Ein Literaturfestival soll zur Auseinandersetzung einladen. Das diesjährige Literaturfestival in Leukerbad tat es – zuweilen emotional. Aber ein Literaturfestival soll auch überraschen. Adania Shibli tat es mit ihrem Roman „Eine Nebensache“. Ein schmaler Roman mit viel Gewicht!
Sie hätte so viel falsch machen können. Tat sie aber nicht. Ganz im Gegenteil. Adania Shibli ist Palästinenserin und schreibt Arabisch. Ihr erster auf Deutsch erschienener Roman „Eine Nebensache“ erzählt von einer Gräueltat, die im Sommer 1949 von israelischen Soldaten an einem beduinischen Mädchen begangen wurde – einer Gruppenvergewaltigung, einem schrecklichen Mord an einer jungen Palästinenserin. Es hätte eine späte Racheschrift werden können, eine blutige Anklage, ein Enthüllungsroman. Doch Adania Shiblis schmaler, hoch konzentrierter Roman ist ein Kunstwerk. Aber auch ein Fingerzeig, ein Mahnmahl. Erst recht heute, wo ein alles dominierender Krieg alle anderen Kriege und Konflikte zur Nebensache macht. Erst recht heute, wo die Folgen von Krieg und Gewalt, all die Opfer zur Nebensache werden, weil das Gefühl des Bedrohtseins, die Angst vor globalen Folgen jedes einzelne Schicksal zu einer Nebensache werden lässt. Erst recht, weil es nur ein Mädchen war, die an ihr begangene Gräueltat ein Zwischenfall.
Als Folge der Staatsgründung Israels im Mai 1948 wurden über 700 000 PalästinenserInnen aus ihrer Heimat, aus Palästina vertrieben. Eine angebliche Rückeroberung für all die Siedler, die sich in der Kargheit jener Gebiete, in denen Palästinenser über Generationen als Beduinen lebten, ansiedelten und einen modernen Agrarstaat errichteten. Einem Gebiet, aus dem man ein Volk, das in den Augen ihrer Besatzer minderwertig erschien, verdrängte. Ausgerechnet von Menschen, die während einer Dekade Nationalsozialismus alle vorstellbaren Schrecken erleiden mussten.
Adania Shibli «Eine Nebensache», Berenberg, 2022, aus dem Arabischen von Günther Orth, 116 Seiten, CHF 29.50, ISBN 978-3-949203-21-3
Ein Gruppe Soldaten, die ein Gebiet in Negev zu sichern hat, tötet eine Gruppe Beduinen und verschleppt das einzige überlebende Mädchen. Man sperrt sie ein, reisst ihr die Kleider vom Leib, schruppt ihre Haare mit Benzin, schert sie, vergewaltigt sie der Reihe nach in einer Hütte, schleppt sie in die Wüste und tötet sie wie ein verletztes Tier. Ein Vierteljahrhundert später macht sich eine junge Palästinenserin nach der Lektüre eines Zeitungsberichts auf die Suche nach Informationen. Eigentlich nur deshalb, weil sich das Vierteljahrhundert genau mit ihrem Geburtstag schneidet, dadurch eine Verbindung entsteht, der sich die Erzählende nicht mehr entziehen kann.
Was die bestechende Qualität dieses Romans ausmacht, ist weder das Thema noch das erzählte Verbrechen, ein Plot. Auch nicht die Suche nach den Spuren oder den Ursachen. Adania Shibli erzählt in zwei Perspektiven. Im ersten Teil rein beschreibend über den einen Soldaten, den Vorgesetzten jener Soldatengruppe. Im zweiten Teil vom Versuch der jungen Erzählerin durch all die territorialen Hindernisse an jene Orte zu gelangen, die ihr die Geschichte erzählen könnten. Im ersten Teil schlüpft die Erzählperspektive nicht einmal in die Innenwelt jenes Soldaten. Das macht aus dem Tun des Soldaten eine fast glatte Erzählfläche, die alles der Leserin/dem Leser übergibt. Selbst die Tat, das schreckliche Geschehen unter den Soldaten, der Mord ganz am Schluss – alles nur beschreibend erzählt, als wäre die Innenwelt Nebensache – was sie auch werden muss angesichts des Schreckens. Der zweite Teil, die Suche der jungen Frau Jahrzehnte später, beschreibt die Lebenswelt einer Palästinenserin, kaum nachvollziehbar für mich als Europäer. Ein in Sektoren eingeteiltes Land, durch Checkpoints und scharfe Kontrollen zerrissen. Eine Welt, die die Normalität zur Nebensache werden lässt. Und in beiden Teilen des Romans spiegeln sich Bilder des jeweils andern Teils; Ängste, ein Hund, Spinnen, ein Mädchen.
Adania Shiblis Roman schleicht sich ins Unterbewusstsein, beschreibt die Seelenlosigkeit von Menschen in Uniformen, die Seelenlosigkeit eines Landes im permanenten Ausnahmezustand. Und nicht zuletzt stellt der Roman Fragen, wichtige Fragen!
Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. «Eine Nebensache» ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, die englische Übersetzung war für den National Book Award (2020) sowie für den International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli lebt in Palästina und Deutschland.
Günther Orth, geboren 1963 in Ansbach, studierte in Erlangen Islamwissenschaft. Sprachstipendien führten ihn nach Ägypten und Syrien, es folgte ein Übersetzerabschluss Arabisch in Leipzig. In seiner Magisterarbeit und später in seiner Dissertation schrieb er zur modernen Erzählliteratur Syriens und des Jemen, wo er jeweils lebte. Er arbeitet heute in Berlin und weltweit als Übersetzer und Konferenzdolmetscher für Arabisch.
Felipe ten Holt ist Dolmetscher. Ein Beruf zwischen den Wahrheiten. Er übersetzt, steht bei Gesprächen zwischen den Parteien, zwischen den Fronten. Felipe ten Holts Leben stand schon immer zwischen den Wahrheiten, zwischen den Welten. Karl Rühmann begibt sich in seinem neuen Roman „Die Wahrheit, vielleicht“ auf einen schmalen Grat.
Karl Rühmann liest am 26. Internationalen Literaturfestival Leukerbad
Überall, wo gesprochen wird, prallen Wahrheiten, verschiedene Realitäten aufeinander. Die beiden Pandemiejahre machten offensichtlich, das Wahrheiten völlig unterschiedlich, manchmal unvereinbar, in nichts deckungsgleich sein können. Gespräche in unterschiedlichen Sprachen. Wenn bei Gesprächen die Sprache an sich schon verschieden ist und man sich nur über DolmetscherInnen verständigen kann, wenn Parteien aufeinander stossen, deren Ziele, Absichten und Hoffnungen diametral auseinander liegen, dann wird Wahrheit zu einem flirrenden Etwas; unfassbar, kaum einzugrenzen.
Felipe ten Holt wuchs in einer Familie auf, in der Sprachen schon immer eine übergeordnete Rolle spielten. Muttersprache seiner Mutter war Spanisch, Vatersprache Deutsch. Felipe ten Holts Vater sprach mit ihm in einer Mischung aus Niederländisch und Deutsch. Wäre es nach dem Wunsch Felipes Mutter gegangen, hätte sie noch viel mehr Sprachen gelernt. Sprachen schienen so etwas wie Gewänder und Kleider, in denen man sich ganz anders bewegte. Aber die Geschichte der Mutter sollte nicht nach ihren Wünschen verlaufen. Pappie, ihr Mann, wurde eines Tages von der Polizei abgeholt und verschwand im Gefängnis. Die Gründe für das Verschwinden von Felipes Vater liess seine Mutter im Dunkeln. Das war nichts für einen kleinen, sensiblen Jungen.
Karl Rühmann «Die Wahrheit, vielleicht», rüffer & rub, 2022, 224 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-907351-00-0
In der ganz eigenen Welt seiner Mutter beginnt der junge Felipe Eigenheiten zu entwickeln, die er bis in sein Erwachsensein mitnehmen wird; seine Sehnsucht nach Klarheit und Ordnung, seine stetige Suche nach Zusammenhängen und Zuordnungen. Aber eine neue Bekanntschaft seiner Mutter zu einem Maler, die zu Beginn noch wie Liebe aussieht, bringt nicht nur das Leben von Felipe in einen Sturm aus Emotionen und Verunsicherung. So sehr der Neue Felipe als Störfaktor in seiner Beziehung sieht, so sehr ist Felipe überzeugt, das die Motive des Neuen an der Seite seiner Mutter keine redlichensind. Es entbrennt ein Kampf um die Gunst der Mutter, ein Krieg verschiedener Wahrheiten. Bis die Situation eskaliert.
Sprachen werden auch Felipes Leidenschaft. Er studiert sie, wird dank seiner kombinatorischen Fähigkeiten zum Verhörspezialisten ausgebildet, bis ihn seine Reisen und Einsätze wieder zurück an jene Orte führen, aus denen er in seiner Jugend gerissen wurde. Felipe wird Dolmetscher, manchmal in Spitälern oder Schulen, manchmal bei Ämtern oder auf Polizeiposten. Felipe versucht sich tunlichst aus den Leben herauszuhalten, die an solchen Gesprächen teilnehmen, auch wenn er als ehemaliger Verhörspezialist genau spürt und aus den Formulierungen heraushört, dass sich die Wahrheit versteckt hält, dass man Lügen aufsitzt, man sich nicht versteht, obwohl Formulare ausgefüllt und Abmachungen festgelegt werden.
Karl Rühmann schildert ein Leben, das sich im Dazwischen festgesetzt hat, eine Existenz, die schon in der Jugend erfahren musste, dass sich Wahrheit diametral spiegeln kann. „Die Wahrheit, vielleicht“ ist zum einen die Geschichte eines Mannes, der an den Spiegelungen der Wahrheiten zu zerbrechen droht und ein Roman über die Wahrheit selbst. Trägerin dieser Wahrheiten ist die Sprache. Und so sehr Verständigung unter Sprachen, selbst in der gleichen, schwierig bis unmöglich ist, so sehr verhält es sich mit den Wahrheiten selbst. Sprache suggeriert Eindeutigkeit. Aber so sehr Deutung und Interpretation das Gehörte und Gelesene erreichen können, so sehr kann die Suche nach Wahrheit zerreissen. Karl Rühmanns Protagonist hofft auf Strategie, Technik, nicht zuletzt auf die Psychologie, um irgendwann festzustellen, dass nicht einmal der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Wahrheit zu trauen ist.
Karl Rühmann erzählt auf drei Ebenen. Szenen aus der Lebensgeschichte des Protagonisten sind verwoben mit Schilderungen verschiedenster Gesprächssituationen, in die Filipe ten Holt gerufen wird – und Auswertungsgesprächen zwischen ihm und seinem Ausbildner, als man im zum Verhörspezialisten machte. Alle drei Ebenen erzählen vom Kampf eines Mannes, sich aus fremden Geschichten heraushalten zu wollen. Ein Kampf, der letztlich nur zu verlieren ist. Ein Kampf, bei dem es keinen Trost gibt.
„Die Wahrheit, vielleicht“ ist keine leichte Kost, auch keine Geschichte, die klärt. Karl Rühmanns Roman ist die Aufforderung, sich mit seinem eigenen Sehen und Hören auseinanderzusetzen, sich diesem einen „Vielleicht“ auszusetzen!
Karl Rühmann wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Heute lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Sein Roman «Der Held» war nominiert für den Schweizer Buchpreis 2020. Für seinen ersten Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Publikationen, die nicht bei rüffer&rub erschienen: «Der alte Wolf» (2019), «Eine wundersame Reise» (2018), «Komm mit zum Fluss» (2017), «Leseglück» (2015), «Wer bist denn du?» (2010) u. a.
In „Der Flötenspieler“ geht einer weg, haut ab. Etwas, was man in der Gegenwart manchmal gerne tun würde, wenn es denn eine Chance gäbe. Thomas Waller tut es, mit fast nichts, ausser seiner Flöte und einer Vergangenheit, die sich nicht mehr mit der Gegenwart koppeln lässt. Ein Roman für AbenteurerInnen!
Rudolf Bussmann, Dichter, Romancier, Übersetzter, Herausgeber und Literaturvermittler feiert heuer seinen 75. Geburtstag. Rudolf Bussmanns Leben ist Literatur. Er ist keiner jener, die sich in ihrer stillen Kammer zurückziehen und nur dann an die Öffentlichkeit treten, wenn ihre Literatur im Fokus steht. Nichts gegen ein spitzweg’sches Dasein, nichts gegen Schreibende, die sich ganz auf ihr eigenes Tun konzentrieren (müssen). Rudolf Bussmann schreibt nicht nur Gedichte, Erzählungen und Romane, er schreibt sich mit seinem Engagement auch in die Herzen jener, die ein Gegenüber brauchen, das zuhört und versteht. Sei es als Moderator an der BuchBasel oder am Internationalen Lyrikfestival in Basel, sei es in der Lyrikgruppe Basel um Alisha Stöcklin, Claudia Gabler, Simone Lappert, Ariane von Graffenried und Wolfram Malte Fues, in der man sich regelmässig trifft, die Lyriktage vorbereitet, kuratiert und jedes Jahr den von der GGG Basel gestifteten Basler Lyrikpreis vergibt.
«In ein paar Jahren, wenn die Alten weg sind, haben wir nur noch Leute, wie wir sie brauchen, durch und durch eingespielt in die Elektronik. Zuverlässig wie die Programme.»
Rudolf Bussmann «Der Flötenspieler, edition bücherlese, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906907-57-4
Anlässlich seines 75. Geburtstags brachte sein Verlag edition bücherlese seinen 1991 bei Luchterhand erstmals erschienenen Roman „Der Flötenspieler“ erneut heraus. Ein Geschenk an den Schriftsteller, aber viel mehr an LeserInnen, denen der Zugang zu diesem schillernden Roman verwehrt geblieben wäre, hätte der Verlag den Mut nicht gehabt, dem Roman noch einmal eine Tür zu öffnen. „Der Flötenspieler“, ein gleichermassen geheimnisvoller, prophetischer und poetischer Roman.
Thomas Waller, verheiratet mit Mathilde, arbeitet bei der Perduta-Versicherung, eben umgezogen ins Limbus-Haus, einen gläsernen Palast, minothaurisch verwinkelt. Limbus, im Volksmund auch „Vorhalle“, Sitz einer Versicherungsgesellschaft, die Rationalisierung und Effizienz zur obersten Maxime macht und hinter Hochglanzfassaden seinen ArbeitnehmerInnen selbst dann ein Lächeln abringen will, wenn es rein gar nichts zu lachen gibt. Auch Thomas Waller hat nichts zu lachen. Die Enge am Arbeitsplatz schlingt sich immer heftig um ihn, schlägt auf seine Gesundheit, bis er abtaucht und verschwindet, nicht nur von seiner Arbeitsstelle, sondern auch aus seiner Ehe, die wie seine Arbeit zu einem Gefängnis wurde. Er verschwindet im Jura, im Wald, einem kleinen Dorf, in einem Hotel, das nicht wirklich offen für Gäste scheint, in einem kleinen Kosmos. Etwas, was er aus seinem alten Leben mitnimmt, ist seine Flöte, ein Instrument, dass in der Vergangenheit einst eine grosse Hoffnung in sich trug.
«Der Hass läuft ins Innere der Gesellschaft und frisst die Liebe aus ihr weg.»
Rudolf Bussmanns Geschichte ist in der Zeit nach der Tschernobyl-Katastrophe angesiedelt. Waller führt Tagebuch und jene, die sich nach seinem gänzlichen Verschwinden auf die Suche nach Waller machen, finden diese Bücher. Auch die Polizei, die einen Suizid nicht ausschliesst, aber trotz Nachforschungen keine Beweise offen legen kann, beschäftigt sich mit Wallers Verschwinden. Die Tagebücher zeigen einen sensiblen Mann, der sich durch Tschernobyl, zunehmende Umweltsorgen, den Kämpfen am Arbeitsplatz und den Verlust seiner Liebe zu seiner Frau immer mehr in eine Zwischenwelt verliert. Heute würde man bei Waller wohl von einem Burnout sprechen, damals, in den 80er, schien es ein solches nicht zu geben.
Das minotaurische Labyrinth im Limbus-Haus an seinem Arbeitsplatz spiegelt sich auch im Leben des Protagonisten. Waller findet nicht heraus. Und wenn, dann nur durch die bedingungslose Flucht. Einfaches Leben scheint nicht mehr möglich. Das Leben hat sich zu einer Vorhalle verwandelt. Eine Ansicht, die angesichts dessen, was momentan auf unserem immer kleiner werdenden Planeten an Aktualität nur gewonnen hat. Aber es ist nicht so sehr das Labyrinthische in Wallers Leben, das an „Der Flötenspieler“ interessiert und fasziniert. Es ist das Labyrinthische an der Geschichte selbst. Der Roman selbst ist ein Labyrinth, das mich als Leser immer und immer wieder zu einem Innehalten zwingt. Faszinierend, wie Geschichte und Sprache schillern und oszillieren. Rudolf Bussmanns Roman ist von kafkaesker Kraft, überzeugt mit Bildern, die ausmachen, was Menschsein bedeutet; Geheimnisse.
«Um lieben zu können, muss man eine Zukunft vor sich haben.»
Waller flieht nicht nur vor seinen Aufgaben, er flieht auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!
Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: «Das andere Du» Roman (2017), «Ungerufen» Gedichte (2019), «Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land» (2021). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.
Eine Frau verlässt ihren Alltag, tritt für einen Weile aus. In eine Hütte ganz hinten im Tal, in den Hang hineingebaut, geschützt vor dem, was vom Berg kommen kann. Ein paar Bücher, Stifte, Papier und das Nötigste, um für eine bestimmte Zeit von sämtlichen Verpflichtungen losgelöst zu sein. Sie geht weg und kommt sich dabei ganz nah!
Lisa Elsässer erzählt unaufgeregt. Und doch! Was auf den ersten Seiten fast meditativ mit aller Stille und reduziert offenbart wird, macht deutlich, dass unter dem ruhigen Erzählfluss weitere Ebenen mitwirken, die sich erst mit fortschreitender Lektüre entschlüsseln, die aber niemals einfach dazu dienen, eine Geschichte bloss zu dramatisieren. So wie die Frau in dieser Hütte auf das wenige, das da ist und was sie aus ihrem Leben mitgenommen hat, reduziert ist; eine einfache, unverrückbare Einrichtung, ein Holzherd, ein Fenster, eine Türe, drei Bücher auf dem Tisch, Papier und Stifte, so reduziert ist das Geschehen, in das die Frau abgetaucht oder aufgetaucht ist. Sie will für ein paar Tage ihre Ruhe, will Ordnung bringen, will Atem schöpfen. Etwas, was viele wollen, die meisten nötig hätten in der Hektik des Alltags. Etwas, was mit all den kleinen Gadgets, die man sich zur Erleichterung angeschafft hat, immer schwerer wird. Heute braucht es Mut, wirklich alles zurückzulassen, um sich der Ruhe und sich selbst auszusetzen. So wie die Frau in dieser Hütte, in der sie vor Jahren schon einmal war, an einem Ort, von dem sie weiss, dass er geben wird, wenn sie bereit ist.
„Niemand stellte hier Ansprüche an sie. Es gab nichts zu verlieren, nichts zu gewinnen.“
Lisa Elsässer «Im Tal», edition bücherlese, 2022, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-56-7
Sie macht kleine und grosse Spaziergänge, die kleinen manchmal blossfüssig, grössere mit Wanderschuhen, sitzt vor dem Haus oder im Schein der Petroleumlampe am Tisch. Sie liest und schreibt, schreibt Briefe, die sie nicht abschickt, Briefe, die ihre Gedanken, ihr Leben ordnen. Und manchmal bekommt sie Besuch vom Bauern, von dem sie den Schlüssel zur Hütte hat. Man macht einen Schwatz, redet nicht viel, schweift nebeneinander mit dem Blick über die Berge. Bis der Bauer sie zu einer Wanderung zu „seinem“ See einlädt, ein bisschen weiter oben, mitten im Wald. Dort bricht es aus ihm heraus, denn es ist der Ort, an dem er sein Kind begrub, jene Zäsur in seinem Leben, die ihm die Familie und die Frau nahm.
In die Stille des Tals bricht ein Leben, das fast alles verlor; ein Kind, eine Familie, eine Liebe, eine Frau und den Glauben an sich selbst. Aber der Bauer schaffte es, sich wieder aufzurappeln, nur ganz leise für sich. So wie die Frau in der Hütte in ihr Leben ganz still jene Ordnung zurückbringen will, die es braucht, um sich über das eigene Selbst im Klaren zu sein.
„Sie wollte erfahren, was die Stille mit ihr anstellte.“
In Rückblenden erzählt Lisa Elsässer ganz behutsam, nur wenig vom Leben, dass die Frau in der Hütte im Tal zurückliess; von den Männern ihres Lebens, von ihrer Arbeit, auch von ihrem Schreiben und nicht zuletzt von einer Fremden, die sie über die letzten Monate und Jahre kennengelernt hatte, die sie manchmal bediente, wenn sie in einer Café-Bar aushalf. Eine Frau, die ihr irgendwann erzählte von einem Leben, aus dem sie geflohen war und noch immer flieht.
„Du bist auch eine Narbe geworden.“
Lisa Elsässer wäre nicht Lisa Elsässer, wäre sie den Verlockungen einer expressiven Dramatisierung erlegen. Lisa Elsässer ist nicht nur eine begnadete Erzählerin, sondern auch eine preisgekrönte Lyrikerin. Vielleicht ist das der Grund, warum alles an diesem Roman reduziert und eingedampft ist. Alles ist glasklar, wenn auch nicht durchsichtig, so wie Leben nie durchsichtig ist. Wieder so ein Buch, das man nach der Lektüre noch einmal durchblättert, hier und dort hängen bleibt, um noch einmal zu geniessen.
Buchtrailer
Interview
Ist das ein Schlüssel beim Schreiben? Wenn man den Lesenden das Gefühl geben kann „Ich lese auch von mir“? Und es trotzdem vermeidet, jenes Anbiedernde, Dienliche aufkommen zu lassen? Nein, das ist für mich nicht der Schlüssel, weil jede Vorstellung beim Schreiben an die Vorstellungen der Leserin, des Lesers mich der Präzision, der Genauigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Literarizität berauben würde, und der grosse Einsamkeitsakt des Schreibens ein Vorstellungsakt über das Empfinden eines Gegenübers werden würde!
Du bist Erzählerin und Lyrikerin. Lyrik schliesst das Erzählende nicht aus und das Erzählende kann lyrische Melodien annehmen. Vielleicht ist es genau diese durchlässige, verwischte Grenze zwischen Lyrik und Prosa, die dein Schreiben, deinen Roman „Im Tal“ so beeindruckend macht; das Reduzierte, das Konzentrat. Ist es nicht eigenartig, dass man unter „Opus magnum“ zu schnell bloss an Wälzer denkt? Dein Roman ist vielleicht eine solches „Opus magnum“, so wie jenes Buch, dss deine Protagonistin mit ins Tal genommen hat, „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Mein Schreiben war immer geprägt von Verdichtung und Reduktion! Sie lassen dem Leser den Spielraum, das entstandene (innere) Bild zu verfertigen, das nicht zwingend dem des Schreibenden entsprechen muss!
„Im Tal“ ist vieles: Die Selbstreflexion einer Frau, ein Versuch der Ordnung, ein Begegnung mit Stille und Natur, die Geschichte einer zarten Freundschaft, aber auch eine Geschichte darüber, dass Selbstliebe der Schlüssel zu aller Liebe ist. Warum machen wir es uns so schwer, uns selbst zu lieben? Selbstliebe: eine hoch philosophische Frage, die, so meine ich, nur jede/r sich selbst ehrlich und reflektiert beantworten kann!
Stille und Einsamkeit zu ertragen wird immer schwieriger. Beides kann zu einer Last werden, mit viel Angst verbunden sein. Warum müllen wir uns zu? Warum halten wir Stille und Einsamkeit nicht mehr aus? Einsamkeit, sich selber nahe zu kommen, erfordert den bedingungslosen Entschluss, das auszuhalten, was die Stille laut und heftig werden lassen kann, was ansonsten leider das „Brimborium“ zu erledigen, zu entkräften weiss!
Irgendwie ist „Im Tal“ auch eine Liebesgeschichte, denn die Frau im Tal in der Hütte ordnet ihr Herz. Sie begegnet Menschen, die an der Liebe fast zerbrachen. Sie liebt das Unmittelbare, das Einfache, Ehrliche, das, wonach sich doch eigentlich alle sehnen. Was in der Gegenwart passiert, ist weit weg von dem. Ist die Überzeugung, dass jede Form von Literatur Friedensarbeit ist, eine romantische Verklärung? Einen Friedensauftrag sehe ich in meinem Schreiben nicht, vielmehr halte ich mich an das Zitat von Joan Didion: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“! Das erfüllt nicht immer den Begriff der Nostalgie, kommt aber dem Leben, das nun mal seine Brüche hat, viel näher als jede Verklärung!
Lisa Elsässer, geboren 1951 im Kanton Uri, schreibt Lyrik und Prosa. Von 2005 bis 2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung 2018. Zuletzt erschien bei Wolfbach der Gedichtband «Schnee Relief» (2019).
Die Welt besteht aus vielen Welten. Manchmal sind diese Welten nur durch hauchdünne Membranen voneinander getrennt. Welten, die sich in allem unterscheiden; in ihren Wahrheiten, ihrem Licht, den Trennungen zwischen Gut und Böse. „Der Mann im Untergrund“ von Richard Wright, in den 40er Jahren entstanden und bisher nur in gekürzter Form als Erzählung erschienen, ist erstmals als Roman in Deutsch zu lesen. Eine Offenbarung!
Stellen Sie sich vor: Sie sind von der Arbeit zu Fuss auf dem Weg nach Hause. Nicht weit. Den Wochenlohn in Scheinen in der Tasche werden sie von zwei Polizisten angehalten. Das Scheinwerferlicht des Polizeiautos blendet sie. Man gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, ins Auto einsteigen zu müssen. Obwohl sie eindringlich zu erklären versuchen, dass es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln muss, nimmt man sie mit, wird schon im Auto nicht nur verbal grob und unverschämt. Und nachdem man ihnen mit der Frage nach dem Geld ganz beiläufig sagt, ob sie es genommen, gestohlen hätten, nachdem sie getötet hatten, bricht die Welt weg.
Richard Wright «Der Mann im Untergrund», Kein & Aber, Original: «The Man Who Lived Underground», aus dem Englischen (USA) von Werner Löcher-Lawrence, 2022, 240 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-0369-5873-6
Fred Daniels wird des zweifachen Mordes beschuldigt, in Handschellen gefesselt in einen Verhörraum gesperrt, gefoltert und misshandelt, bis man ihm seine schlaffe Hand nimmt und einen Wisch unterschreiben lässt, den die Polizisten Geständnis nennen. Um die Folter noch zu verfeinern, führt man ihn nach Hause zu seiner hochschwangeren Frau, die mit dem misshandelten Mann vor Augen ihr Kind zu gebären beginnt. Man fährt ins Spital. Fred sitzt einen Moment unbeobachtet im Flur, nur durch eine Mauer von seiner Frau entfernt und setzt sich ab, schlüpft durch Türen und auf der regennassen Strasse durch einen Gully in die Kanalisation. Weg von der Oberfläche in den Untergrund. Ins Dunkle, Schlammige, Stinkende.
Was Richard Wright dann schildert, ist die Odyssee durch eine Gegenwelt, ganz nah an der realen Welt vorbei, nur durch Mauern getrennt. Fred hört Stimmen singen, einen Gottesdienst. Fred ist gottesfürchtig. Er schlüpft durch Löcher, bricht durch Mauern, wird in seiner Ausweglosigkeit, seiner Hoffnungslosigkeit zum Dieb, zum Verbrecher, hungrig nicht nur nach Essen, hungrig zu überleben, hungrig nach der Welt, die in ausgespuckt hatte. Mit gefundenen Werkzeugen bricht er sich gar in den Kellerraum eines Geldinstituts, klaut ganze Bündel mit Scheinen, steigt in die Werkstatt eines Juweliers, nimmt Goldschmuck mit, Diamanten.
Irgendwann hockt er in einer Mischung aus Wahn, Verzweiflung und Euphorie in seinem Loch und tapeziert die Backsteinwände mit Geldscheinen, stampft Diamanten in den Dreck, hängt goldenes Gehänge an Nägel. Ein Rausch des Sinnlosen, von einem Mann im Sinnlosen.
Richard Wrights düsterer Roman erzählt die Geschichte von unrettbarer Verdammnis. Fred ist schwarz, nicht nur seine Hautfarbe. Alles an ihm wird schwarz, auch seine Seele. Und in der Erkenntnis des unendlichen Verlorenseins steigt Fred aus der Unterwelt, geht durch das Licht an der Oberfläche zurück an den Ort, an dem ihn die drei weissen Polizisten geständnisreif schlugen. „Der Mann im Untergrund“ ist eine einzige Metapher für die grenzenlose Missachtung aller Menschenwürde. Man stösst Fred in eine Existenz, die eigentlich diametral von seiner bisherigen Wirklichkeit entfernt ist. Man macht ihn zum Mörder, zum Verbrecher, ohne Zukunft, ohne Chance, beraubt ihn seiner Würde, seines aufrechten Gangs.
„Der Mann im Untergrund“ liest sich auch als blosse Geschichte atemlos. Der Roman ist die Geschichte der Rechtlosen überall, die Geschichte der institutionalisierten Willkür, in die die Gegenwart zu versinken droht. Wer diesen Roman liest, sieht grenzenloser Verzweiflung ins Gesicht. Jener Verzweiflung, die all jenen ins Gesicht gedrückt wird, denen das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden genommen wird!
Was für ein Buch!
Richard Wright wurde 1908 auf einer Plantage bei Natchez, Mississippi, geboren. Mit neunzehn Jahren verliess er den Süden und ging nach Chicago, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Strassenfeger, Tellerwäscher und Postangestellter verdiente. Er schrieb zunächst vor allem Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, bekannt wurde er mit seinem Roman «Native Son», der mehrfach verfilmt und 1941 als Bühnenversion am Broadway unter der Regie von Orson Welles aufgeführt wurde. Bis heute gilt Richard Wright als einer der bedeutendsten afro-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er starb 1960 in Paris.
Werner Löcher-Lawrence studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, danach Lehre und Forschung am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten lange Jahre in verschiedenen Verlagen, als Lektor und Programmleiter, bei Bertelsmann, Hoffmann und Campe und der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbstständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer.
Sommer 2012. London kocht in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen. Ein volles Stadion. Tausende von Menschen jubeln und erwarten. Abel sitzt auch unter diesen Menschen, mit einem Rucksack zwischen den Füssen, den er an den Kontrollen am Eingang vorbeischmuggeln konnte. Im Rucksack ist eine Bombe.
Abel heisst in Philippe Rahmys Roman wohl nicht zufällig Abel. In der Geschichte im Alten Testament bringt der Ackerbauer Kain seinen Bruder und Schafhirt Abel um, weil sein Opfer bei Gott nicht die gleiche Beachtung fand wie jenes seines Bruders. Auch im Roman „Allegra“ scheint das Leben des einen nicht den gleichen Wert zu haben wie all die andern, die sich in der Finanzwelt der Millionenmetropole London nach der Decke strecken.
Abel war nach seinem Studium ein vielversprechender Trader, ein Börsenhändler, der mit Hilfe spezieller Algorithmen Kapital zu vermehren versucht, gefördert und betreut von seinem Mentor Firouz. Sonst in seinem Leben ein Einzelgänger lernt er die hübsche Lizzie kennen, verliebt sich, nicht nur in sie, sondern auch in seinen Erfolg, ins Geld. Lizzie wird schwanger und alles im Leben Abels scheint jene Wendung zu nehmen, die Erfolg in der undurchsichtigen Finanzwelt als Lohn von Instinkt und Cleverness erscheinen lässt.
Aber Abel hat nicht erst seit seinen Erfolgen im grossen Business ein Problem mit Alkohol. Als Lizzie nach einer schwierigen Schwangerschaft ein Mädchen zur Welt bringt und sich das planbare Glück nicht wie Zahlenfolgen programmieren lässt, schlaflose Nächte zur Regelmässigkeit werden, Lizzie sich in Depressionen verkriecht, wirkt sich das auch auf den bisher so sicheren Tritt in Abels Berufsleben aus. Unkonzentriertheiten mehren sich, Warnungen werden überhört, Verluste stellen sich ein, das Vertrauen jener, die mit Erfolgen rechnen und immer deutlichere Verluste einstecken müssen, schwindet, zerfällt, bis Abel von Firouz entlassen wird.
Philippe Rahmy «Allegra», aus dem Französischen übersetzt von Yves Raeber, die brotsuppe, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-059-9
Aber wenn eine Lawine zu rutschen beginnt, reisst sie alles mit. Irgendwann, die Wohnung der jungen Familie wird immer mehr zu einem Ort des Desasters, wird die kleine Allegra krank. Als das Fieber immer dramatischer wird, schickt Lizzie Abel nachts auf die Strasse, um Medikamente, Hilfe zu holen. Aber Abel strandet, verliert sich im Suff. Und als er dann wirklich nach Hause kommt, hat sich die Katastrophe schon eingestellt, zuerst unsichtbar, um dann aber wie ein alles zerstörendes Gewitter über den aus dem Rausch auftauchenden Abel einzubrechen.
Abel verliert alles. Seinen Beruf, seine Familie, sein Zuhause. Er strandet in einer verkommenen Absteige mit dem bisschen, dass er tragen konnte, seinem Computer, seinem Auto. Abel rutscht ab, immer weiter, in einen Sog, der ihn immer tiefer in Wahn, Ängste und Drogen hinunterzieht. Philippe Rahmy protokolliert nicht einfach den Niedergang eines Aufsteigers. Genauso wenig geht es ihm um einen Erklärungsversuch für all jene, die sich in ihrer Verzweiflung an der Gesellschaft zu rächen versuchen. Abel kämpft um sein Glück. Letztlich will er nichts anderes als das Glück für sich, seine Frau und seine Tochter Allegra. Aber so wenig er sich von seinem Laster, seinen handlichen Jägermeiser-Ampullen, die er mit sich herumträgt, trennen könnte, so wenig ist er mit seinem Bewusstsein dort, wo er sein sollte. Philippe Rahmy schreibt über den Kampf eines Mannes in seinem Käfig, beschreibt diesen Kampf in beklemmender Sprache, mit Bildern, die an den Film «Trainspotting» erinnern, jene Welt hinter den glänzenden Kulissen. Philippe Rahmy bebildert die Macht der Verzweiflung.
Aus der Jury zum Schweizer Literaturpreis 2017: Allegra von Philippe Rahmy ist ein frenetisches Werk, in dem die Gewalttaten unserer Zeit vor der Kulisse eines düsteren und harten Londons aufeinandertreffen. Hochfinanz, Macht, soziale Unsicherheit, verhinderte Identitäten, Radikalitäten, Terrorismus, Liebe, Trauer und Wahn. Die Hauptfigur Abel durchlebt diese Welten wie Zerreissproben. Das romanhafte Spiel gleicht einem vermeintlich ausweglosen Labyrinth und die intensiven, ungebändigten und ausdrucksstarken literarischen Bilder brennen sich dauerhaft ins Gedächtnis der Lesenden ein.
Philippe Rahmy ist 1965 in Genf geboren. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater Franzose und Ägypter. Beeinträchtigt durch die Glasknochenkrankheit wurde das Schreiben zu seinem wichtigen Rückgrat. 2005 veröffentlichte er einen ersten Gedichtband. Nach dem Reiseroman «Béton armé» (2013) wandte er sich mit «Allegra» (2016) zum ersten Mal der Form des Romans zu. 2017 – im Jahr, als er starb – erschien «Monarques» und gerade erst sein letzter Roman «Pardon pour l’Amérique». Alle drei Romane wurden im Verlag La Table Ronde veröffentlicht.
Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.
Felix Schmidt erzählt in „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ aus einer südbadischen Kleinstadt am Rhein. Ein Vater kehrt schon im ersten Kriegsjahr verwundet an Körper, Geist und Seele zurück nach Hause. Aus seiner tiefen Abneigung gegen das NS-Regime macht dieser keinen Hehl, zuhause nicht, auch in der Wirtsstube nicht. Eine Frage der Zeit bis es zur Konfrontation ohne Ausweg kommen wird!
Als im Mai 1945 in Deutschland der Weltkrieg für beendet erklärt wurde, liess sich die Gesinnung eines Kollektivs nicht mit einem Mal von einem Zustand in einen völlig anderen kippen. Wer während mehr als einem Jahrzehnt an ein Tausendjähriges Reich, an die Vorherrschaft einer arischen Rasse und die moralische Verpflichtung glaubte, alles Minderwertige vernichten zu müssen, der konnte sich nicht einfach umpolen, auch wenn Fahnen und Uniformen hastig verbrannt und anstelle der Führerbilder in Wohnungen und Amtsstuben wieder Kreuze aufgehängt wurden. Wie hätte das möglich sein können, eine zur trotzigen Überzeugung gewordene Gesinnung von einem Tag auf den anderen zu löschen, wo man sich doch selbst in den letzten Monaten des Krieges mit weltfremden Durchhalteparolen und dem Glauben an die alles entscheidende Wunderwaffe am erlösenden Endsieg festhielt? Wie hätten es die Siegermächte fertig bringen sollen, in den zerbombten Städten eine zivile Verwaltung einzurichten, wenn man nicht auf jene Kräfte zurückgreifen konnte, die sich unter der Hakenkreuzfahne zu profilieren wussten? Zwar kam es nach dem Ende des Krieges in Nürnberg zu Kriegsverbrecherprozessen. Grosse Namen wie Göring, Hess oder von Ribbentrop wurden hingerichtet oder zu jahrzehntelangen Strafen verurteilt, wenn sie sich nicht feige durch einen Selbstmord der Verantwortung entzogen. Aber viele jener, die sich in den Zeiten des Nationalsozialismus in Städten, Kommunen, in Lagern oder Sonderkommandos schuldig machten, tauchten unter, flohen ins Ausland oder machten in der Nachkriegszeit munter anderorts Karriere.
Fels Schmidt «Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte», Osburg, 2022, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-95510-275-3
Felix Schmidt erzählt in seinem Roman „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ aus dem Leben einer ganzen Generation. Mit Jahrgang 33 war Felix Schmidt 12, als die Kapitulation ausgerufen wurde. Felix Schmidt schreibt aus der Perspektive einer Generation, die mehr und mehr wegstirbt. Die Täter von damals sind fast alle tot. Die Opfer von damals erreichen biblisches Alter. Sicher, die Opfer von damals waren Juden, Jenische, Eingeschränkte, Andersdenkende. Aber das Opfer von damals war auch eine Gesellschaft in Geiselhaft, all jene, die sich gegen völkisches Gehabe, gegen Diktatur und Willkür wenn nicht wehrten, dann zumindest leise aufbegehrten. Felix Schmidt erzählt eine solche Vatergeschichte. Keine Heldengeschichte, denn letztlich ist sein Vater nach dem Krieg an den Langzeitfolgen seines Widerstands gestorben. Aber mit seinem Roman erzählt Felix Schmidt die Geschichte jener Kinder, die während des Krieges gross wurden, die mit Faszination den Aufmärschen mit Uniformen, Liedern und strammer Marschmusik folgten, die sich einwickeln und umgarnen liessen und wie der Protagonist im Roman zuhause zwischen die Fronten gerieten; zwischen Führerverehrung und Tischgebet, zwischen Stolz und Mitgefühl, zwischen völkische Gemeinschaft und trotzige Menschlichkeit.
„Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist weder Heldengeschichte noch Erklärungsversuch. Genau das macht dieses Buch lesenswert. Felix Schmidt versucht noch immer zu verstehen. Nicht zuletzt seinen Vater, der sich sein Wort nie verbieten, der sich nicht einwickeln liess und nur durch Glück der gut organisierten Maschinerie des Tötens entkam. „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist die Geschichte eines Mannes, der einen hohen Preis zu zahlen hatte, dem niemand einen Orden verlieh, dem niemand dankte, schon gar nicht das Leben.
So wie wir es in der Gegenwart wieder erleben müssen, dass in Europa ein aggressiver Vernichtungkrieg geführt wird, so werden wir es auch wieder erleben müssen, dass Kriegsgewinnler Kapital aus dem Verderben anderer schlagen werden, dass niemals alle zur Verantwortung gezogen werden können, dass sich die einen geschickt einer solchen entziehen werden und all jene, die mit dem Leben, mit ihrer Existenz, mit einem lebenslangen Trauma zu bezahlen haben, letztlich alleine gelassen werden.
„Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist ein wichtiges Zeitdokument und schlägt Brücken in die Gegenwart.
Felix Schmidt, geboren 1934, gehört zu den einflussreichsten Journalisten Deutschlands . Als Ressortleiter Kultur des Spiegel, als Chefredakteur der Welt am Sonntag und des Stern sowie als Programmdirektor des Südwestfunks prägte er das publizistische Leben seit den 1970er-Jahren in Deutschland mit. Er war unter anderem Produzent der ersten deutschen politischen Talksendung Talk im Turm und hat die ZDF-Sendung Das Philosophische Quartett ins Leben gerufen. Für sein Buch über die Geschichte des französischen Chansons ist er mit dem französischen Kulturorden Chevalier des Arts et des Lettres ausgezeichnet worden.
Zwei Männer treffen sich nach Jahren wieder. Sam als Patient mit einer Rückenverletzung vor seiner Operation. Florian als sein Anästhesist. Die Operation ist „erfolgreich“, auch wenn Sam keine Zukunft als Gehender haben wird. Sam und Florian umkreisen sich, bis sich ihr Gravitationsfeld wieder zu jenem Doppelplaneten macht, der sie einmal waren.
Sie haben sich beide verloren, nicht nur gegenseitig, sondern jeder für sich. Sam galt einst als vielversprechender Künstler, Frauen lagen ihm zu Füssen. Nun liegt er im Krankenbett und hat keine Lust als Paraplegiker den Kampf gegen die Resignation aufzunehmen. Florian wurde Mediziner, auch wenn sein Beruf mehr Rüstung war als Tat gewordene Leidenschaft. Ein Beruf, in dem er seinen Schmerz über die Trennung von Yvonne verbergen konnte, der einzigen Frau, die ihm ein Stück Himmel geben konnte. Ein Beruf, der ihn einlullte und zudeckte, der ihm zusammen mit all den Instrumenten jene Sicherheit gab, die er sonst in seinem Leben nicht finden konnte. Sam will nicht mehr, trotz vielseitiger Bemühungen. Ein Leben durch Begrenzung eingeschränkt, will er sich nicht einmal vorstellen. Der fast zwei Meter grosse Hühne, der sich ein Leben lang durch Eigenwilligkeit von nichts zurückhalten liess, wird zu einem renitent verbitterten Koloss, dem der aufrechte Gang verwehrt bleibt. Ein in seinem Stolz gleich mehrfach geknickter Riese.
Martin R. Dean «Ein Stück Himmel», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5001-4
Florian versucht zu helfen, zuzureden, das, was Ärzte tun, wenn sie in ihren weissen Kitteln ans Bett eines Patienten treten. Aber Sam verweigert sich seinen Aufmunterungen und Florian schafft es nicht, seinem Freund, den er verloren glaubte, die Geschichten zu glauben, hinter denen Sam sein Leben erklärt. Durch die zwei Jahre, in denen sie nichts voneinander mitbekamen, ist nicht nur die Freundschaft verwundet, sondern jeder auf sich selbst zurückgeworfen, unfähig auf den andern zuzugehen. Florian ahnt, dass es nicht einfach ein Sturz von einem Apfelbaum sein konnte, weil man Sam vor einem Fussballstadion gefunden hatte. Und Sam weiss, dass hinter der weiss bemantelten Souveränität seines Gegenübers, seines einstigen Freundes, ein Trümmerhaufen steht, ein Leben, das nur schwer zusammengehalten werden kann.
Sam und Florian sind beide Verwundete, in ihren Beschränkungen Gefangene, Eingesperrte. Jeder wartet auf den Schritt des Anderen, auf das die Krusten aufbrechen und sich die morastige Vergangenheit offenbare. „Ein Stück Himmel“ ist jene Ehrlichkeit, die es brauchen würde, nicht nur das kleine Stück Himmel über dem Bett von Sam, in dem er Wolken sieht, die ungehindert weiterziehen. Sam und Florian sind zwei kalt gewordene Planeten, die so lange umeinander kreisen, bis die Kraft der Gravitation die Schichten aufbricht und endlich an die Oberfläche tritt, was sichtbar werden muss, um in neue Bahnen zu geraten.
Klar ist das Buch auch ein Roman über einen Mann, der den Kampf gegen seine Einschränkung zu einem für Einschränkung wandeln muss. Aber „Ein Stück Himmel“ ist alles andere als eine Geschichte des Kampfes. Eingeschränkt sind wir alle. „Ein Stück Himmel“ stellt Fragen: Lebt man das Leben, das man leben will? Sieht man sich agierend oder bloss reagierend? Wann schaffe ich es, dem schweren Mantel eines Opfers zu entsteigen? Martin R. Deans Roman ist Auseinandersetzung. Auch eine um Fragen des Schmerzes, des physischen und psychischen Schmerzes. Martin R. Dean scheut sich nicht, sprachlich und inhaltlich klare Schnitte zu ziehen, so wenig, wie er offene Wunden scheut. „Ein Stück Himmel“ ist eine Reise zweier Freunde, eine Reise in die Tiefen der Geschichten, eine Reise in eine unbekannte Zukunft. Und letztlich ist der Roman ein ernstes Spiel mit den Gegensätzen in jedem von uns. Ein Kampf zwischen einem nach Sicherheiten Ringendem und einem nach Freiheit Suchenden!
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln – über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.
Ein junger Mann verliert seinen Vater durch einen Unfall. Er zieht weg, verlässt das Land. Doch irgendwann stellen sich Fragen, die nicht länger aufgeschoben werden können und es beginnt eine Suche. Die Suche nach einem verlorenen Vater. Johannes Laubmeiers Debüt ist ein zärtlicher Roman eines Findenden.
In Österreich und Bayern stehen sie überall, die Marterl. In Österreich sagt man Bildstöckerl. Manchmal ein Stein gewordener Segen, manchmal Erinnerung und Ermahnung an ein Unglück. Johannes Laubmeier erzählt von einem solchen Unglück, auch wenn an selbiger Kreuzung kein Marterl steht. Damals kollidierten ein Motorrad und ein Auto. Der Mann auf dem Motorrad verletzte sich schwer und starb kurz danach im Spital an den Folgen des schweren Unfalls. Der Mann auf dem Motorrad war der Vater jenes Mannes, der in Johannes Laubmeiers Debüt seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Unglücks, das viel mehr zu einer Mater wurde, als dem Erzähler zu Beginn seiner Reise in die Vergangenheit bewusst war. Ein „autofiktionaler“ Roman in einem südbayrischen Ort, von einem Sohn, der nach dem Tod seines Vaters für ein Jahrzehnt nach England ausreiste und in seine alte Heimat zurückkehrt, weil er die Mutter in die Ferien geschickt und ihr versprochen hat, in der Zeit das Haus zu hüten. Das Haus der Familie, auch wenn der Vater nach der Scheidung ausgezogen war. Das Haus mit dem Zimmer seines Vaters, das in den Jahren nach seinem Tod zur Abstellkammer wurde. Das Haus mit dem Schopf im Garten, in den der Erzähler irgendwann seine Isomatte und seinen Schlafsack legt, weil er die Geister im Haus nicht mehr aushält. Und weil er sich im Liegengelassenen, dass sich im Schopf türmt, seinem Vater näher fühlt als in dem mit Sinnsprüchen vollgehängten Haus.
Dass man irgendwann seine Mutter oder seinen Vater an den Tod verliert, ist der Lauf der Dinge. Dass man jene Momente aber nicht so einfach schlucken, geschehen lassen kann, wird spätestens dann klar, wenn man selbst als Tochter oder Sohn die Eltern verliert. Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist die Art und Weise, wie Johannes Laubmeier erzählt, wie er den Dingen, den Bildern, den Menschen nachgeht und nachfühlt. Wie er ohne aufbauschende Dramaturgie jenen Ungewissheiten nachspürt, die ein ganzes Leben, ohne dass man sich dessen bewusst ist, im Griff halten, manchmal gar im Würgegriff. Johannes Laubmeier hat seinen Vater verloren. Einen Vater, der ihm ein guter Vater war, auch wenn es Umstände und Zustände gab, die zu kritisieren waren. Aber jener Vater im Roman „Das Marterl“ ist genau in jenen Jahren gestorben, als alles im jungen Leben des Sohnes, im Roman heisst er nur „der Junge“, nach Unabhängigkeit und Loslösung schrie. Das letzte Telefonat zwischen Vater und Sohn war eines voll Gehässigkeiten des Sohnes, Grobheiten, die masslos über Ursachen hinausschossen.
Johannes Laubmeier erzählt in zwei ineinander verschlungener Erzählspuren. Von den Erkundungen seines Protagonisten am Ort seiner Kindheit und Jugend, den archäologischen Abtragungen im Haus seiner Mutter, in den Stauräumen der Vergangenheit und von den Bildern aus einer entfernten Vergangenheit. Und in Bildern der Vergangenheit selbst, aus einem Dorf, in der er als Nichtfussballer nicht zur Elite gehört, von einem Vater, der sich lieber in der Werkstatt vergräbt und nur unwillig an all dem teilnimmt, was als Dorfleben zählt und von einer Mutter, die in seltsamer Distanz lebt, bis sie sich tatsächlich vom Vater trennt, der bis zu seinem Tod in einer winzigen Wohnung im gleichen Ort wohnen bleibt. Johannes Laubmeier erzählt eben nicht von einem Drama. Er folgt den Spuren eines Vaters, nicht in Mutmassungen. Der Autor und Erzähler will Ordnung, Klarheit, all den Konjunktiv aus der Gegenwart nehmen, den es zur wirklichen Freiheit braucht. „Das Marterl“ erzählt stellvertretend für all die Geschichten von Vätern und Müttern, die mit einem Mal nicht mehr sind, uns aber trotzdem begleiten, mit unter hartnäckig und bremsend.
Johannes Laubmeier ist ebensowenig wie der Erzähler in seinem Roman ein Geschädigter. Aber eben einer jener Sorte Mensch, die sich Fragen stellen und nach Antworten suchen! Und eines ist «Das Marterl» ganz gewiss; eine Liebeserklärung!
Wahrscheinlich fesselt dein Roman auch deshalb, weil du etwas beschreibst, was in unterschiedlichster Weise jede und jeder erlebt: der Verlust von Vater oder Mutter. Ich verlor meinen Vater vor 21 Jahren. Ein Herzinfarkt zuviel. Schon allein das Verb verlieren beschreibt, was passiert. Man verliert aber viel mehr als nur einen Menschen, die Eltern, die einem das Leben schenkten. Es ist Geschichte, die man verliert. Zukunft. Möglichkeiten. Es bleibt so viel Ungesagtes, Versäumtes, Vorgenommenes. Mit einem Mal bricht vieles weg. Da dein Roman sehr nahe an deiner eigenen Geschichte ist: Ist dir dein Vater beim Schreiben ein anderer geworden? Ein anderer nicht. Aber ich habe schon das Gefühl, dass ich viel von dem, was mir, als er noch am Leben war, unverständlich vorkam, jetzt besser verstehe. Und ich kann zwar nicht wissen, ob das, was ich zu verstehen glaube, wirklich stimmt. Aber das ist in Ordnung und das war es für mich auch vor dem Schreiben schon eine Zeit lang. Was ich aber weiss, und das ist der schönste Nebeneffekt: Ich erkenne, seit ich das Buch geschrieben habe, sehr viel von ihm in mir selbst.
Dass du vom Vater schreibst, ihm keinen Namen gibst, verstehe ich. Dass du dann doch nicht in der Ich-Form erzählst, der dritten Person, keinen Namen gibst und ihn nur „der Junge“ nennst – war das notwendig, um die nötige Erzähldistanz zu bekommen? Als ich für dasBuch zum ersten Mal seit Jahren für mehrere Wochen in meine Heimatstadt zurückfuhr, bemerkte ich, dass da eine Art Kluft existierte zwischen der Person, die zurückkam und der, die Jahre zuvor weggegangen war. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches, man wird ja kontinuierlich ein anderer, aber es war mehr als nur einfach eine Entfernung. Die Verbindung schien zu fehlen, es fühlte sich eher an wie eine Entkopplung. Und das hat mich interessiert: Dass Erinnerungen, die ja beweisbar die eigenen sind, sich anfühlen wie eine Geschichte, die einem jemand über jemanden erzählt. Seltsamerweise hatte ich dann beim Schreiben irgendwann das Gefühl, dass der Junge mir auf eine Weise näher ist als der Ich-Erzähler. Es ist ja nicht so, dass jemand, nur weil er «ich” sagt, eine geringe Distanz hat zu dem, was er erzählt – oder zu der Person, der er es erzählt. Im Gegenteil. Oft sind einem die Geschichten, die man – warum auch immer – nicht erzählt oder erzählen kann, näher, als die, die man erzählt. Und diese Geschichten, und wie sie es an die Oberfläche schaffen, das hat mich interessiert.
Der Erzähler lässt nach einem Umzug aus England Leo, seine Lebenspartnerin, für diese eine Reise in Berlin zurück, weil es eine Reise ist, die man alleine tun muss. Aber in seinem Gepäck sind die mehrbändigen Gedichte des us-amerikanischen Dichters Charles Olson, der mir erst durch die Lektüre deines Romans ins Bewusstsein trat. Ein Dichter, der in die Stadt Gloucester in Massachusetts zog und sich in jenen Ort in einem mehrbändigen Werk aus 600 Einzelgedichten hineinschrieb. Wie kam es zur Einbindung dieses Dichters? Charles Olson beschäftigt mich seit fast zehn Jahren, ich bin damals an der Uni auf ihn gestossen, habe eine Abschlussarbeit über ihn geschrieben. Wäre ich damals nicht nach Berlin gezogen, wär irgendwann wohl eine Doktorarbeit daraus geworden. Olson ist, da bin ich überzeugt, einer der wichtigsten amerikanischen Poeten des 20. Jahrhunderts, weil er an der Schwelle zur Postmoderne auftaucht und viele der Dichter, die nach ihm kamen und heute weitaus bekannter sind als er, stark beeinflusst hat. Und natürlich spielt die Erinnerung eine grosse Rolle in den Maximus Poems, aber dass er im Buch auftaucht, ist nicht wirklich Teil eines grossen Plans, den ich mir vor dem Schreiben zurechtgelegt hatte. Er war im Schreibprozess irgendwann einfach da, als jemand, der dem Erzähler diese Reise einfacher, vielleicht sogar erst möglich machte. Olson, der ja in jeder Hinsicht ein Riese war, ist für ihn so etwas wie ein Ratgeber, an den er sich wenden kann, in einer Situation, in der er das Gefühl hat, dass da niemand anderes mehr ist.
Obwohl man in A. bierselige Volksfeste in Lederhosen und Dirndl feiert, jeder alles über jeden zu wissen glaubt, jeder seine Rolle zu spielen hat, ist dein Roman keine Abrechnung, weder mit dem Kleinbürgertum noch mit Traditionen und zementierten Strukturen. Dein Roman ist eine Odyssee nach innen. Ist dieses Buch eine Befreiung? Eine Loslösung? Nein, das glaube ich nicht. Das würde ja implizieren, dass es einer Loslösung bedarf. Und genau das versucht der Erzähler zu Beginn des Romans, er will die Angelegenheiten klären, um dann die Verbindungen zu kappen – bis er realisiert, dass das nicht geht. Gleichzeitig ist es auch keine Geschichte einer Heimkehr im emotionalen Sinn, die ja ebenfalls unmöglich ist. Schliesslich existiert der Ort, von dem er wegging, so ja nicht mehr. Am Ende ist es, glaube ich, vielleicht einfach nur eine Beschreibung der Dinge. Und am Ende die Erkenntnis, dass es nicht darum geht, die Ambiguität gegenüber diesem Ort, aus dem er kommt, dessen Produkt er ja auch ist, aufzulösen, sondern darum, sie auszuhalten.
Seine eigene Geschichtsschreibung ist wie die „grosse“ Geschichtsschreibung keine, die sich an Fakten hält. Wir füllen unsere Erinnerung mit geschönten Bildern und gefilterten Tatsachen, auch jene unserer Kindheit. Hat dich deine Arbeit als Journalist anders sehen gelernt? Das kann ich nicht beantworten. Ich weiss ja nicht, wie ich sehen würde, wenn ich etwas anderes getan hätte. Aber ich weiss, dass ich das Buch nicht als Journalist geschrieben habe. Also war es vielleicht etwas anderes. Was genau, weiss ich nicht. Ist aber auch egal.
Hängen in deinem Schrank Lederhosen? Nein. Ich hab tatsächlich keine bekommen, als ich eine wollte. Und später war es mir dann nicht mehr wichtig.
Johannes Laubmeier, geboren 1987 in Regensburg, studierte Journalistik in Eichstätt, Kritische Theorie in Cardiff und Sozialanthropologie in Cambridge. Er schreibt Reportagen und Porträts, war Finalist bei den British Journalism Awards 2017 in der Kategorie «New Journalist of the Year». Johannes Laubmeier lebt und arbeitet als Autor und Reporter in Berlin.
In ihrem Debütroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» erfindet Noemi Somalvico einen Gott, der im Wohnzimmer eine Erde erschafft. Schwein und seine Freunde ringen dort mit tristen Alltäglichkeiten.
Gastbeitrag von Caterina John Caterina John studiert Deutsch und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Sie ist in verschiedenen Projekten zu kreativem Schreiben mit Jugendlichen involviert, besonders im SpokenWord-Bereich, und tritt selbst als Slam-Poetin auf.
In Schweins Wohnung ist es still, als hätte es geschneit. Ernüchternd beginnt die junge Schweizer Autorin ihren Roman, dessen Titel augenblicklich an eine Geschichte aus dem Hundert-Morgen-Wald denken lässt und wie eines der schönen Fernweh-getränkten Zitate Ferkels klingt. Somalvicos Roman ist keine Kindergeschichte, obwohl die Figuren darin fast ausschliesslich Tiere sind.
Und obwohl zu Beginn drollige Bilder von einem Schwein mit Lippenstift und Lidschatten, Dachs mit Hornbrille und Reh im Badeanzug entstehen, so werden sie schnell durch die sehr realen und ernsten Gedanken und Probleme der Figuren verdrängt, sodass ihre tierische Bezeichnung beinahe als Eigenname durchgehen kann: Schwein wurde von Biber verlassen und ist wieder allein, gewinnt im Radio eine Wüsten-Reise, Reh kann Schwein nicht begleiten, denn sein Job, die kranke Mutter und eine scheinbar romantische Beziehung mit Hirsch halten es zurück. In einer heruntergekommenen Baracke in derselben Stadt tüftelt Dachs in seiner Werkstatt und erfindet (per Zufall?) einen Apparat, der ihn «hin» und «zurück» -bringen kann. Und so trifft Dachs im «Hin» plötzlich auf Gott, der mit seinem Fahrrad gerade auswandern wollte.
Somalvico schreibt einen Roman, der lyrischer nicht sein könnte. Jeder Satz sitzt, klingt und hallt nach – trotz der absurden Bilder oder gerade deswegen. Tiere werden vermenschlicht, fahren Bus und lehnen Bettelnde peinlich berührt ab. Auch die Ortschaften, die im Roman genannt werden, kommen bekannt vor, doch wie die Tiermenschen stimmen auch sie mit unserer Realität nicht ganz überein: Schwein gewinnt eine Reise in die Halakari-Wüste, ginge jedoch lieber nach Las Gevas. Wortspiele und Witz bleiben trotz Poesie nicht aus oder entstehen gerade durch die tierische Zuschreibung. So erinnert sich Schwein an folgende Aussage Bibers: «Du bist zu nah am Wasser gebaut.»
Mit seinem Apparat ist Dachs in Gottes Welt geraten, in der Gott ein depressiver, trainerhosentragender Hipster oder Nerd ist, der in seinem Wohnzimmer die Erde erfunden hat und seine Tage mit erdsehen verbringt. Seine Schwester bemitleidet ihn, will ihn dauernd zum Joggen motivieren und belächelt sein Flair für Kreise, die in seinem System auffällig oft vorkommen. Dass nun seine Erfindung bei ihm auftaucht und ihn siezt, schmeichelt und irritiert ihn zugleich. Dachs und Gott freunden sich an. Beim zweiten Besuch bringt Dachs Schwein mit, das viele Fragen an Gott stellt. Die drei verbringen mehr und mehr Zeit zusammen, bis Gott den Wunsch äussert, die Erde zu besuchen – ein Versuch, der scheitert, denn wohl kann er nicht Zurück, wenn er nie Hin gegangen ist.
Also beschliessen die drei Freunde, ins Jenseits zu gehen, das sich zuerst als endlose Wüste offenbart – bis sie in ein All-Inclusive-Hotel gelangen und dort verweilen, Tanzkurse besuchen, den Bananen beim Wachsen zusehen und sich in der Sonne bräunen. Schwein verliebt sich, Gott sieht zum ersten Mal das Meer und Dachs ist besorgt, denn sein Apparat wurde auf der Reise beschädigt.
Es entfaltet sich eine Geschichte, die aus einem Fiebertraum oder Drogen-Trip zu kommen scheint. Absurd, wunderbar und erschreckend vertraut sind die Gefühle von Freundschaft und Verbundenheit, die per SMS-Kontakt bis hin zu Reh auf der Erde führen. In seinen kurzen Episoden erinnert der Roman an die 2020 erstmals ausgestrahlte Animationsserie von Pendelton Ward und Duncan Trussel «The Midnight Gospel». Ähnlich wie die Serie verrückt der Roman unser Bild der Erde, Schöpfungsvorstellungen und -geschichten und unsere Befremdung inmitten eines unendlichen Universums. Schwein, Dachs, Reh und Gott finden zueinander und zu sich selbst.
Noemi Somalvico ist ein Roman gelungen, bei dessen Ende eine Stille einkehrt, so als hätte es geschneit. Und diese Stille hallt noch lange nach.
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)
Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» ist Somalvicos Debütroman.