Johannes Laubmeier «Das Marterl», Tropen

Ein junger Mann verliert seinen Vater durch einen Unfall. Er zieht weg, verlässt das Land. Doch irgendwann stellen sich Fragen, die nicht länger aufgeschoben werden können und es beginnt eine Suche. Die Suche nach einem verlorenen Vater. Johannes Laubmeiers Debüt ist ein zärtlicher Roman eines Findenden.

In Österreich und Bayern stehen sie überall, die Marterl. In Österreich sagt man Bildstöckerl. Manchmal ein Stein gewordener Segen, manchmal Erinnerung und Ermahnung an ein Unglück. Johannes Laubmeier erzählt von einem solchen Unglück, auch wenn an selbiger Kreuzung kein Marterl steht. Damals kollidierten ein Motorrad und ein Auto. Der Mann auf dem Motorrad verletzte sich schwer und starb kurz danach im Spital an den Folgen des schweren Unfalls. Der Mann auf dem Motorrad war der Vater jenes Mannes, der in Johannes Laubmeiers Debüt seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Unglücks, das viel mehr zu einer Mater wurde, als dem Erzähler zu Beginn seiner Reise in die Vergangenheit bewusst war. Ein „autofiktionaler“ Roman in einem südbayrischen Ort, von einem Sohn, der nach dem Tod seines Vaters für ein Jahrzehnt nach England ausreiste und in seine alte Heimat zurückkehrt, weil er die Mutter in die Ferien geschickt und ihr versprochen hat, in der Zeit das Haus zu hüten. Das Haus der Familie, auch wenn der Vater nach der Scheidung ausgezogen war. Das Haus mit dem Zimmer seines Vaters, das in den Jahren nach seinem Tod zur Abstellkammer wurde. Das Haus mit dem Schopf im Garten, in den der Erzähler irgendwann seine Isomatte und seinen Schlafsack legt, weil er die Geister im Haus nicht mehr aushält. Und weil er sich im Liegengelassenen, dass sich im Schopf türmt, seinem Vater näher fühlt als in dem mit Sinnsprüchen vollgehängten Haus.

Dass man irgendwann seine Mutter oder seinen Vater an den Tod verliert, ist der Lauf der Dinge. Dass man jene Momente aber nicht so einfach schlucken, geschehen lassen kann, wird spätestens dann klar, wenn man selbst als Tochter oder Sohn die Eltern verliert. Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist die Art und Weise, wie Johannes Laubmeier erzählt, wie er den Dingen, den Bildern, den Menschen nachgeht und nachfühlt. Wie er ohne aufbauschende Dramaturgie jenen Ungewissheiten nachspürt, die ein ganzes Leben, ohne dass man sich dessen bewusst ist, im Griff halten, manchmal gar im Würgegriff. Johannes Laubmeier hat seinen Vater verloren. Einen Vater, der ihm ein guter Vater war, auch wenn es Umstände und Zustände gab, die zu kritisieren waren. Aber jener Vater im Roman „Das Marterl“ ist genau in jenen Jahren gestorben, als alles im jungen Leben des Sohnes, im Roman heisst er nur „der Junge“, nach Unabhängigkeit und Loslösung schrie. Das letzte Telefonat zwischen Vater und Sohn war eines voll Gehässigkeiten des Sohnes, Grobheiten, die masslos über Ursachen hinausschossen.

Johannes Laubmeier erzählt in zwei ineinander verschlungener Erzählspuren. Von den Erkundungen seines Protagonisten am Ort seiner Kindheit und Jugend, den archäologischen Abtragungen im Haus seiner Mutter, in den Stauräumen der Vergangenheit und von den Bildern aus einer entfernten Vergangenheit. Und in Bildern der Vergangenheit selbst, aus einem Dorf, in der er als Nichtfussballer nicht zur Elite gehört, von einem Vater, der sich lieber in der Werkstatt vergräbt und nur unwillig an all dem teilnimmt, was als Dorfleben zählt und von einer Mutter, die in seltsamer Distanz lebt, bis sie sich tatsächlich vom Vater trennt, der bis zu seinem Tod in einer winzigen Wohnung im gleichen Ort wohnen bleibt.
Johannes Laubmeier erzählt eben nicht von einem Drama. Er folgt den Spuren eines Vaters, nicht in Mutmassungen. Der Autor und Erzähler will Ordnung, Klarheit, all den Konjunktiv aus der Gegenwart nehmen, den es zur wirklichen Freiheit braucht. „Das Marterl“ erzählt stellvertretend für all die Geschichten von Vätern und Müttern, die mit einem Mal nicht mehr sind, uns aber trotzdem begleiten, mit unter hartnäckig und bremsend.

Johannes Laubmeier ist ebensowenig wie der Erzähler in seinem Roman ein Geschädigter. Aber eben einer jener Sorte Mensch, die sich Fragen stellen und nach Antworten suchen! 
Und eines ist «Das Marterl» ganz gewiss; eine Liebeserklärung!

© Johannes Laubmeier

Interview

Wahrscheinlich fesselt dein Roman auch deshalb, weil du etwas beschreibst, was in unterschiedlichster Weise jede und jeder erlebt: der Verlust von Vater oder Mutter. Ich verlor meinen Vater vor 21 Jahren. Ein Herzinfarkt zuviel. Schon allein das Verb verlieren beschreibt, was passiert. Man verliert aber viel mehr als nur einen Menschen, die Eltern, die einem das Leben schenkten. Es ist Geschichte, die man verliert. Zukunft. Möglichkeiten. Es bleibt so viel Ungesagtes, Versäumtes, Vorgenommenes. Mit einem Mal bricht vieles weg. Da dein Roman sehr nahe an deiner eigenen Geschichte ist: Ist dir dein Vater beim Schreiben ein anderer geworden?
Ein anderer nicht. Aber ich habe schon das Gefühl, dass ich viel von dem, was mir, als er noch am Leben war, unverständlich vorkam, jetzt besser verstehe. Und ich kann zwar nicht wissen, ob das, was ich zu verstehen glaube, wirklich stimmt. Aber das ist in Ordnung und das war es für mich auch vor dem Schreiben schon eine Zeit lang. Was ich aber weiss, und das ist der schönste Nebeneffekt: Ich erkenne, seit ich das Buch geschrieben habe, sehr viel von ihm in mir selbst.

Dass du vom Vater schreibst, ihm keinen Namen gibst, verstehe ich. Dass du dann doch nicht in der Ich-Form erzählst, der dritten Person, keinen Namen gibst und ihn nur „der Junge“ nennst – war das notwendig, um die nötige Erzähldistanz zu bekommen?
Als ich für das Buch zum ersten Mal seit Jahren für mehrere Wochen in meine Heimatstadt zurückfuhr, bemerkte ich, dass da eine Art Kluft existierte zwischen der Person, die zurückkam und der, die Jahre zuvor weggegangen war. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches, man wird ja kontinuierlich ein anderer, aber es war mehr als nur einfach eine Entfernung. Die Verbindung schien zu fehlen, es fühlte sich eher an wie eine Entkopplung. Und das hat mich interessiert: Dass Erinnerungen, die ja beweisbar die eigenen sind, sich anfühlen wie eine Geschichte, die einem jemand über jemanden erzählt.
Seltsamerweise hatte ich dann beim Schreiben irgendwann das Gefühl, dass der Junge mir auf eine Weise näher ist als der Ich-Erzähler. Es ist ja nicht so, dass jemand, nur weil er «ich” sagt, eine geringe Distanz hat zu dem, was er erzählt – oder zu der Person, der er es erzählt. Im Gegenteil. Oft sind einem die Geschichten, die man – warum auch immer – nicht erzählt oder erzählen kann, näher, als die, die man erzählt. Und diese Geschichten, und wie sie es an die Oberfläche schaffen, das hat mich interessiert.

© Johannes Laubmeier

Der Erzähler lässt nach einem Umzug aus England Leo, seine Lebenspartnerin, für diese eine Reise in Berlin zurück, weil es eine Reise ist, die man alleine tun muss. Aber in seinem Gepäck sind die mehrbändigen Gedichte des us-amerikanischen Dichters Charles Olson, der mir erst durch die Lektüre deines Romans ins Bewusstsein trat. Ein Dichter, der in die Stadt Gloucester in Massachusetts zog und sich in jenen Ort in einem mehrbändigen Werk aus 600 Einzelgedichten hineinschrieb. Wie kam es zur Einbindung dieses Dichters?
Charles Olson beschäftigt mich seit fast zehn Jahren, ich bin damals an der Uni auf ihn gestossen, habe eine Abschlussarbeit über ihn geschrieben. Wäre ich damals nicht nach Berlin gezogen, wär irgendwann wohl eine Doktorarbeit daraus geworden. Olson ist, da bin ich überzeugt, einer der wichtigsten amerikanischen Poeten des 20. Jahrhunderts, weil er an der Schwelle zur Postmoderne auftaucht und viele der Dichter, die nach ihm kamen und heute weitaus bekannter sind als er, stark beeinflusst hat. 
Und natürlich spielt die Erinnerung eine grosse Rolle in den Maximus Poems, aber dass er im Buch auftaucht, ist nicht wirklich Teil eines grossen Plans, den ich mir vor dem Schreiben zurechtgelegt hatte. Er war im Schreibprozess irgendwann einfach da, als jemand, der dem Erzähler diese Reise einfacher, vielleicht sogar erst möglich machte. Olson, der ja in jeder Hinsicht ein Riese war, ist für ihn so etwas wie ein Ratgeber, an den er sich wenden kann, in einer Situation, in der er das Gefühl hat, dass da niemand anderes mehr ist.

Obwohl man in A. bierselige Volksfeste in Lederhosen und Dirndl feiert, jeder alles über jeden zu wissen glaubt, jeder seine Rolle zu spielen hat, ist dein Roman keine Abrechnung, weder mit dem Kleinbürgertum noch mit Traditionen und zementierten Strukturen. Dein Roman ist eine Odyssee nach innen. Ist dieses Buch eine Befreiung? Eine Loslösung?
Nein, das glaube ich nicht. Das würde ja implizieren, dass es einer Loslösung bedarf. Und genau das versucht der Erzähler zu Beginn des Romans, er will die Angelegenheiten klären, um dann die Verbindungen zu kappen – bis er realisiert, dass das nicht geht. Gleichzeitig ist es auch keine Geschichte einer Heimkehr im emotionalen Sinn, die ja ebenfalls unmöglich ist. Schliesslich existiert der Ort, von dem er wegging, so ja nicht mehr. Am Ende ist es, glaube ich, vielleicht einfach nur eine Beschreibung der Dinge. Und am Ende die Erkenntnis, dass es nicht darum geht, die Ambiguität gegenüber diesem Ort, aus dem er kommt, dessen Produkt er ja auch ist, aufzulösen, sondern darum, sie auszuhalten.

© Johannes Laubmeier

Seine eigene Geschichtsschreibung ist wie die „grosse“ Geschichtsschreibung keine, die sich an Fakten hält. Wir füllen unsere Erinnerung mit geschönten Bildern und gefilterten Tatsachen, auch jene unserer Kindheit. Hat dich deine Arbeit als Journalist anders sehen gelernt?
Das kann ich nicht beantworten. Ich weiss ja nicht, wie ich sehen würde, wenn ich etwas anderes getan hätte. Aber ich weiss, dass ich das Buch nicht als Journalist geschrieben habe. Also war es vielleicht etwas anderes. Was genau, weiss ich nicht. Ist aber auch egal.

Hängen in deinem Schrank Lederhosen?
Nein. Ich hab tatsächlich keine bekommen, als ich eine wollte. Und später war es mir dann nicht mehr wichtig.

Johannes Laubmeier, geboren 1987 in Regensburg, studierte Journalistik in Eichstätt, Kritische Theorie in Cardiff und Sozialanthropologie in Cambridge. Er schreibt Reportagen und Porträts, war Finalist bei den British Journalism Awards 2017 in der Kategorie «New Journalist of the Year». Johannes Laubmeier lebt und arbeitet als Autor und Reporter in Berlin.

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