Wichtige Stimmen am 26. Internationalen Literaturfestival Leukerbad: Zum Beispiel Adania Shibli mit «Eine Nebensache»

Ein Literaturfestival soll zur Auseinandersetzung einladen. Das diesjährige Literaturfestival in Leukerbad tat es – zuweilen emotional. Aber ein Literaturfestival soll auch überraschen. Adania Shibli tat es mit ihrem Roman „Eine Nebensache“. Ein schmaler Roman mit viel Gewicht!

Sie hätte so viel falsch machen können. Tat sie aber nicht. Ganz im Gegenteil. Adania Shibli ist Palästinenserin und schreibt Arabisch. Ihr erster auf Deutsch erschienener Roman „Eine Nebensache“ erzählt von einer Gräueltat, die im Sommer 1949 von israelischen Soldaten an einem beduinischen Mädchen begangen wurde – einer Gruppenvergewaltigung, einem schrecklichen Mord an einer jungen Palästinenserin.
Es hätte eine späte Racheschrift werden können, eine blutige Anklage, ein Enthüllungsroman. Doch Adania Shiblis schmaler, hoch konzentrierter Roman ist ein Kunstwerk. Aber auch ein Fingerzeig, ein Mahnmahl. Erst recht heute, wo ein alles dominierender Krieg alle anderen Kriege und Konflikte zur Nebensache macht. Erst recht heute, wo die Folgen von Krieg und Gewalt, all die Opfer zur Nebensache werden, weil das Gefühl des Bedrohtseins, die Angst vor globalen Folgen jedes einzelne Schicksal zu einer Nebensache werden lässt. Erst recht, weil es nur ein Mädchen war, die an ihr begangene Gräueltat ein Zwischenfall. 

Als Folge der Staatsgründung Israels im Mai 1948 wurden über 700 000 PalästinenserInnen aus ihrer Heimat, aus Palästina vertrieben. Eine angebliche Rückeroberung für all die Siedler, die sich in der Kargheit jener Gebiete, in denen Palästinenser über Generationen als Beduinen lebten, ansiedelten und einen modernen Agrarstaat errichteten. Einem Gebiet, aus dem man ein Volk, das in den Augen ihrer Besatzer minderwertig erschien, verdrängte. Ausgerechnet von Menschen, die während einer Dekade Nationalsozialismus alle vorstellbaren Schrecken erleiden mussten.

Adania Shibli «Eine Nebensache», Berenberg, 2022, aus dem Arabischen von Günther Orth, 116 Seiten, CHF 29.50, ISBN 978-3-949203-21-3

Ein Gruppe Soldaten, die ein Gebiet in Negev zu sichern hat, tötet eine Gruppe Beduinen und verschleppt das einzige überlebende Mädchen. Man sperrt sie ein, reisst ihr die Kleider vom Leib, schruppt ihre Haare mit Benzin, schert sie, vergewaltigt sie der Reihe nach in einer Hütte, schleppt sie in die Wüste und tötet sie wie ein verletztes Tier.
Ein Vierteljahrhundert später macht sich eine junge Palästinenserin nach der Lektüre eines Zeitungsberichts auf die Suche nach Informationen. Eigentlich nur deshalb, weil sich das Vierteljahrhundert genau mit ihrem Geburtstag schneidet, dadurch eine Verbindung entsteht, der sich die Erzählende nicht mehr entziehen kann.

Was die bestechende Qualität dieses Romans ausmacht, ist weder das Thema noch das erzählte Verbrechen, ein Plot. Auch nicht die Suche nach den Spuren oder den Ursachen. Adania Shibli erzählt in zwei Perspektiven. Im ersten Teil rein beschreibend über den einen Soldaten, den Vorgesetzten jener Soldatengruppe. Im zweiten Teil vom Versuch der jungen Erzählerin durch all die territorialen Hindernisse an jene Orte zu gelangen, die ihr die Geschichte erzählen könnten. Im ersten Teil schlüpft die Erzählperspektive nicht einmal in die Innenwelt jenes Soldaten. Das macht aus dem Tun des Soldaten eine fast glatte Erzählfläche, die alles der Leserin/dem Leser übergibt. Selbst die Tat, das schreckliche Geschehen unter den Soldaten, der Mord ganz am Schluss – alles nur beschreibend erzählt, als wäre die Innenwelt Nebensache – was sie auch werden muss angesichts des Schreckens. Der zweite Teil, die Suche der jungen Frau Jahrzehnte später, beschreibt die Lebenswelt einer Palästinenserin, kaum nachvollziehbar für mich als Europäer. Ein in Sektoren eingeteiltes Land, durch Checkpoints und scharfe Kontrollen zerrissen. Eine Welt, die die Normalität zur Nebensache werden lässt.
Und in beiden Teilen des Romans spiegeln sich Bilder des jeweils andern Teils; Ängste, ein Hund, Spinnen, ein Mädchen.

Adania Shiblis Roman schleicht sich ins Unterbewusstsein, beschreibt die Seelenlosigkeit von Menschen in Uniformen, die Seelenlosigkeit eines Landes im permanenten Ausnahmezustand. Und nicht zuletzt stellt der Roman Fragen, wichtige Fragen!

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. «Eine Nebensache» ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, die englische Übersetzung war für den ­National Book Award (2020) sowie für den ­International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli lebt in Palästina und Deutschland.

Günther Orth, geboren 1963 in Ansbach, studierte in Erlangen Islamwissenschaft. Sprachstipendien führten ihn nach Ägypten und Syrien, es folgte ein Übersetzerabschluss Arabisch in Leipzig. In seiner Magisterarbeit und später in seiner Dissertation schrieb er zur modernen Erzählliteratur Syriens und des Jemen, wo er jeweils lebte. Er arbeitet heute in Berlin und weltweit als Übersetzer und Konferenzdolmetscher für Arabisch.

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso

Was aus einer Begegnung werden kann, beweist der Gedichtband „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“. Hussein Bin Hamza, syrischer Dichter und eine der bedeutendsten poetischen Stimmen seines Landes, traf an den Heidelberger Literaturtagen 2018 auf die Autorin, Veranstalterin und heutige Verlegerin Monika Lustig. Der Beweis dafür, dass Literaturtage und -festivals nicht einfach Ansammlungen von Veranstaltungen sind, sondern Orte schöpferischer Begegnungen, weit über Kulturen hinaus.

Hussein Bin Hamza lebt derzeit in Hannover im Exil, weit weg von seiner Heimat, in der Krieg, systematische Verfolgung und Terror noch immer Alltag sind. Auch wenn das Land, der Despot, Vertriebene und Gebliebene aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerutscht sind. Es sind Hunderttausende geflohen. Viele von ihnen mit Schlauchbooten übers Meer. Tausende von ihnen haben ihre Flucht mit dem Leben bezahlt. Alle bezahlen sie mit unauslöschlichen Erinnerungen, mit Gefühlen der Einsamkeit und der Sehnsucht nach einer Heimat, die in Trümmern liegt.

Im Gedicht Grenzöffnung beschreibt Hussein Bin Hamza genau das, und doch ganz anders als ich es erwartet hätte.

Grenzöffnung

Wären wir doch bloss im Asyl unserer Träume geblieben
Hätten uns vorgetastet, mit verbundenen Augen
als jagten wir verstreuten Sternen nach
klopften an unsichtbare Türen
Wären wir bloss in fernen Wäldern durch den Schlamm gerobbt
samt unserem Gepäck, randvoll mit Kleidung und Erinnerung
Hätten wir bloss nicht unsere Vergangenheit ins Meer geworfen
um die Schlepperboote zu erleichtern
Wären wir doch dichtgedrängt wie Sardinen in der Büchse
in Turnhallen und Klassenzimmern geblieben
die in den Sommerferien als Unterkünfte dienten
Hätten die Zeitungen und Nachrichtensendungen bloss keine Fotos von uns verbreitet
fiel doch ohnehin keinem auf, dass die Ertrunkenen
gar nicht mit auf dem Bild waren
Wären wir doch nie gezwungen gewesen, neue Sprachen in den Mund zu nehmen
die schmeckten wie Gerichte, die wir als Kinder nicht mochten
Hätten wir doch bloss nicht alles hinter uns gelassen
nur um eine neue Einsamkeit zu erdulden
Wären wir doch Flüchtlinge im eigenen Land
und nicht dort und nicht hier geblieben
hätten wir weiterhin den verstreuten Sternen nachgejagt, wie Blinde
und an unsichtbare Türen geklopft
Hätten die bleiernen Erinnerungen uns doch in die Tiefe gezogen
noch bevor wir das Ufer erreichten
Wären wir doch bloss hängengeblieben
zwischen dem, was wir zurückliessen
und jenen neuen Träumen, die wir unbeholfen verfolgten
Hätten sie doch nie die Grenzen für uns geöffnet!

ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود

ليتنا بقينا لاجئين داخل أحلامنا القديمة
نتقدّم بعيونٍ معصوبة
كما لو أننا نطاردُ نجوماً منثورة أمامنا
أو كأننا نطرق أبواباً غير مرئية
ليتنا لم نلوّث ثيابنا بوحل الغابات الأجنبية
ليتنا لم نجرجر حقائبنا المتورّمة بالثياب والذكريات
ليتنا لم نرْمِ ماضينا في البحر كي تخفّ حمولتنا في قوارب المُهرّبين
ليتنا بقينا مكدّسين كأسماك السردين 
في المعسكرات وصالات الرياضة ومدارس الصيف الفارغة
ليت الصحف ونشرات الأخبار لم تنشر صورنا 
التي لن ينتبه أحد أنها لا تضمُ من غرقوا منا
ليتنا لم نُجبر على مضغ لغاتٍ جديدة طعمُها يشبه الطبخات التي كرهناها في طفولاتنا
ليتنا لم نترك كل شيء خلفنا
واستدرنا لنواجه
معاً وعلى حِدة
عزلاتنا الجديدة والشاقة
ليتنا بقينا لاجئين لدى أنفسنا
 ليتنا بقينا لا هنا ولا هناك
نطارد كالعميان نجوماً منثورة أمامنا
أو نطرق أبواباً غير مرئية
ليت ذكرياتنا الثقيلة أغرقتنا قبل أن نصل إلى الشواطئ
ليتنا بقينا عالقين
بين ما تركناه
وما ركضنا خلفه كالعدّائين الهُواة
ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود.

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso, 2020, 98 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-9819763-6-6

Was sich in seinen Wiederholungen wie ein flehentliches Gebet liest, ist die Zusammenfassung all jenen Schreckens, durch das Elend von Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit nie zu tilgen ist. Hätten und Wären werden zu Peitschenhieben auf die eigene Haut und zeigen die Lähmung, nachdem man sich in existenzieller Bedrohung zwischen zwei Übeln entscheiden musste, im Wissen darum, dass man den anderen Weg immer als Vorwurf seiner selbst hören wird. Hussein Bin Hamzas Gedicht ist schonungslos, wütend und doch nur eine Anklage gegen sich selbst, das eigene Dilemma. Kein Rundumschlag, keine Anklage gegen die Welt, die zuschaut. Aber Hussein Bin Hamza nimmt mich mit, nimmt mich ganz nah an seinen Schmerz. Einen Schmerz, der mir unmöglich gleichgültig sein kann. Einen Schmerz, der sich durch seine Gedichte auffächern muss, damit er zurück in die Köpfe und Herzen der Verschonten kommt.

Ein anderes, immer wiederkehrendes Thema in den Gedichten ist die Einsamkeit. Das Getrenntsein von Heimat und nicht zuletzt von sich selbst.

Einsamkeit

Jeden Tag gehe ich
von zu Hause zur Arbeit
von der Arbeit wieder nach Hause
Ich bin ein alter Bus
der durch die grosse Stadt kurvt
doch Fahrgäste sitzen keine darin
nur meine Einsamkeit fährt er spazieren
vertreibt sich die Zeit mit ihr
von Haltestelle zu Haltestelle.

وحدة

كلّ يوم
من البيت إلى العمل
ومن العمل إلى البيت
أنا حافلةُ نقلٍ هرمة
في هذه المدينة الكبيرة
ولكنها خالية من الركاب
إنها فقط
تُنزّهُ وحدتي
وتلهو بها بين مكانينْ.

Einsamkeit ist zum dauernden Begleiter geworden. Eine Einsamkeit, die sich wie eine fremde Haut anfühlt, die einem distanziert von dem, was geblieben ist. Die Lakonie, mit der Hussein Bin Hamza darüber schreibt, offenbart die Tiefe der Zerrissenheit. Der Schalk darin die Weisheit des Dichters, sich von diesen Gefühlen nicht auffressen zu lassen. Hussein Bin Hamza lädt nicht ab, er zeigt mir Unabänderliches, dem er sich stellt, von dem er sich nicht schlucken lässt.

Ein anderes Themenfeld in „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“ sind die Gedichte über das Schreiben selbst.

Verlorene Gedichte

Viele Gedichte habe ich geschrieben
Auf die Rückseite von Strom- und Telefonrechnungen
auf Bank- und Schulgeldquittungen
auf Papierschnipsel, die mir in den Hosentaschen zerkrümelten
auf Tischkanten und auf Stühle
auf die freien Ränder von Zeitungen und Büchern
Auf Theater- und Kinokarten
Viele Gedichte habe ich geschrieben
Und sie hätten mich zu einem grossen Dichter gemacht
Wären sie nicht alle verlorengegangen
Alle ausser diesem hier.

قصائد ضائعة

كتبتُ قصائدَ كثيرة
على قفا فواتير الهاتف والكهرباء
على إيصالات البنك والأقساط المدرسية
على قصاصاتٍ احتفظتُ بها وتهرَّأت في جيوبي
على أطراف الطاولات والكراسي
على الهوامش الشاغرة في صفحات الجرائد والكتب
على تذاكر المسرح والسينما
كتبتُ قصائد كثيرة ربما كانت ستجعلُ مني شاعراً عظيماً
ولكنّي أضعتُها
هذه القصيدة
نَجَتْ.

Hussein Bin Hamza musste neu beginnen, vieles, fast alles zurücklassen. Hussein Bin Hamza hat eine lange Spur hinter sich gelassen, eine Spur, die sich verloren hat. Hussein Bin Hamza schreibt immer und von sich selbst, dass er in ein Haus geboren worden sei, „in dem das geschriebene Wort grösste Wertschätzung, fast heilige Verehrung erfuhr“. Aufgewachsen in einer Welt, in der das Buch schon immer ein Fluchtpunkt gewesen war und nun, nach der Flucht nach Deutschland der Beginn einer „neuen“ Existenz auf den Trümmern des Verlorenen.

Ich wünsche dem Dichter viele neue LeserInnen und Leser, denen er wie mir die Tür zu einer andern Welt öffnete. Einer Welt, die mitten unter uns Verschonten existiert.
Und ich wünsche dies auch der neu gegründeten Edition Converso, die sich mit ihrem Bestreben, den Kulturen rund ums Mittelmeer über die Nationen hinaus Gehör zu verschaffen und sich dabei viel vorgenommen hat.
(Die arabischen Gedichte sind auch im Buch den deutschen Übersetzungen von Günther Orth gegenübergestellt. Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diese veröffentlichen zu dürfen.)

Übersetzung des Gedichts im Titel:

Vergangenheit

Unsere schwere Vergangenheit
zieht uns unter Wasser, noch bevor wir die Küste erreicht haben
Wir Syrer.

© Hussein Bin Hamza

Hussein Bin Hamza wurde in einer kurdischen Familie im syrischen Al-Hasaka geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten poetischen Stimmen seiner Generation in der arabischen Welt. An der Aleppo University studierte er Wirtschaft. 1995 zog er nach Beirut und arbeitete als Redakteur und Kritiker für führende libanesische Zeitungen und veröffentlichte kritische Artikel über Lyrik, Prosa, Theater und Kunst. Er leitete den Verlag des Instituts für irakische Studien.

Günther Orth geboren 1963 in Ansbach, studierte Islamwissenschaft, Geografie und Soziologie in Erlangen. Er promovierte zur modernen Literatur des Jemen und war Dozent für Übersetzung und Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Universitäten. Er übersetzt Literatur aus dem Arabischen ins Deutsche und arbeitet als Konferenzdolmetscher. Orth lebt als Dozent, Dolmetscher und Übersetzer für Arabisch in Berlin.