Terézia Mora «Muna oder Die Hälfte des Lebens», Luchterhand

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist vieles; eine Liebes- und Leidensgeschichte, ein Versuch einer Emanzipation, die Geschichte eines deutschen Lebens vor und nach der Wende und ein emotionaler Erklärungsversuch. Térezia Mora erzählt vielschichtig, taucht tief in die Psyche einer Frau und zeigt die Unaufhaltsamkeit menschlichen Schicksals.

Muna wächst als Einzelkind vor der Wende in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Der Vater starb früh an Lungenkrebs, die Mutter versucht sich an ihrem Engagement am örtlichen Theater festzuhalten, schwankt zwischen Alkohol und Depression und überlässt ihre Tochter sich selbst. Eine Kindheit zwischen Einengung und Verlorenheit. Kaum ist der 18. Geburtstag von Muna vorbei, muss die Mutter mit einer Alkohol- und Tablettenvergiftung notfallmässig ins Spital gebracht werden, lässt Muna im Ungewissen darüber, was wirklich passiert ist. Die eine Woche zwischen Geburtstag und Einweisung der Mutter ist für Muna eine Woche voller Glück. Endlich tut sich eine Tür auf.

«Es wird Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst.»

Leben ist permanente Unsicherheit. Nichts an Munas Leben gab ihr Sicherheit. Am ehesten noch die Träume von einer Befreiung, von Ausbildung, von einem eigenen Leben, weit weg vom alten. Sie erfährt schon früh von ihrem Geschick zu schreiben, arbeitet als Praktikantin in einer Redaktion und glänzt bei kleinen Schreibwettbewerben. Bis sie auf eben einer solchen Redaktion Magnus kennenlernt, Lehrer und Fotograf. Sie verliebt sich in den um einiges älteren Mann, obwohl der sie kaum beachtet, sich kühl und distanziert gibt. Und als wäre der Unerklärbarkeiten nicht genug, verschwindet Magnus nach der ersten und einzigen gemeinsamen Nacht.

Terézia Mora «Muna oder Die Haelfte des Lebens», Luchterhand, 2023, 448 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-630-87496-8

Muna beginnt Literatur zu studieren und hält sich mit vielerlei Jobs über Wasser. Sie arbeitet an Forschungsprojekten zu Frauenrechten, zieht von Berlin über London nach Wien, immer auf der Suche nach einem festen Stand, mit der Sehnsucht nach Ankommen und der Hoffnung, dereinst Magnus wiederzusehen, dem sie Briefe schreibt, die sie bei einem Freund von ihm hinterlegt.
Sieben Jahre nach seinem Verschwinden trifft sie ihn wieder, im Foyer eines Theaters. Sie setzt alles daran, wieder mit ihm zusammenzukommen, manövriert sich von einer zur nächsten Abhängigkeit, reist ihm von Stadt zu Stadt nach, bis nach Übersee und blendet geflissentlich aus, dass Magnus längst nicht der Mann ist, der sie auf Händen trägt. Ganz im Gegenteil. Es fliesst Blut.

«Begehren, sagte er schließlich. Das glaube ich. Dass das ziemlich zuverlässig funktioniert. Der Rest ist Schwulst.»

Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Muna geschrieben. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnuns verursacht.

Die Lektüre dieses Romans erzeugt Schmerz, weil es nur schwer erklär- und ertragbar ist, dass eine intelligente Frau nicht erkennt, was passiert, selbst dann, wenn ihr Nahestehende schonungslos spiegeln, wie perspektivlos sie in eine ungewisse Zukunft torkelt.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ergreifend, eine Geschichte, die unter die Haut geht, in einer Sprache, die grosse Meisterschaft verrät, so souverän erzählt wie das Leben Munas in Zwängen eingeschlossen ist.

Im Sommer ist Terézia Mora Gast im Literaturhaus St. Gallen.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman «Das Ungeheuer» erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband «Seltsame Materie», wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt ausserdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Beitragsbild © Antje Berghäuser

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin

Immer wenn sich Beziehungskatastrophen ereignen, stellt sich die Frage, wann und wo man etwas hätte tun können, noch tun können, um das schlimme Ende zu verhindern. Lana Lux dritter Roman „Geordnete Verhältnisse“ spielt das, was den Beobachtern sonst verborgen bleibt und zeigt, dass selbst 290 Seiten niemals für eine Erklärung reichen.

Es hätte auch eine Liebesgeschichte sein können. Es war über weite Strecken auch eine Liebesgeschichte. Aber wir wissen von klassischen Theaterstücken, wie unabwendbar eine Liebe in ein Drama, in eine Tragödie umschwenken kann und wieviel Leid von dieser Lawine mitgerissen wird.

Noch in der Grundschule kommt Fiana aus Russland zu Philipp in die selbe Klasse. Sie beide sind Aussenseiter, beide rothaarig und sommersprossig. Philipp ist schon als Junge eingesperrt in seine Marotten. Und obwohl er sich nichts mehr wünscht als Freundschaft, bleibt er in der Schule aussen vor. Weder seine Tante Martha, bei der er lange Zeit wohnt, noch seine Lehrerin und schon gar nicht seine alkoholkranke Mutter finden einen Zugang zu Philipp, der sich mehr und mehr in seiner immer enger werdenden Welt zurückzieht.

Bis Fiana auftaucht und sie von der Lehrerin gezwungen wird, sich mit ein paar radebrechenden Sätzen vor der lachenden Klasse vorzustellen. Fiana ist mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, in ein fremdes Land, mit fremden Sitten. Und weil Fiana genauso wie Philipp jemanden braucht, der sie schützt, schliessen sich die beiden zusammen. Philipp im Glück, jemandem etwas zu bedeuten, Fiana im Glück, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der ihr hilft, wenn auch damals schon ausschliesslich und fordernd.

Vielleicht hätte damals jemand oder etwas helfen können. Aber die beiden waren sowohl in Familie und Schule derart isoliert, unverstanden und von Erwartungen gepeitscht, dass sie sich in ihrer Not immer mehr aneinanderklammerten, in guten und in schlechten Zeiten.

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-27955-1

Beide kommen weiter ins Gymnasium, Philipp von den Eskapaden seiner Mutter gebeutelt und Fiana von den Erwartungen ihrer Familie, die in sehr beengten Verhältnissen von Sozialhilfe lebt. Es ist logische Konsequenz, dass die beiden im Duett durchs Leben schreiten, auch wenn sich immer deutlicher abzeichnet, dass sich die Vorstellungen von „Leben“ bei den beiden immer weiter auseinderbewegen. Philipp will sich von einer Welt absondern, die er nie zu lesen verstanden hat und Fiana möchte eintauchen in ein Leben, von dem sie fürchtet, es könnte ohne sie an ihr vorbeiziehen. Auch in der Beziehung zwischen Fiana und Philipp ändern sich die Vorzeichen. Während sich Fiana immer mehr nach Zärtlichkeiten und körperlicher Geborgenheit zu sehnen beginnt, macht Philipp unmissverständlich klar, dass er von dem ganzen Getue gar nichts hält, schon gar nichts von Sex.

Es kommt zum ersten, grossen Zerwürfnis. Fiana verlässt Philipp. Philipp leidet. Mit dem Verschwinden seiner Freundin ist ihm sein Lebensinhalt genommen. Bis sie Jahre später wieder vor seiner Tür steht, schwanger, mit Schulden, einem kaputten Leben. Bei ihm, der sich in seinem gestylten Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Was dann aus den beiden wird, ist ein toxisches Gemisch zwischen Abhängigkeiten, Liebe, Wahnsinn, Wut und Obsession. Bis zur Katastrophe.

„Geordnete Verhältnisse“ schmerzt, weil Lana Lux nicht aus auktorialer Erzählperspektive schildert, sondern aus der Sicht der beiden in der Ich-Perspektive. Somit auch in ihrer jeweiligen Sprache, ihrer Weltsicht, ihrem eigenen Schmerz. Ich verstehe als Leser vieles, weiss, dass jede Handlung, die auf eine Katastrophe hinzielt, die Summe vieler kleiner und grösser Ursachen ist und irgendwann eine selbst- und fremdzerstörerische Eigendynamik ergibt, die kaum mehr aufzuhalten ist. „Geordnete Verhältnisse“ ist das Protokoll einer Katastrophe, die kein Einzelfall ist, die über Jahrhunderte verharmlost und verschwiegen, den Frauen selbst in die Schuhe geschoben wurde. „Geordnete Verhältnisse“ ist ein ungeheuer mutiges Buch ohne Schuldzuweisung. Lana Lux reisst Fassaden nieder!

Lana Lux ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, Illustratorin und Moderatorin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Sie ist 1986 in Dnipro geboren, emigrierte 1996 ins Ruhrgebiet und lebt seit 2010 in Berlin. 2017 ist ihr Debütroman «Kukolka» erschienen, 2020 ihr zweiter Roman «Jägerin und Sammlerin«. Geordnete Verhältnisse ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.

Beitragsbild © Paula Winkler

Martin Frank «ter fögi ische souhung», Der gesunde Menschenversand

Als „ter fögi ische souhung“ von Martin Frank 1979 erschien, war der Roman Sensation und Skandal zugleich. Der Roman bestach erst recht damals mit seiner absoluten Eigenwilligkeit, seiner Unverblümtheit und als erster queerer Mundartroman aus der Schweiz. Auch über vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ist „ter fögi ische souhung“ ein Ereignis!

Beni ist fünfzehn und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Pflichten und Rebellion, zwischen Rausch und Zorn. Die Beziehung mit seinen Eltern ist schwierig. Sie haben resigniert, ihren Sohn auf den richtigen Weg zu bringen. Nicht einmal ein arrangiertes Treffen mit dem erfolgreichen Onkel bringt Beni zurück auf den tugendhaften Weg. Beni hat ganz andere Vorstellungen von Leben, einem Leben, das gar nichts zu tun haben will mit den Konventionen der Zeit.

Beni will sein wie Fögi. Wie Fögi Musik machen. Musik wie die Stones. Wie Fögi die Welt sehen. Wie Fögi das Leben geniessen und abhängen. Fögi ist zehn Jahre älter als Beni und versucht sich mit seiner Band über Wasser zu halten, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Es geht nicht ohne das Verticken von Stoff, den er für sich und seine Band, für Beni und zum Verkauf besorgt, mit Connections bis in den Libanon und nach Schweden. Beni vergöttert Fögi als seinen ganz persönlichen Guru. Er liebt ihn, ist ihm verfallen. Er liebt ihn über alles, nur schon deshalb, weil Fögi ihm alles gibt, was ihm sein Leben sonst verweigert. Beni fühlt sich getragen und begehrt, verstanden und geliebt.

«mängisch chunntermer for wine guru odere zem meischter so öpis fo rue giz eifach nid.»

Zusammen mit Fögi taucht er immer öfter und intensiver ab in den Rausch, erlebt die Fahrten in den Taumel zusammen mit seinem Freund wie ein weiches grosses Bett, ein in weiche Decken gepolsterter Himmel des Glücks. Und wie alle, die sich solchen Zuständen ergeben mit dem Glauben, alles vollkommen im Griff zu haben.

Marin Frank «ter fögi esche souhung», Der gesunde Menschenversand, 2023, Neuauflage, 104 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-144-9

Da ist die Geschichte eines Jugendlichen, der in eine Zwischenwelt ab- und eintaucht. Aber da ist auch die absolute Selbstverständlichkeit, mit der sich Beni seinen Neigungen hingibt, seiner Liebe zu Fögi, seinem Traum einer ganz eigenen Zweisamkeit. Als der Roman 1979 erschien, entsprach die Welt der meisten so gar nicht der, die Beni und Fögi auslebten. Dass Martin Franks Art über alternative Lebensvorstellungen und die Schwulenszene zu schreiben später unter den Eindrücken und Schreckensszenarien von Aids wieder verwässert wurde, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich hingegen ist es, dass dieser Roman, der wie „Mars“ von Fritz Zorn (erschienen 1977) in vielerlei Hinsicht einzigartig ist in der Schweizer Literaturgeschichte.

Neben Geschichte, Szenerie und Selbstverständlichkeit ist es aber vor allem die Sprache, die Mundart, die in Schrift gefasste Mundart, beinah phonetisch, die Martin Frank zu einer Kunstsprache macht, ermachis eifach uf guet Glük. Ein Unterfangen, dass das Lesen nicht einfach, aber – wer genug Geduld aufbringt – zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht, einem Lesen zwischen kindlicher Freude und einer Authentizität, die sonst in der geschriebenen Sprache kaum erreichbar ist.

«tagen unächt schpile lose schite trip ufoglen uaues he zech ufglöst inen uferlose fluss womer trin tribe si oder no bessere teil fo üsem tanz fürnen übermächtige go.»

„ter fögi ische souhung“ ist ein Stück Geschichte, Literatur- und Kulturgeschichte. Ein ganz spezieller Genuss!

Martin Frank, geboren 1950, aufgewachsen in Bern und Zürich. Ab 1970 Reisen in Süd- und Nordindien, wo er Hindi, Urdu und Tamil lernte. Die Erzählungen «Blinde Brüder» erhielten 2001 den Buchpreis der Stadt Bern. Martin Frank schreibt Schweizerdeutsch, Deutsch und Englisch. Letzte Veröffentlichung: «Venedig, 1911» (Rimbaud Verlag, 2021).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand

„Krähen im Park“ sticht mitten in die Zeit. Christoph Peters verwebt ein Geschehen vieler ProtagonistInnen an einem einzigen Tag, Lebensläufe, die sich manchmal streifen oder auch nur in der gleichen Stadt, ab diesem 9. November 2021 in Berlin, abspielen, meisterhaft gespiegelt in den verschiedensten Perspektiven, die Oberflächlichkeiten einer Gesellschaft am Wendepunkt entlarvend.

Zu Besuch in der Stadt meines Freundes stand ich nachts manchmal am Fenster seiner Wohnung oder auf dem kleinen Balkon, auf dem nur ein Stuhl Platz hatte. Bei Dunkelheit sah man in all die Wohn- und Schlafzimmer auf der Gegenseite, die die Sicht nicht mit Gardinen versperrten. Ich sah für eine Weile in die Leben all der mir Unbekannten, ein ins Licht gesetztes Szenario vieler gleichzeitiger Leben, die nichts miteinander zu tun hatten. Damals nahm mich mein Freund weg vom Fenster, weil er Kommentare fürchtete. 

Ganz anders Christoph Peters mit „Krähen im Park“. Er nimmt mich mitten hinein in die Leben vieler, erzählt vom erfolglosen Schriftsteller Urban, dem es seit Jahren nicht gelingt, wieder zurück in jene Spur zu kommen, die mit zwei Romanen so vielversprechend begonnen hatte. Von einer Frau Irma, einer ehemals erfolgreichen Schauspielerin, nun Influencerin, die alles versucht, nun wenigstens ihre Tochter Leonie gewinnbringend zu vermarkten. Von Joyce, einer Fluggastkontrolleurin, enttäuscht von den Männern, enttäuscht vom Leben, enttäuscht von ihrer Tochter Dina, die sich unverständlicherweise an einen Türken gehängt hat. Von Dina selbst, mit achtzehn nach dem Abitur von Emre schwanger geworden, eigentlich glücklich und doch ganz verunsichert, wie sie an diesem Tag zum Arzt geht, um sich ihrer Schwangerschaft sicher zu sein und aus ihrem Glück gerissen wird. Von Emre, dem türkischen Paketboxer, der eigentlich Dina zum Arzt hätte begleiten sollen, dem aber die Tekwando-Prüfung wichtiger ist, sich gleichzeitig aber in seinen schlechten Gefühlen windet. Von Ali Zayed, einem afghanischen Flüchtling, erst seit ein paar Stunden von Belarus kommend in der ihm vollkommen fremden Stadt, auf der Suche nach seinem Cousin… 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-630-87752-5

Was wie ein Wimmelbild erscheinen mag, ist ein sorgfältig konstruierter Teppich aus unterschiedlichsten Biographien, ganz und gar nicht wirr zu lesen, so glasklar arrangiert und inszeniert, dass ich staune, wie gut es dem Autor gelingt, die verschiedenen Charaktere auch aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Wie scheinbar Objektives aus der Sicht eines andern meinen permanenten Versuch einzuordnen unterbricht. Wie tief man in sich selbst versenkt ist und es nicht schafft, den eigenen Tunnel zu verlassen.

Zusammengehalten werden all die Leben durch den Besuch des französischen Starschriftstellers Bernard Entremont, der aus Paris angereist ist, um einen mit 30 000 Euro dotierten Literaturpreis entgegenzunehmen. Eine Veranstaltung in den Coronabeschränkungen, vielleicht die letzte ihrer Art, mit einem Schriftsteller, den man hasst oder vergöttert, der sich gelangweilt zeigt und sich über sich selber wundert, dass er nicht einfach via Leinwand ein kurzes Lächeln hätte zeigen können. Entremont (unschwer als Michel Houellebecq zu erkennen) in seinem nachlässigen Parka, dauernd rauchend, auch wenn sich sonst alle an Verbote halten, immer nach einem attraktiven Gegenüber suchend.

Die Kulturschickeria ist in heller Aufregung. Während sich die einen um jeden Preis ihre ganz persönliche Scheibe von dem Literaturspektakel abschneiden wollen, sich der geehrte Bernard Entremont sich in seiner Langeweile suhlt, geht es im gleichen Moment nicht unweit vom diesem Geschehen ums unmittelbare Überleben, knallen kleine und grosse Katastrophen.

Corona hat unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Auch wenn sich die Wellen scheinbar geglättet haben, wissen wir alle, wie dünn das Eis, wie filigran die Normalität, wie flüchtig das Glück ist. Christoph Peters Roman ist eine Gesellschaftsstudie ohne Analyse. Und doch wird klar, wie sehr wir uns in einer künstlichen Blase bewegen, die einen innerhalb, die andern auf immer ausgeschlossen. Auch wenn es Christoph Peters vermeidet zu moralisieren, schmerzt die unmittelbare Nähe all der wirklichen und eingebildeten Katastrophen. Christoph Peters verblüfft und überrascht. Sein Roman ist ein oppulentes Sittengemälde einer Zeit, die sich mit aller Macht über Wasser hält.

Interview

Es geht ihnen nicht um ihre eigenen Befindlichkeiten, aber sehr wohl um die Befindlichkeit der Welt. Ich spüre ihre Betroffenheit. Aber es ist eine in den beschriebenen Personen gespiegelte Befindlichkeit. Nicht zuletzt auch jene der Ausweglosigkeit. 
Es gab in den schwierigen Zeiten der Pandemie und mit den grossen Friedens- und Klimademonstrationen kurz davor auch die kleine Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Ist ihr Roman auch ein Bild dessen, wie wir weiter feiern auf dem lecken Dampfer?

Soweit ich mich selbst erinnere und wenn ich dann noch die Erzählungen meiner Eltern und Grosseltern dazunehme – zwei Weltkriege, Weltwirftschaftskrise, der Verlust von allem, was sie besessen haben, im Bombenhagel -, war der Dampfer eigentlich immer leck. Die Menschen haben trotzdem gefeiert. Neulich habe ich eine Dokumentation über die 1950er Jahre gesehen: Da wurden überall Atombunker gebaut und ABC-Waffen-Trainings durchgeführt, gleichzeitig kam der Rock ’n’Roll auf – der bis dahin vermutlich wildeste Tanz der Neuzeit. Während der 1980er, als ich selbst erwachsen wurde, standen neben der weiterhin dramatischen Atomkriegsdrohung Waldsterben, Ozonloch, tote Flüsse im Fokus der Weltuntergangsszenarien. Auch wir haben damals in der permanenten Angst gelebt, die „letzte Generation“ zu sein, sind zu politischen Aktionsgruppen und Demonstrationen gegangen, aber am Wochenende eben auch in die Grossraumdisco. Da, wo im Roman gefeiert wird – bei der Preisverleihung zu Ehren des französischen Starliteraten Bernard Entremont in der Akademie der Künste und auf der halboffiziellen After-Show-Party im Haus der Schauspielerin und Salonniere, Mariann Krüger –, ist es eher der Versuch, trotz der heiklen Lage, die Rituale bougeoisen Kulturlebens aufrecht zu erhalten, beziehungsweise vorsichtig wieder aufzunehmen. Das klappt natürlich nur teilweise. Einige der Figuren interessieren sich ohnehin nur am Rande für die globale Lage, sondern sind hauptsächlich mit ihren eigenen, persönlichen Problemen beschäftigt, wie das ja auch im wirklichen Leben nicht selten der Fall ist.

Was mich an ihrem Roman auch fasziniert, sind die verschiedenen Perspektiven. Während sie stets sehr nahe an ihrem Pesonal schreiben, die Welt aus ihrer Sicht schildern, relativiert sich diese Ansicht bei einem Szenenwechsel, wenn das Licht auf eine andere Bühne gerichtet wird. Alles ist sowohl als auch, selbst bei der Person des afghanischen Flüchlings Ali Zayed, dessen Geschichte bewusst macht, dass es gleich neben Luxus, Hochglanz und kalt gestelltem Sekt um Leben und Tod geht. Es scheint ihnen um viel mehr zu gehen, als nur eine Geschichte zu erzählen.

© Christoph Peters

Ich habe versucht, eine Art Momentaufnahme der Gesellschaft im Brennpunkt und Schmelztiegel Berlin zu Beginn des 2. Corona-Winters zu zeichnen. Es gibt viele, etwa gleich wichtige Figuren aus sehr verschiedenen Milieus – Kulturschickeria, Gross- und Kleinbürgertum, Migranten, junge und alte Paare unterschiedlicher Orientierung, einige, die im Westen, andere die im Osten sozialisiert sind. Einerseits leben sie alle in ihren eigenen Welten, andererseits greifen diese Welten dann doch stärker ineinander, als man auf den ersten Blick vermuten würde, teils zufällig, teils – wenn man so will – fast schicksalhaft. Das Private wird politsch und der Politiker wird von seinen privaten Konflikten eingeholt. Für andere, wie den afghanischen Flüchtling Ali Zayed oder den Paketfahrer Emre, spielt das alles kaum eine Rolle. Der eine versucht, sich irgendwie in der Fremde zu orientieren, der andere hat eine junge Freundin, Dina, die schwanger ist, und träumt vom künftigen Familienglück. Fast alle sind auf der Suche nach etwas, das dem eigenen Leben eine Wendung zum entschieden Besseren geben könnte, wobei jeder andere Vorstellungen hat, was es sein könnte. In gewisser Weise ist der Roman auch der Versuch, aus den sogenannten „Blasen“, in denen wir uns mehr und mehr abgekapselt haben, herauszukommen und einen etwas grösseren Ausschnitt aus den vielen, extrem heterogenen Lebenswelten zu zeigen, aus denen unsere nach-postmodernen Grossstädte bestehen.

Ausgerechnet der Sohn von Professor Bernburger, der Gesundheitspolitiker mit Ambitionen ist und Verfechter einer rigorosen Impfpflicht, entpuppt sich als Coronakritiker und Anhänger kruder Verschwörungstheorien. Eine Szenerie, die wir sehr gut kennen; Familien, in denen der Coronatsunami tektonische Verschiebungen verursacht hat. Trotzdem ist ihr Roman kein Coronaroman. Und doch ist der Vius da. Ein schreibender Freund meinte einmal, es wäre unmöglich, einen vernünftigen Coronaroman zu schreiben. Mussten sie sich um eine richtige Dosierung bemühnen?

Als ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben würde und dass er am 9. November 2021 spielen sollte, sah es noch ganz so aus, als wäre Corona bis dahin kein grosses Thema mehr. Ursprünglich wollte ich erzählen, wie das Leben nach der Krise allmählich wieder zur vor-pandemischen Normalität zurückkehrt. Als sich dann abzeichnete, dass das Virus doch hartnäckiger sein würde als erhofft, habe ich entschieden, diese zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen einfach als gegeben hinzunehmen – ein bisschen wie eine schwierige Wetterlage. Corona und die Art, wie die Figuren im Roman darauf reagieren, spielt also eine Rolle, ist aber nicht der alles determinierende Faktor. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Pandemie ja auch schon gut anderthalb Jahre und man hatte sich allmählich daran gewöhnt. Da ich diese vielen verschiedenen Protagonisten hatte, konnte ich von sehr unterschiedlichen Arten erzählen, wie die Leute mit dem Virus umgehen: Von der panischen Sorge, über gelassene Bereitschaft, sich den Regeln entsprechend zu verhalten, bis hin zu verschwörungsgläubigem Verfolgungswahn. Nicht wenige der Figuren haben aber bereits wieder oder von vorneherein ein achselzuckendes Desinteresse dem ganzen Themenkomplex gegenüber. Dadurch musste ich nicht ständig aufpassen, dass das Virus den Text vollständig unter seine Kontrolle brachte. 

Nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb. Auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte Misanthrop und Lebemann Bernard Entremont, um den eine bunte Schar Kulturbeflissener Bücklinge macht, auf der anderen Seite Urban Fischer, ein fast vergessener Schriftsteller, dessen Selbstverständnis mehr als angekratzt ist. Auf der einen Seite ein aufgeblasener Hype um einen grossen Namen, der Aufmerksamkeit generiert, auf der anderen Seite die pure Selbstzerfleischung. Beide haben die Bodenhaftung verloren. Aber ist nicht Bodenhaftung eine Unabdingbarkeit für gute Literatur?

„Bodenhaftung“ finde ich einen eher schwierigen Begriff im Zusammenhang mit Literatur. Er suggeriert, dass Literatur eine realistische, gesellschaftspolitisch reflektierte, auf genauer Beobachtung der Verhältnisse durch einen souveränen Autor basierende Perspektive haben sollte. Diese Art des „relevanten Realismus“ ist aber nur eine von sehr vielen Möglichkeiten interessante Texte zu schreiben. Grundsätzlich kann der Blick eines Autors natürlich hauptsächlich nach Aussen gehen, sich also der möglichst genauen Wahrnehmung der menschlichen Verhältnisse um ihn herum in seiner Zeit zuwenden. Andererseits bietet aber auch die radikale Selbstbeobachtung bis hin zur völligen Isolation von Autor, Erzähler und/oder Protagonisten Möglichkeiten, Dinge aus innerseelischen Dunkelkammern und psychischen Grenzbereichen ans Licht zu bringen und gerade dadurch neue Perspektiven auf die menschliche Existenz zu öffnen. Das Imaginieren, Phantasieren, der Entwurf völlig anderer Welten und Wirklichkeiten ist eine weitere Möglichkeit, so alt wie die Literatur selbst und ebenso berechtig wie wichtig, um Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen ins Auge zu fassen oder Fluchtrouten aufzuzeigen. Daneben kann sich der Fokus auf die Sprache selbst, ihre Strukturen, Grenzen und Entgrenzungen richten und gerade dadurch neue Zugänge zur inneren und äusseren Welt ermöglichen, die verschlossen bleiben, solange der Autor am „Boden haftet“.

in der Akademie der Künste © Christoph Peters

Es gibt eine Szene in ihrem Roman, in der der Afghane Ali Zayed in einem der vielen Berliner Parks sitzt und Krähen beobachtet. Afghanische und deutsche Krähen scheinen sich genauso zu unterscheiden wie afghanische und deutsche Menschen. Aber zumindest können deutsche Krähen mit den Abfällen aus Mülleimern in Parks ganz gut leben. In vielem tönen sie nur an. Auch die Geschichte von Ali Zayed ist „nicht zu Ende erzählt“. Das Personal ihrer Romane kommt immer wieder mal vor, wenn auch mit anderem Gewicht. Was entscheidet, ob eine Figur wie Ali Zayed wieder auftauchen wird?

Die Unterschiede zwischen afghanischen und berliner Nebelkrähen sind ornithologisch nicht hundertprozentig abgesichert: Ich habe in Pakistan immer wieder grosse Schwärme dieser Art gesehen und bin einfach mal davon ausgegangen, dass in Afghanistan eher der pakistanische Typ verbreitet ist: etwas kleiner, schlanker, insgesamt eleganter im Erscheinungsbild und das Grau ein bisschen blaustichig – was gut zu den „crows which are blue“ des Edith-Stein-Mottos zu Beginn des Romans passt. Ob sich die Charakteristika der Krähen auf die Menschen übertragen lassen, sei mal dahingestellt. – Tatsächlich wandern gelegentlich Figuren von Text zu Text weiter oder tauchen nach Jahren, manchmal Jahrzehnten plötzlich wieder auf. Wie genau es dazu kommt, weiss ich nicht. Irgendwie haben alle diese Gestalten eine Art Eigenleben in meinem Kopf oder sonstwo, und dort gehen sie, auch wenn ich sie gerade nicht erzählend im Blick habe, ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. Manche widersetzen sich gezielt den Lebensplänen, die ich für sie gedacht hatte. So ist der Yakuza Fumio Onishi ursprünglich nur Protagonist einer Kurzgeschichte, „Maneki neko“, gewesen, die im Berliner Hauptzollamt spielte und eigentlich mit seinem Tod enden sollte. Dazu kam es dann aber nicht, so dass Fumio zur Hauptfigur in „Der Arm des Kraken“ wurde, wieder mit der Aussicht, am Ende getötet zu werden. Doch er hat auch den Roman überlebt und sich nach Tokio bzw. in „Das Jahr der Katze“ geflüchtet. Aktuell agiert er vermutlich in der Unterwelt von Los Angeles. Ich würde ihm eigentlich sehr gern dabei zuschauen, aber bislang hat er mir seinen genauen Aufenthaltsort nicht verraten. Ob Ali Zayed sich noch einmal melden wird, kann ich momentan nicht sagen – ausgeschlossen ist es nicht.

Des Autors Schreibtisch © Christoph Peters

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand «Tage in Tokio» (2021) und «Der Sandkasten» (2022).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter von Felbert

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper

Mit der Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später» brannte sich Angelika Klüssendorf in meine literarischen Erinnerungen. Nicht weil ihre Romane einem Zeitgeist, dem autofiktionalen Schreiben entsprechen, sondern weil die Autorin mit der Rückkehr zu ihrem grossen Thema eine Art des Schreibens kultiviert, die trotz aller Verwundung und Entblössung die Hoffnung nie zerstört.

Wie ist es möglich, dass Menschen, die durch die Hölle gehen, trotz allem aufrecht, offen und emphatisch durchs Leben schreiten können? Wie schaffen es Menschen, die angesichts grassierender Gewalt ein Leben aushalten müssen, das Feuer brennen zu lassen, nicht aufzugeben, zu resignieren?

Angelika Klüssendorf, die mit ihrem neuen Roman «Risse» an ihre Trilogie anknüpft, kehrt zu ihrem grossen Thema zurück. Aber nicht, um an alte schriftstellerische Erfolge anzuknüpfen, sondern weil die Autorin mit «Risse» in eine neue Dimension ihrer Auseinandersetzung tritt. Angelika Klüssendorf schildert in drastischen Bildern eine verlorene Kindheit, Menschen, die der Zerstörung trotzen. Aber sie versucht auch zu ordnen. Sie reflektiert, stellt sich über ein Geschehen, das ganz offensichtlich ein halbes Leben lang Schmerz verursachte. Sie schildert die Kindheit einer Frau, die sich in sich selbst zurückzieht, mit aller Kraft sich selbst nicht verlieren will und damit auch die letzte Hoffnung, dass es aus der Hölle auch einen Ausweg geben muss.

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-492-05991-6

Wenn das «durch die Hölle gehen» eine Kindheit ist, dann schmerzt die Lektüre ganz besonders. Und Angelika Klüssendorf macht keinen Hehl daraus, dass es ihre eigene Kindheit ist. Eine in der Einsamkeit des Eingeschlossenseins, ob physisch oder psychisch. In den Ruinen einer «Familie», in der Mutter und Vater mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind, Liebe und Zuwendung fremd ist, Beziehungen in erster Linie Gefahr bedeuten, jede Regung ein Risiko birgt.
Als kleines Kind bei der geliebten Grossmutter aufgewachsen, einer Frau, mit der sie sogar das Bett teilte, unmittelbare Nähe, kam das Mädchen mit ihrer kleinen Schwester zu ihrer Mutter und einem gewalttätigen Vater. Was die beiden bei der Grossmutter an Geborgenheit und Verbundenheit erlebten, ist bei der getriebenen Mutter verschüttet und irgendwann ganz verloren. Angelika Klüssendorf erzählt, wie jenes Mädchen schon damals im Lesen, in Geschichten, in Büchern jene Welt suchte, die ihr in ihrer direkten Umgebung verwehrt blieb. Während die Mutter immer wieder mal für mehrere Tage von der Bildfläche verschwindet und die Kinder sich selbst überlässt, ist das Mädchen zum reinen Überleben gezwungen. Das Mädchen zieht sich mehr und mehr in ihren eigenen Kosmos zurück, kapselt sich auch emotional ab, «autonomisiert» sich. Auch zu ihrem Vater, zu dem sie abgeschoben wird, der als Aushilfskellner jobbt, verbindet sie bloss das Gefühl der Angst, die permanente Furcht eines Übergriffs.

«Risse» zu lesen, ist nicht einfach. Angelika Klüssendorf schmeisst einem aber nicht einfach das Schicksal einer ungeheuerlichen Kindheit vor die Füsse. Sie kommentiert ihren Weg damals aus dem Heute, setzt dem Ungeheuerlichen einen Kommentar aus der Gegenwart entgegen. Nicht dass sie sich mit dem Erlebten versöhnt hätte, schon gar nicht mit Mutter oder Vater (Schon allein diese Begriffe, Mutter und Vater, scheinen so gar nicht zu passen!), aber die Autorin gewinnt jene Distanz, die auch mir als Leser hilft. Keine Distanz, die die Kindheit damals unter Folie verpacken will, aber eine Distanz, die im eigenen Leben zu reflektieren hilft.

«Risse» ist ein ungemein starkes Buch. Geschrieben von einer Frau, die aus Verletzungen Stärke entwickelte, auch eine starke Sprache mit ungemein starken Bildern.

2 Fragen an Angelika Klüssendorf:

Ich arbeite seit Jahrzehnten als Pädagoge. Schicksale wie das von Ihnen beschriebene finden noch immer in den verschiedensten Varianten statt. Kinder, die sich selbst überlassen sind. Kinder, die nichts von dem geschenkt bekommen, was so gerne als „Familie“ idealisiert wird. Das schmerzt deshalb so sehr, weil nicht alle Kinder die Geister einer solchen Vergangenheit „besiegen“. Oder lassen sich diese Geister allerhöchstens bannen? Wie viele Menschen stecken in einem Mühlenrad fest, aus dem sie nicht aussteigen können.
Ich weiss nicht, wie viele Menschen feststecken, wie Sie selbst sagen, die Schicksale gibt es in den verschiedensten Varianten. Ich glaube, die infamsten Übergriffe, finden im Namen der Liebe statt. Denn Brutalitäten sind erkennbar, Menschen können sich ihnen stellen, wenn auch nicht als Kind. Der erste Schritt einer Befreiung wäre vielleicht, das Erkennen, das Erkennen der Muster in denen wir gefangen sind. Das sich bewusst werden, wer wir sind, die Defekte erkennen und nicht in den vertrauten Tunnel rasen, eben weil der so schön vertraut ist. Vielleicht auch das, was kaputt ist (ich sage extra kaputt, weil es an ein Spielzeug in der Kindheit erinnert und da werden ja die prägenden Grausamkeiten gesetzt, für das spätere Leben) zu akzeptieren, manches kann nicht geheilt werden, aber wir können lernen damit zu leben.

Sie schreiben auch von der Scham der Armut. Eine Scham, der die Kinder sehr oft äusserst unbarmherzig ausgesetzt sind, weil selbst Kinder untereinander alles andere als zurückhaltend sind. Zur Scham gesellt sich noch die Angst, nie davon befreit zu werden. Ein Angst, mit der sich auch viele Künstler auseinandersetzen müssen, weil es nicht reichte, sich um eine satte Altersvorsorge zu bemühen. Wird man als Verfasserin solcher Romane zu einer Klagemauer? Oder gar zu einer Anwältin?
Weder Anwalt noch Klagemauer. Allerdings ist die Armut eine Sache für sich. Wer in wirklicher Armut aufgewachsen ist, hat ein innerliches Stigma, äusserlich vielleicht nicht zu erkennen, weil es gut verborgen ist. Doch die Angst wieder arm zu sein, hat mich nie verlassen. Ich hatte lange Zeit die Vorstellung, obdachlos zu werden und meinen Gefährten die Goldfüllung in meinem Mund zu zeigen, als Beweis dafür, dass es mir einmal besser ging.

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres Romans „Vierunddreißigster September“ stand auf der Longlist des Prix Femina 2022. Ihr Roman „Risse“ wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert.

Beitragsbild © Sarah Wolff.

Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», die brotsuppe

Ein junger Übersetzer soll in Venedig das sichten, was eine gefeierte, alt gewordene Übersetzerin zurückgelassen hat. Er bricht auf in eine Stadt, die sich nicht nur dem Wasser ergeben muss, in eine Wohnung, die dem Verlassen preisgegeben, in ein Leben, das abgebrochen ist. Bruno Pellegrinos stimmungsvoller Roman ist für einmal keine Liebesode an eine sterbende Stadt, sondern ein Mahnmal der Vergänglichkeit.

Sonst reist man in die Stadt im Wasser, um sich von Kulisse umgeben, um sich von Geschichte und Kunst betören oder dem langen Schweif vieler Erzählungen einlullen zu lassen. Aber der junge Mann reist nicht in die Lagunenstadt, um sich ihrem Charme zu ergeben. Eine Stiftung schickt ihn, weil eine hoch angesehene Übersetzerin mitten aus ihrem Leben gerissen wurde und die Institution sicherstellen will, dass nichts von Bedeutung mit einem Mal verloren sein könnte. Er reist in die Stadt, in die Wohnung einer Frau, die der Wahn aus einem Leben gerissen hatte, das ganz der Sprache, der Übersetzung gewidmet war.

Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», Verlag die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Lydia Dimitrow, 140 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 78-3-03867-088-9

Stellen sie sich vor, sie öffnen die Tür zu einer Wohnung, die während Jahrzehnten das Refugium einer Frau war, die ganz offensichtlich nur für sich und die Sprache lebte. In den Lebensraum einer Frau, die den Koffer gepackt hatte, um in ihre Heimatstadt zu fahren, in der man sie für ihr Lebenswerk auszeichnen wollte, die die Reise aber nie angetreten hatte. Die stattdessen in ihrem Wahn in einer Klinik vor der Stadt eingewiesen wurde, ganz offensichtlich nicht in der Hoffnung, je in ihr altes Leben zurückkehren zu können.
Ein junger Mann ganz am Anfang seiner Karriere als Übersetzer im Gemäuer einer Frau, die in ihrem Beruf alles erreicht, sich als Mensch aber in der Einsamkeit verloren hatte. Er dringt ein. Er ordnet und katalogisiert, was an Schriftstücken wild durcheinander einen Kosmos ausmacht, den er selbst nicht durchdringen kann. Er spürt einem Leben nach, das noch nicht erloschen ist, aber wegtauchte in einen Wahn, von dem es kein Zurück zu geben scheint.

Man quartiert ihn in einem Studentenheim ein, gibt ihm die Schlüssel zur Wohnung der Übersetzerin mit und alle Zeit der Welt, um festzuhalten, was Zeit und Feuchtigkeit in jenem Zuhause in der Lagunenstadt bedrohen. Aber das Wasser nährt nicht nur das Papier, das sich in der Feuchtigkeit wellt. In den Wintermonaten drohen die Fluten einmal mehr, die Lagunenstadt, die mit stoischer Gelassenheit auf die immer wiederkehrende Bedrohung reagiert, einzunehmen. Eine Situation, die den jungen Mann verunsichert und bedroht, die ihn ängstigt und in stille Panik versetzt. Hier die Frage, wer die Frau war, in deren Wohnung er die Schlüssel für ein Leben sucht, dort die Bedrohung durch das Wasser, das sich in alles hineinzufressen scheint. Ein zurückgelassenes Leben, in dem seine Grossmutter zuhause zu sterben droht, er in einer Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Bruno Pellegrinos Roman „Stadt auf Zeit“ ist ein Buch über Vergänglichkeit. Für einmal kein Buch, das die Schönheit der Lagunenstadt besingt, sie zu einer Kulisse der Leidenschaft macht. Die Stadt stirbt. Das Wasser ist überall. Sie saugt sie in sich auf, wie ein fauliger Schwamm. Was der Mensch macht, ist dem Zerfall preisgegeben, selbst mit dem matten Versuch, dem Sterben Einhalt zu gebieten. „Stadt auf Zeit“ ist weder melodramatisch noch in irgend einer Weise romantisierend. Es ist ein Stück Totengesang. Noch viel mehr, weil die Übersetzerin, die ein Leben lang die Schlüssel zur Sprache suchte, vom Wahn dahingerafft wurde. Ein Roman voller Metaphern und feuchtdunklen Tiefen.

Bruno Pellegrino, geboren 1988, lebt in Lausanne und Berlin. Er studierte Literaturwissenschaften, veröffentlichte zahlreiche Texte in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle «L’idiot du village» (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. «Atlas Hotel» ist sein erster Roman (auf Deutsch erschienen im Rotpunktverlag). «Là-bas, août est un mois d’automne» erschien bei Zoé und wurde unter anderem mit dem Prix des lecteurs de la Ville de Lausanne und dem Prix Alice Rivaz ausgezeichnet; unter dem Titel «Wo der August ein Herbstmonat ist» wurde es, übersetzt von Lydia Dimitrow, 2021 im verlag die brotsuppe veröffentlicht.

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Sie ist Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u.a. erhält sie 2023 eins der Berliner Arbeitsstipendien für Literatur in deutscher Sprache, vergeben von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa) und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u.a. Isabelle Flükiger, Jamey Bradbury, Pascal Janovjak, Bruno Pellegrino und jetzt Antoinette Rychner). Ausserdem ist sie Gründungsmitglied der Theaterkompanie mikro-kit.

Beitragsbild © Éditions Zoé, Romain Guélat

Valery Tscheplanowa «Das Pferd im Brunnen», Rowohlt

Man darf kritisch sein, wenn Schauspielerinnen und Schauspieler Romane schreiben, kann doch ein bereits bekannter Name auf einem Buchcover hilfreich sein, das Buch anzupreisen. Aber bei Valery Tscheplanova muss jeder Vorbehalt über Bord geworfen werden. Ihr Romandebüt „Das Pferd im Brunnen“ ist ein Sprachgeschenk.

Als Valery Tscheplanova 1980 in der sowjetischen Stadt Kasan, 700 Kilometer östlich von Moskau, zur Welt kam, war das zu einer anderen Zeit. Man wähnte sich noch immer in einer langen sowjet-kommunistischen Tradition, war als Individuum Teil eines Kollektivs, eingeteilt, vorbestimmt und stark reglemtiert. Valery Tscheplanova erzählt von den Menschen in dieser Zeit, von den Veränderungen, die über sie und ihre Familie mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung hereinbrechen. Valery Tscheplanova erzählt von Walja, einer jungen Frau, die nach Kasan zurückkehrt, um herauszufinden, wer sie ist. Von starken Frauen, Waljas Vorfahren, ihrer Ur- und Grossmutter, ihrer Mutter, den Männern, die meistens nicht da waren, wenn frau sie gebraucht hätten, von einem Leben nicht einmal hundert Jahre von der Gegenwart entfernt, das aus heutiger Sicht beinahe mittelalterlich erscheint, schlicht und in vieler Hinsicht ergeben.

Valery Tscheplanowa «Dąs Pferd im Brunnen», Rowohlt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7371-0184-4

Schlüsselpositionen in dieser farbigen Sprachlandschaft durch die Zeit nehmen Waljas Grossmutter Nina und deren Mutter Tanja ein. Bei Tanja erlebte Walja eine traumschöne Kindheit, eingebetet in die Zuwendung jener Frau und ihre Geschichten, wie jene vom Pferd im Brunnen hinter dem Haus, einem Ort, den Walja in ihrem Spiel immer wieder aufsuchte, oben auf einem Hügel, wo ein paar schwere, modrige Bretter etwas zu verbergen schienen. Eben jenes Pferd. Walja wird von ihrer Urgrossmutter mitgenommen, auf den Spaziergang durch das Dorf, zu all den anderen, meist alleine lebenden Frauen, zu Besuchen, bei denen die Urgrossmutter jene Frauen hiess, sich bäuchlings auf den Boden zu legen und die kleine Walja auf ihre Rücken steigen liess. Für die Frauen eine willkommene Massage der besonderen Art, für die kleine Walja eine erste Erfahrung dessen, wie ungleich es sein kann, worauf man sich bewegt.
Die Urgrossmutter, eine eigenwillige Frau, die Walja heimlich taufen lässt, die ihr Leben lang die eigenen Haare sammelt und damit ihr Totenkissen füllt, so wie sie in einer Truhe Totenhemd und Totenschuhe bereithält.

Ganz anders ihre Grossmutter Nina, eine kleine wirblige Frau, nie zuhause, dauernd auf Achse, laut und verbissen. Eine Frau, die sich ihre Wahrheit selbst zurechtlegt, der die Lüge zu einem Spiel wurde. Sie log sich ihre ungenutzten Möglichkeiten weg, ihre verpassten und erträumten Auswege herbei… sodass sie begann, ihre eigenen Geschichten zu glauben. Eine Frau, der das Weglaufen zum Programm wurde, von der Walja erst spät erfahren sollte, was die Gründe für diese permanente Unruhe waren. Als Nina glaubte, ihre Mutter würde es alleine nicht mehr schaffen, nahm sie sie mit in die Stadt, nach Kasan, um sie schlussendlich in einem kleinen Zimmer einzusperren. Nina, ein Kind des grossen „Vaterländischen Krieges“ musste im Lazarett Böden schrubben und für Verwundete singen. Später selbst Krankenschwester und Mutter, eingespannt in die Pflichen einer berufstätigen Mutter, Teil einer uniformierten Gesellschaft, wurde ihr Ausbrechen immer mehr zur Überlebensstrategie. Eine der vielen Erkenntnisse Waljas bei ihren späten Besuchen an den Orten ihrer Herkunft.

„Das Pferd im Brunnen“ ist eine Sammlung von Bildern, Szenen, die mit grosser Liebe und Empathie nacherzählen, was längst nicht mehr ist. Valery Tscheplanova scheint ganz im Bewusstsein dessen dieses Buch geschrieben zu haben, das alles von innen heraus erzählt werden muss, einem Kern, der sich mit der Zeit verschliesst oder verklärt. Ihre erzählten Bilder sind von grosser Intensität und im krassen Widerspruch dazu, wie Bilder aus jenen Zeiten sonst transportiert werden. Valery Tscheplanova erzählt vom Kleinen, durch das sich das Grosse spiegelt, bis in die Gegenwart, bis in jene Zeiten, in denen Putin der Welt eine neue Ordnung aufzwingen will.
Ich bin schwer beeindruckt von diesem vielversprechenden Romandebüt. Von einer Sprache, die bezaubert, von einem Erzählen, das betört!

Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.

Beitragsbild © Just Loomis

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Anna Serre «Die Gouvernanten», Berenberg

Hier knistert es! In traumhafter Kulisse wird von einem grossen Haus mit ausladendem Park erzählt, von Madame und Monsieur Austeur und ihren Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura, den Hausmädchen, einer Horde Jungen und einem greisen Mann mit Fernrohr. „Die Gouvernanten“ ist ein schillernder Roman mit satten Farben, ein Roman wie ein Film von Peter Greenaway.

Das Buch erschien 1992 in Frankreich und fällt nicht nur thematisch erfrischend aus dem heraus, was aktuell im Buchmarkt unumgänglich erscheint. „Die Gouvernanten“ ist losgelöst, tut, was die Literatur soll und kann, zeichnet Bilder in satten Farben, erzählt frisch und ungehemmt, so als wäre dieser Roman ein kleines Fenster in ein verlorenes Paradies. Anne Serre erzählt, als würde sie einen orgiastischen Bilderteppich entwerfen, ohne Mission, ohne Absicht, ohne Psychologie, und wenn, dann losgelöst von jeder Verkrampfung. Aus ihrer Sprache, die wie die Kulisse selbst, der Zeit enthoben scheint, entstehen Szenen, die an grossformatige Impressionisten erinnern. „Die Gouvernanten“ ist  sprachgewordene Lust!

Anne Serre «Die Gouvernanten», Berenberg, 2023, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 92 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-949203-67-1

Im grossen Haus von Madame und Monsieur Austeur betreuen drei junge Gouvernanten eine Schar Knaben. Anne Serre erzählt nicht, warum die Jungen in diesem Haus leben, denn von Vätern und Müttern ist nie die Rede. Die Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura sind jung, bezaubernd und hübsch, kleiden sich elegant, tummeln sich mit den Jungs, machen Ausflüge, lernen sie dies und jenes – und manchmal tanzen sie. Die drei Grazien bezaubern das ganze Haus; die Jungs, die sie anhimmeln, das Besitzerpaar, das sich diskret im Hintergrund hält, die Hausmädchen, auf die das bunte Treiben in und ums Haus die Arbeit zum Abenteuer macht – und immer wieder einmal den einen oder anderen männlichen Spaziergänger, den sich die drei jungen Frauen in den Park holen und in ihrer unstillbaren Leidenschaft regelrecht einverleiben. Alles an diesen drei jungen Frauen strotzt von betörender Weiblichkeit und zieht einen langen Schweif knisternder Atmosphäre hinter sich her. Ein Schmelz, dem sich auch der greise Herr im Nachbarhaus nicht entziehen kann, der sein Leben fast ausschliesslich hinter einem Fernrohr verbringt, das in der Sonne aufblitzt und die drei jungen Frauen in ihrer erotischen Inszenierung nur noch anstachelt. Auch die Knaben im Haus erliegen der weiblichen Faszination, erst recht dann, wenn Éléonore, Inès und Laura sich zum Tanz ihrer Kleider entledigen. Nicht einmal die geheimnisvolle Schwangerschaft von Laura bringt das illustre Sein der Gouvernanten aus dem Takt.

Man liest das Buch mit hochgezogenen Brauen, traut dem Gelesenen kaum und ist verwundert darüber, dass hier eine Frau erzählt, die die pure Lust des Schilderns in einen farbigen Rausch verwandeln kann. Ich bin mir alles andere als sicher, ob man einem Mann diese Freiheit geben und die moralische Zensur nicht wie eine Keule zuschlagen würde. Anne Serre nimmt sich alle erdenklichen Freiheiten, ob in ihren Bildern oder in ihrem Erzählen. „Die Gouvernanten“ ist pure Sprachlust, ein Fest der Sinne, ein 100seitiger Rausch ohne Kater. Erfrischend darum, weil nichts die Autorin zu hemmen scheint. „Die Gouvernanten“ ist sprachlicher Hochgenuss, auch wenn da nicht in kleinen Häppchen serviert wird, sondern oppulent und ausladend.

Anne Serre, geboren 1960 in Bordeaux, hat seit ihrem Roman­debüt 1992 sechzehn Romane und Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Für «Im Herzen eines goldenen Sommers», ihre erste Veröffentlichung auf Deutsch, erhielt sie 2020 den Prix Goncourt de la Nouvelle.

Patricia Klobusiczky, geboren 1968 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Louise de ­Vilmorin, Sophie Divry, Valérie Zenatti, William Boyd und ­Petina Gappah.

Beitragsbild © Francesca Mantovani