Philippe Rahmy «Allegra», die brotsuppe

Sommer 2012. London kocht in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen. Ein volles Stadion. Tausende von Menschen jubeln und erwarten. Abel sitzt auch unter diesen Menschen, mit einem Rucksack zwischen den Füssen, den er an den Kontrollen am Eingang vorbeischmuggeln konnte. Im Rucksack ist eine Bombe.

Abel heisst in Philippe Rahmys Roman wohl nicht zufällig Abel. In der Geschichte im Alten Testament bringt der Ackerbauer Kain seinen Bruder und Schafhirt Abel um, weil sein Opfer bei Gott nicht die gleiche Beachtung fand wie jenes seines Bruders. Auch im Roman „Allegra“ scheint das Leben des einen nicht den gleichen Wert zu haben wie all die andern, die sich in der Finanzwelt der Millionenmetropole London nach der Decke strecken. 

Abel war nach seinem Studium ein vielversprechender Trader, ein Börsenhändler, der mit Hilfe spezieller Algorithmen Kapital zu vermehren versucht, gefördert und betreut von seinem Mentor Firouz. Sonst in seinem Leben ein Einzelgänger lernt er die hübsche Lizzie kennen, verliebt sich, nicht nur in sie, sondern auch in seinen Erfolg, ins Geld. Lizzie wird schwanger und alles im Leben Abels scheint jene Wendung zu nehmen, die Erfolg in der undurchsichtigen Finanzwelt als Lohn von Instinkt und Cleverness erscheinen lässt.

Aber Abel hat nicht erst seit seinen Erfolgen im grossen Business ein Problem mit Alkohol. Als Lizzie nach einer schwierigen Schwangerschaft ein Mädchen zur Welt bringt und sich das planbare Glück nicht wie Zahlenfolgen programmieren lässt, schlaflose Nächte zur Regelmässigkeit werden, Lizzie sich in Depressionen verkriecht, wirkt sich das auch auf den bisher so sicheren Tritt in Abels Berufsleben aus. Unkonzentriertheiten mehren sich, Warnungen werden überhört, Verluste stellen sich ein, das Vertrauen jener, die mit Erfolgen rechnen und immer deutlichere Verluste einstecken müssen, schwindet, zerfällt, bis Abel von Firouz entlassen wird.

Philippe Rahmy «Allegra», aus dem Französischen übersetzt von Yves Raeber, die brotsuppe, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-059-9

Aber wenn eine Lawine zu rutschen beginnt, reisst sie alles mit. Irgendwann, die Wohnung der jungen Familie wird immer mehr zu einem Ort des Desasters, wird die kleine Allegra krank. Als das Fieber immer dramatischer wird, schickt Lizzie Abel nachts auf die Strasse, um Medikamente, Hilfe zu holen. Aber Abel strandet, verliert sich im Suff. Und als er dann wirklich nach Hause kommt, hat sich die Katastrophe schon eingestellt, zuerst unsichtbar, um dann aber wie ein alles zerstörendes Gewitter über den aus dem Rausch auftauchenden Abel einzubrechen.

Abel verliert alles. Seinen Beruf, seine Familie, sein Zuhause. Er strandet in einer verkommenen Absteige mit dem bisschen, dass er tragen konnte, seinem Computer, seinem Auto. Abel rutscht ab, immer weiter, in einen Sog, der ihn immer tiefer in Wahn, Ängste und Drogen hinunterzieht. Philippe Rahmy protokolliert nicht einfach den Niedergang eines Aufsteigers. Genauso wenig geht es ihm um einen Erklärungsversuch für all jene, die sich in ihrer Verzweiflung an der Gesellschaft zu rächen versuchen. Abel kämpft um sein Glück. Letztlich will er nichts anderes als das Glück für sich, seine Frau und seine Tochter Allegra. Aber so wenig er sich von seinem Laster, seinen handlichen Jägermeiser-Ampullen, die er mit sich herumträgt, trennen könnte, so wenig ist er mit seinem Bewusstsein dort, wo er sein sollte.
Philippe Rahmy schreibt über den Kampf eines Mannes in seinem Käfig, beschreibt diesen Kampf in beklemmender Sprache, mit Bildern, die an den Film «Trainspotting» erinnern, jene Welt hinter den glänzenden Kulissen. Philippe Rahmy bebildert die Macht der Verzweiflung.

Aus der Jury zum Schweizer Literaturpreis 2017: Allegra von Philippe Rahmy ist ein frenetisches Werk, in dem die Gewalttaten unserer Zeit vor der Kulisse eines düsteren und harten Londons aufeinandertreffen. Hochfinanz, Macht, soziale Unsicherheit, verhinderte Identitäten, Radikalitäten, Terrorismus, Liebe, Trauer und Wahn. Die Hauptfigur Abel durchlebt diese Welten wie Zerreissproben. Das romanhafte Spiel gleicht einem vermeintlich ausweglosen Labyrinth und die intensiven, ungebändigten und ausdrucksstarken literarischen Bilder brennen sich dauerhaft ins Gedächtnis der Lesenden ein.

Philippe Rahmy ist 1965 in Genf geboren. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater Franzose und Ägypter. Beeinträchtigt durch die Glasknochenkrankheit wurde das Schreiben zu seinem wichtigen Rückgrat. 2005 veröffentlichte er einen ersten Gedichtband. Nach dem Reiseroman «Béton armé» (2013) wandte er sich mit «Allegra» (2016) zum ersten Mal der Form des Romans zu. 2017 – im Jahr, als er starb – erschien «Monarques» und gerade erst sein letzter Roman «Pardon pour l’Amérique». Alle drei Romane wurden im Verlag La Table Ronde veröffentlicht.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.