das, was wir sehen, sondern wie wir sehen. Heinrich Steinfest hat eine kluge Novelle geschrieben. Von einem Mann, der sich in einen tödlichen Strudel ziehen lässt.
Ein paar Monate nachdem mein Vater gestorben war, sass ich in einer Strassenbahn in Zürich. Ein paar Reihen vor mir setzte sich ein Mann im Mantel, ohne Hut und legte seine Hände auf den Sitz vor sich. Ich sass paralysiert in meinem Sitz schräg hinter ihm und hätte für einen langen Augenblick wetten können, dass mein Vater dort sitzt: die gleiche Figur, die gleiche Haltung, die gleichen sich lichtenden Haare, und was mich am meisten verunsicherte, die gleichen Hände, die gleiche Art, den Daumen an den Zeigerfinger zu legen. Ich wäre am liebsten aufgestanden, hätte sanft seine Schulter berührt. Aus meiner Starre erwacht war ich sicher, einem Doppelgänger begegnet zu sein. Allerdings nur, bis sich der Mann von seinem Sitz erhob, sich umdrehte und die Strassenbahn verliess. Mit einem Mal war alle Ähnlichkeit abgefallen.
Heinrich Steinfest «Amsterdamer Novelle», Piper, 2021, 112 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-492-07117-8
Roy Paulsen ist Visagist in einer Fernsehstation, deckt das zu, was Scheinwerferlicht und Nahaufnahmen unweigerlich zeigen würden. Sein Sohn fotografiert zu Recherchezwecken in Amsterdam und schickt ihm eines der Fotos, überzeugt davon, seinen Vater auf einem Fahrrad, eine der Grachten entlangradelnd fotografiert zu haben. Aber Roy Paulsen war noch nie in Amsterdam. Paulsen pinnt das Foto in seinem Arbeitszimmer an die Wand, aber es bleibt viel mehr in seinem Kopf hängen als an der Wand zuhause. Ein Mann in kurzen Hosen vor einem dreistöckigen Klinkerbau, ein Mann mit seinem Profil, seiner Nase, seiner Brille. Und neben dem Mann auf dem Rad entdeckt Paulsen in einem Fenster des Hauses ein Gesicht. Das Foto lässt ihm keine Ruhe, als ob es sich über alles andere darüber gelegt hätte. Paulsen beschliesst, seinen Sohn in Amsterdam zu besuchen, obwohl dieser ihm deutlich macht, eigentlich keine Zeit für ihn zu haben. Nachdem die Internetrecherche, digitale Fahrten durch Amsterdam ohne Erfolg blieben, das Haus nicht zu verorten war und sein Sohn auch keine Angaben über den Moment des Abdrückens machen konnte, macht sich Paulsen auf in die Stadt, in der er noch nie war. Es sollte eine Verifizierung werden, fünf Tage, die wenigstens Klarheit liefern sollten, wo dieses Haus steht.
Und tatsächlich, nach einem heftigen Gewitter sieht er auf der anderen Seite einer Gracht dieses Haus, unzweifelhaft. Er geht hin, steht davor und sieht, dass die Eingangstür über der Treppe bloss angelehnt ist. Von unstillbarer Neugier getrieben geht er hinein in das stille Haus, bis er mit einem Mal in einem Raum im Rücken zweier bulliger Männer mit Pistolen steht, die vor einem auf Stühlen gefesselten Paar vor sich deutlich machen, dass die Lage gleich endgültig werden würde. Ein Schuss fällt, der gefesselte Mann auf dem Stuhl kippt zu Seite, Paulsen greift ein und nichts ist mehr so, wie im sonst so geregelte Leben des Visagisten bisher. Aus blosser Neugier wird existenzieller Ernst.
Heinrich Steinfest erforscht nicht nur, was Wahrnehmung anzurichten weiss. Er entwickelt aus einem unscheinbaren Szenario einen wahren Krimi, bei dem es aber nur hintergründig um ein Verbrechen und die eventuelle Aufklärung geht. Neben dem „Doppelgängermotiv“ geht es auch um die Erfahrungen von Déjà-vus, Momenten, die einem glauben machen, man sei in einer Schlaufe gefangen. Paulsen ist getrieben vom Wunsch einer Erklärung. Ein Wunsch, der ihn immer tiefer in einen Strudel rutschen lässt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, dass ihm sein altes Leben entreisst.
„Amsterdamer Novelle“ ist ein virtuos erzähltes, literarisches Kleinod, viel mehr als ein Geschichtchen, schon gar kein Krimi – aber steinfestes Kunsthandwerk!
Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge», 2018 wurde «Die Büglerin» für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Eine junge Frau allein mit sich selbst, ohne Filter, ohne Grenzen, sich selbst und allem andern unmittelbar ausgeliefert. «Null» ist sprachlicher Hardrock, literarischer Sprengstoff.
Zuerst dachte ich, ich müsse das Buch weglegen, es sei nichts für mich, biete bei der Lektüre weder Genuss noch Fluss, legte es wirklich weg, um es nach ein paar Tagen doch noch einmal zu versuchen. „Null“ ist kein Genuss-Roman. Aber der Lesefluss stellt sich dann doch ein, wenn man sich auf die formalen Eigenheiten dieses Buches einlässt. Als „Null“ 2013 in Norwegen erschien, löste das Buch eine Welle aus, mit Sicherheit deshalb, weil Gine Cornelia Pedersen aus einer Perspektive erzählt, die zumindest mir bisher verborgen blieb, weil ich so nie hätte beschreiben können, einer Perspektive, die entweder ihrer überragenden Einfühlung zu verdanken ist, mit der sie als Schauspielerin in tiefere Sphären eindringen kann – oder ganz persönlichen Erfahrungen. Eine unwichtige Frage, aber als Feststellung während der Lektüre beeindruckend.
Gine Cornelia Pedersen «Null», Luftschacht, 2021, aus dem Norwegischen von Andreas Donat, 185 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-903081-90-1
„Null“ erzählt von einer jungen Frau, in Rückblenden bis in ihre Kindheit und Schulzeit. Von einer jungen Frau, die sich nur in ganz seltenen und kurzen Phasen dieser für uns normalen Welt zugehörig fühlt. Einer jungen Frau, die immer wieder in einen selbstzerstörerischen Wahn verfällt, permanent kippt zwischen Hass, Verzweiflung und den kurzen Momenten der Hoffnung, doch irgendwo ein Stück Glück zu erhaschen. Aber Konstanz, Ruhe, Geborgenheit, Ausgeglichenheit, all das, was den „zufriedenen Menschen» auszumachen scheint, ist bei der fast permanent leidenden und getriebenen Protagonistin gleich „Null“.
Sie wächst auf dem Land auf, ist schon als Kind eine Aussenseiterin, die ihre Umgebung verunsichert und überfordert. Ihre Eltern trennen sich. Ihre Mutter versucht krampfhaft, ihrer Tochter das zu geben, was ihr aus ihrer Sicht zu fehlen scheint. Statt dessen muss die Mutter bis zur Unerträglichkeit zusehen, wie sich ihre Tochter von Katastrophe zu Katastrophe hangelt, Zerstörungen gegen innen und gegen aussen. Seien es Selbstverletzungen, Drogenexzesse, selbst für die junge Frau unkontrollierbare Sexualität, aber auch Zerstörungen an Menschen und Dingen um sie herum – die junge Frau ist weder von aussen noch durch Medikamente zu bändigen, obwohl alles an ihr nach Erlösung und Hilfe schreit. Immer wieder wird sie in Kliniken eingewiesen, mit Medikamenten abgefüllt oder mit Spritzen sediert. Nichts scheint ihr helfen zu können, ausser ihr grosser Traum, dereinst Schauspielerin zu werden, auf der Bühne zu stehen, in eine andere Haut zu schlüpfen.
„Null“ ist weit weg von Erbauungslektüre. Aber auch weit mehr als Betroffenheits- oder Erfahrungsbericht. Was das Buch, den Roman einzigartig macht, ist seine Form, die Sprache, die Unmittelbarkeit, die die junge Autorin nicht durch verschriftlichte Emotionen zu erzeugen versucht, sondern durch den Duktus ihrer Sprache, ihres Ausdrucks. Gine Cornelia Pedersen setzt jeden Satz. Jeder Satz ein Hilferuf ohne Interpunktion. Die Worte, die Sätze brauchen sie nicht. So wie das Leben der Protagonistin auch ein atemloses ist, ein zerstückeltes, im Stakkato eines grellen Lichts, von Blitz zu Blitz. Nach jedem Satz eine neue Zeile, weil dieses Leben nie in jenen Fluss gerät, den es braucht, um Atem zu schöpfen, zu sich zu kommen. Zugegeben, die Lektüre schmerzt. Keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass sich das Gelesene in die eigenen Träume einschleicht, ist gross. „Null“ ist ein Höllentripp, auf den man sich einlassen muss, der mich vorsichtiger werden lässt, nicht zuletzt im Urteil darüber, wie ich Menschen begegne, denen man den Kampf ansieht.
Gine Cornelia Pedersen ist 1986 in Oslo geboren. Für ihren von der Kritik gefeierten ersten Roman Null erhielt sie 2013 den Tarjei Vesaas Debutantpris. Sie studierte Schauspiel an der Kunsthøgskolen in Oslo und und ist als Schauspielerin und Autorin tätig.
Andreas Donat ist Literaturübersetzer und klassischer Pianist in Berlin. Er wurde 1983 in Wien geboren, studierte Skandinavistik an der Universität Wien und Klavierspiel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dem Barratt Dues Musikkinstitut in Oslo und der Universität der Künste in Berlin. Andreas Donat übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen ins Deutsche.