Stürme toben nicht nur auf See und Land. In „Windstärke 17“ erzählt Caroline Wahl von einem nicht enden wollenden Sturm in einer jungen Frau. Einem Sturm, den sie überall hin mit sich trägt, dem nicht zu entfliehen ist. Ein eindringlicher Roman über das Gewicht einer vermeintlichen Schuld und vergeblichen Fluchtversuchen, am wenigsten vor der Familie.
Man muss Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ nicht gelesen haben, um „Windstärke 27“ geniessen zu können, auch wenn das Personal das gleiche ist. War die Protagonistin in „22 Bahnen“ Tilda, die ältere der beiden Schwestern, so ist es in „Windstärke 17“ Ida. Ida haut ab, hat ihre Sachen gepackt, zumindest das, was sie in den marineblauen Hartschalenkoffer ihrer Mutter packen kann. Wichtigstes Gepäckstück im Koffer ist Ida MacBook, denn Ida möchte schreiben, auch wenn es damit nur noch zäh voranging. So wie alles in einer zähflüssigen Suppe zu versinken drohte und Ida sich nur noch mit Flucht zu helfen weiss.
Seit ein paar Tagen ist Tildas und Idas Mutter tot. Ida war nicht einmal mehr fähig, zur Beisetzung ihrer Mutter zu erscheinen, obwohl sie bis zum bitteren Ende ihrer alkoholkranken Mutter an ihrer Seite war, wenn auch im allerletzten Moment doch nicht. Ihre Mutter hatte alles aufgeräumt und sich zum Sterben hingelegt, als sie alleine war. Auch dies eine Flucht. Und weil Ida spürt, dass ihr die Stadt, die sie mit ihrer Mutter teilte, wie ein schwerer Stein am Hals zieht, muss sie weg. Eigentlich war ausgemacht, dass sie zu ihrer verheirateten Schwester Tilda nach Hamburg fährt. Aber weil da ein anderer Zug stand und Ida nichts zu ihrer Schwester zog, stieg sie ein und fuhr über Hamburg hinaus bis auf Rügen, wo sie in einem kleinen Kaff am Meer eine Stelle in der Robbe findet, einer schummrigen Kneipe. Der Laden gehört Knut, der eigentlich nie spontan Fremde einstellt. Aber da ist etwas zwischen Ida und Knut, etwas, dass aus Knut bald Opa Knut macht.
Caroline Wahl «Windstärke 17», DuMont, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8321-6841-4
Nach einem Schwächeanfall von Ida lädt Knut die junge Frau zu sich nach Hause ein, in ein Zimmer, das mit ‚Mandy‘ angeschrieben ist. Bald stellt sich heraus, dass auch im Haus von Knut ein Sturm wütet, wenn auch ein ganz anderer. Knuts Frau Marianne ist totkrank, voller Methastasen, vorbereitet darauf, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird. Unweigerlich gerät Ida in ein Gefüge, das sie erneut vor die Frage stellt, ob sie bleiben kann oder fliehen muss. Sie lernt Leif kennen, der sich bis vor ein paar Wochen noch als DJ sein Geld verdiente, der sich wie Ida auf der Insel neu zu finden versucht. Idas Stürme reissen an ihr; ihre Mutter, die sich nicht erst mit ihrem Sterben von ihr entfernt, ihre Schwester, die Ida permanent mit schlechtem Gewissen füttert, Knut und Marianne, die sich in ihrer Endlichkeit zurechtfinden müssen und diese Gefühle, die sie für Leif empfindet, die nur zuzudecken scheinen.
Caroline Wahl beschreibt diesen Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, den Kloss aus Wut und Zorn und den nagenden Schmerz, jenen entscheidenden Moment im Leben versäumt zu haben, jene Momente mit der Mutter, jene Momente mit ihrem Traum vom Schreiben, dem drohenden Moment mit Marianne, die ihr etwas schenkt, was sie von ihrer Mutter nie bekommen hatte.
Manchmal schwimmt Ida weit hinaus. Manchmal gar über eine Grenze hinaus. Wo sind die Momente, von denen es kein Zurück mehr gibt? Wie schafft man es, den immer wieder aufflammenden Sturm in seinem Innern unter Kontrolle zu bringen? Schafft man das alleine? Wie befreit man sich vom äzenden Schmerz vermeindlicher Schuld? Caroline Wahls Roman ist die intensive Auseinandersetzung mit der gebeutelten Innenwelt einer jungen Frau. Dabei inszeniert die junge Autorin stilsicher und gekonnt und überzeugt nicht zuletzt durch treffende Dialoge und einen erstaunlich ruhigen Fluss des Erzählens.
Nachdem «22 Bahnen» im Rahmen der Frankfurter Buchmesse bereits zum «Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023» gekürt wurde, ist Caroline Wahls Debütroman nun auch «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2024».
Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman «22 Bahnen» bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ausserdem wurde «22 Bahnen» Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.
Als Grande Dame der Italienischen Literatur 1962 als 26jährige ihr Debüt „La vacanza“ auf den Markt brachte, schlug das Buch ein wie eine Bombe und löste einen Skandal aus. Über 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat dieser Roman nichts von seinem Glanz, seiner Einzigartigkeit verloren.
Dacia Maraini ist auch mit ihren 87 Jahren noch immer eine Kämpferin für die Sache der Frau, auch wenn sie sich von gewissen Strömungen der Gegenwart distanziert. Sie stellt Frauen ins Zentrum, die sich aus ihren vorgeschriebenen Rollen befreien wollen. Dacia Marainis erster Roman „Tage im August“ stellt eine junge Frau ins Zentrum, die ihr Leben, ihre Entdeckungsreise des Lebens, ihre Sexualität selbstbestimmt und eigenständig erobern will. „Tage im August» spielt in den Sommerferien 1943 am Meer. Die Welt ist im Umbruch. Die Alliierten haben sich im Süden Italiens festgesetzt. Mussolini tut alles, um an der Macht zu bleiben, aber die Allianz mit Nazideutschland bröckelt, auch wenn noch immer italienische Soldaten an die Fronten im Norden entsandt werden. Immer wieder dröhnen amrikanische Bomber über den Strand Richtung Rom.
Dacia Maraini «Tage im August», Folio, 2024, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 235 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-894-2
Für die Sommerferien darf Anna das Internat in der Stadt verlassen. Sie wird mit dem Motorrad von ihrem Vater abgeholt, der ihr unterwegs nach Hause befiehlt, mit der neuen Mutter freundlich zu sein. Wenn sie nicht zuhause ist, erkundet sie den Strand, hängt mit Gleichaltrigen herum und probiert die Wirkung ihrer Erscheinung auf all die gierigen Blicke vieler älterer Männer aus. Anna ist 14 und will wissen, was aus den Momenten am Strand zu holen ist. Sie ist alles andere als vorsichtig und zurückhaltend. Ich begleite Anna in Situationen, die mehr als nur knistern und jederzeit entgleiten könnten. Und doch bleibt Anna passiv, ihrer Wirkung aber voll bewusst. Nichts von der damals noch weitverbreiteten Vorstellung, ein junges Mädchen hätte die schiere Pflicht, vorsichtig und zurückhaltend, brav und anständig zu sein. Ihre Selbstbestimmtheit ist ihr Privileg. So ganz anders, als das, was man(n) damals wie heute noch vom Frausein erwartet.
In Dacia Marainis Roman scheint es kein Morgen zu geben. Weil man im tiefsten Innern weiss, dass bald kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wiederholt man mantraartig, dass der Krieg nicht mehr lange dauern wird. Was auf den italienischen Faschismus folgen wird, auf die drohende Niederlage, den Zusammenbruch des momentanen Machtgefüges, damit will man sich nicht auseinandersetzen. Nicht einmal Annas Vater, der als Werkstattchef in der Wohnung unter seinem Chef lebt und seine neue Frau regelrecht bändigen muss, weil diese den Umsturz auch in der kleinen Firma wittert, ein Umsturz zu ihren Gunsten. Man lebt mit permanenter Angst, die jungen Männer mit der, doch noch eingezogen zu werden, die Einwohner vor den drohenden Bomben und viele mit dem Untergang der aktuell Mächtigen die zu erwartenden Konsequenzen.
Dacia Maraini erzählt in „Tage im August“ konsequent aus der Sicht einer ganz jungen Frau, (Ganz hinten im Buch steht: Auf Wunsch der Autorin wurde für diese deutsche Ausgabe das Alter der Protagonistin von elf auf vierzehn Jahre geändert.) eines Mädchens, dass sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst ist und die wissen will, was sie damit auslösen kann. Ich las den Roman mit grossem Erstaunen, denn in keiner Zeile, nicht einmal in der Art des Erzählens verrät der Roman sein Alter. Er ist so jung und frech wie damals, auch wenn er heute keinen Skandal mehr auslöst. „Tage im August“ ist unbedingt lesenswert. Man riecht ihn!
Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.
Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin, Moderatorin und Yogalehrerin.
Woran hält man sich, wenn einem der Boden unter den Füssen weggerissen wird? Was passiert, wenn alle Sicherheiten wegbrechen? Wie schon bei Franszika Gänslers Debüt „Ewig Sommer“ geht es in ihrem neuen Roman um Existenzielles. Eine junge Frau sucht nach Erklärungen und muss feststellen, dass ihr Leben auf Sand gebaut ist.
Nichts von früher hätte sich in „behütete Kindheit“ einordnen lassen. Vielleicht die innigen Momente zusammen mit ihrer kleinen Schwester Oda. Die Jahre damals im umgebauten Bauwagen am Meer in den Dünen, als Zoeys Welt aus der Zweisamkeit mit ihrer Schwester bestand, der kleinen Welt an der Küste. Aber als vor zwanzig Jahren ihre kleine Schwester verschwand, sich das ruhige Leben am Meer mit einem Mal umstülpte, alles und jeder eine Antwort verweigerte, als sie zusammen mit ihrer Mutter zurück nach Berlin reiste in eine ihr fremde Stadt und sich das Verschwinden ihrer kleinen Schwester wie ein Alp an ihr Innerstes klebte, löschte ihre Mutter die Vergangenheit. Oda schien nicht einmal mehr in Erinnerungen zu existieren. Aber das Gefühl einer Mitschuld blieb.
„Wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf.“
Zwanzig Jahre später ist Zoey zurück an jenem Ort am Meer. Sie wartet auf die sterblichen Überreste ihrer Mutter, die sie in den vergangenen Jahren bis zur Selbstaufgabe gepflegt hatte. Ihre Freundin Ari organisiert alles, während Zoey in diesen Tagen spürt, wie sehr sie die Pflege ihrer Mutter von der Welt entfernt hatte. Aber nicht nur von der Welt. Auch von ihren Erinnerungen an die Jahre am Meer, ihren Erinnerungen an ihre kleine, verschwundene Schwester Oda. Die letzten Jahre galten ihrer Mutter und ihrer Arbeit, schlossen alles andere aus, selbst das Wissen, dass da doch eigentlich viel mehr sein müsste, nicht zuletzt ein Vater, eine Familie, ein Leben hinein in die Welt.
Franziska Gänsler «Wie Inseln im Licht», Kein & Aber, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5034-1
In den Tagen des Wartens macht sich Zoey auf die Spuren in ihren Erinnerungen. Den Campingplatz gibt es noch, auch die umgebauten Bauwagen ganz hinten vor dem Wald. Der Wagen, den sie mit ihrer Mutter und Oda bewohnte, zerfällt. Nicht so die Bilder, die wieder aufsteigen auf ihren Streifzügen durch den Ort. Sie lernt Menschen kennen, die Zweifel auslösen. Sie wagt nach zwanzig Jahren den Gang zur Polizei und muss feststellen, dass damals keine Vermisstenmeldung aufgegeben wurde. Im Archiv der örtlichen Zeitung findet sie keine Meldung, als hätte es die Katastrophe damals nicht gegeben. Das, was sie sich in den zwei Jahrzehnten des Schweigens, der Verdrängung zurechtgelegt hatte, beginnt nach und nach zu bröckeln.
„Die Mutter, Oda und ich. Wir waren ein Körper mit drei Köpfen, und der Wagen war unsere Höhle.“
Oda war fünf, Zoey sieben. Als Oda verschwand, waren sie beide allein. In Zoeys Erinnerung gingen sie zusammen in den Wald. Und Zoey kehrte allein zurück. Warum waren sie damals allein? Wer waren die Menschen, die damals im Wald waren und zumindest in ihrer Erinnerung Deutsch sprachen? Warum verliessen sie fluchtartig den Campingplatz am Meer, um nach Deutschland zurückzukehren? Warum wartete man nicht? Warum suchte man nicht? Fragen, die jetzt zu brennen beginnen. Fragen, die sich erst jetzt, nachdem Zoey sich aus der allumfassenden Umklammerung ihrer Mutter lösen kann, mit aller Vehemenz aufdrängen und Antworten fordern, Antworten, um ihr Leben wieder aufnehmen zu können.
„Ich versuche irgendwie, nicht zu ertrinken.“
„Wie Inseln im Licht“ lebt von dieser Vehemenz. Zoey spürt erst jetzt, wie sehr sich das Schweigen, das Verschweigen, das Verleugnen wie ein Gewitter über ihr zusammenzieht. Dass sie erst dann in ihr Leben zurückkehren kann, wenn Fragen beantwortet sind und sie sich an Gewissheiten festhalten kann. „Wie Inseln im Licht“ ist die Entladung dieses einen Gewitters. Ein Sturm, der durch ein Haus aus Ahnungen und Interpretationen fegt. „Wie Inseln im Licht“ ist ein Buch der Befreiung, das sich aber nicht in erster Linie auf die Auflösung bohrender Fragen fokussiert, sondern auf die Auswirkungen jenes Sturms in der gebeutelten Seele einer jungen Frau. Franziska Gänslers Roman folgt einer verschlungenen Spur nach Innen und Aussen, in einer Sprache, die von Verletzlichkeit und Sehnsucht erzählt.
Ein Buch, das man nicht so einfach zurück ins Regal schiebt!
Franziska Gänsler hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 war sie Finalistin des 28. open mike. Ihr Debütroman «Ewig Sommer» erschien 2022, er wurde ins Französische übersetzt, für diverse Preise nominiert und 2023 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur sowie mit dem Literaturförderpreis der Stadt Augsburg ausgezeichnet. Sie lebt in Augsburg und Berlin.
Weil die Kosmetikbranche alles tut, um uns glauben zu lassen, Alterungsprozesse liessen sich aufhalten oder wenigstens verzögern und die Pharmaindustrie mit Hochdruck und gewaltigen Budgets an Anti-Aging-Mitteln arbeitet, ist der gedankliche Versuch, was passieren würde, wenn ein solches Medikament kurz vor dem Durchbruch stünde, absolut dringlich. Maxim Leo tut dies mit „Wir werden jung sein“ mit viel Spannung und grosser Leidenschaft.
Manchmal überfällt mich der Gedanke an meine eigene Endlichkeit, mein Sterben, meinen Tod wie ein Gewitter, das sich direkt über mir mit aller Wucht entlädt. Je nach Alter und gesundheitlicher Situation beschäftigen wir uns mehr oder weniger, oder auch gar nicht damit. Aber wer sich durch Krankheit oder das Schicksal mit einem Mal mit seinem baldigen Ende konfrontiert sieht, dem stellen sich existenzielle Fragen. Wie keine andere Kunstform kann es die Literatur, ein Gedankenexperiment durchzuspielen; Was wäre wenn? Was wäre, wenn man mich totkrank anfragen würde, als Proband bei einer wissenschaftlichen Erprobung eines Medikaments mitzumachen, das Heilung verspricht, mein Leben verlängern könnte, aber mit noch unbekannten Nebenwirkungen einhergehen würde? Was wäre, wenn ein solches Medikament mit genau diesen Nebenwirkungen nicht nur eine Stärkung der Abwehr bewirken würde, sondern eine eigentliche Verjüngung? Was würde mit der Industrie, der Politik, unserer Gesellschaft passieren, wenn wir die Dauer unseres Lebens fast beliebig verlängern könnten? Wenn man nur ein bisschen im Internet recherchiert, scheint man nicht weit weg von der Entwicklung eines solchen Wundermittels zu sein. Maxim Leos Roman „Wir werden jung sein“ ist ein genau solches Gedankenexperiment, fein durchdacht, mit einem erstaunlich milden Ausgang.
Professor Doktor Martin Mosländer arbeitet seit Jahren in seinem Labor im Institut für Biowissenschaften an der Berliner Charité an einem Medikament, das kranke Herzmuskelzellen regenerieren und sogar in der Lage sein soll, das Wachstum neuer Zellen anzuregen. Sein Ziel; chronische Herzmuskelschwächen, die bisher als nicht behandelbar galten, zu kurieren. Für einen ersten „Feldversuch“ im kleinen verabreicht Mosländer sein vielversprechendes Medikament fünf Proband*innen: dem Teenager Jakob, der eben zum ersten Mal sein Herz verlor, Jenny, die seit vielen Jahren alles daran setzt, schwanger zu werden, Verena, einer ehemaligen Schwimm-Olympiasiegerin, Wenger, einem schwerreichen Immobilienmogul, der es gewohnt ist, sein Tun zum Gesetz zu erklären und sich selbst, weil er fand, ein echter Forscher dürfe nicht anderen unerprobte Mittel verabreichen, ohne sie selbst einzunehmen. Selbst seinen in die Jahre gekommenen Collie Charles hat er von dem Medikament unter das Futter gemischt.
Das mit der Jugend (…) funktioniert leider nicht. (…) Weil Jugend vor allem im Kopf stattfindet. Man bekommt die Begeisterung nicht zurück, die Naivität, die Neugier. Und diese ständigen ersten Male.
Maxim Leo «Wir werden jung sein», Kiepenheuer & Witsch, 2024, 304, CHF ca. 35.90, ISBN: 978-3-462-00375-8
Was auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt und nicht nur bei Mosländer und seinen Proband*innen Euphorie und Hoffnung weckt, wächst sich schnell durch seine unvorhersehbaren Konsequenzen ins Unberechenbare aus. Was für den herzkranken Wenger, der bereits sein Ableben akribisch vorbereitete, wie ein Geschenk erscheint, dem jungen Jakob mit einem Mal seine erst erwachende Manneskraft raubt, der Schwimmerin ganz unerwartet zu sportlichen Höhenflügen verhilft, stürzt die noch junge Jenny in ihrem Wunsch nach Familienglück in eine existentielle Zwickmühle und Mosländer vor fast unlösbare Probleme, nicht nur medizinischer Art. Der vermeindliche Erfolg des Medikaments lässt sich nicht geheim halten und löst eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus. Nicht nur, dass sich die Pharmaindustrie, die Wissenschaft global dafür zu interessieren beginnt. Auch zwielichtige Organisationen wittern das grosse Geschäft. Aus den Proband*innen voller Hoffnungen werden Gejagte. Die Situation kollabiert.
„Es war so, als hätte man einen Motor in ein Auto eingebaut, ohne zu wissen, wo sich das Gaspedal und die Bremse befanden.“
Was geschieht, wenn Menschen ihre Lebensdauer aktiv in die Länge ziehen können? Wenn ein Medikament berechenbaren Aufschub verspricht? Wenn Zeit mit einem Mal nur noch eine untergeordnet Rolle spielt? Wenn die Menschheit sich nicht mehr durch Geburten erneuern muss? Immer wieder kam es in der Wissenschaft zu Entdeckungen, die Kolossales versprachen, in ihren „Nebenwirkungen“ aber katastrophale Wirkungen erzielten. Warum tickt der Mensch aus, wenn er Licht am Ende eines Tunnels sieht? Maxim Leo stellt sich diesen Fragen, hängt sie ganz unmittelbar an das Leben seiner Proband*innen. Auch wenn ich dem Buch einen etwas weniger schlacksigen Ton gewünscht hätte und ich dem Ende etwas mehr Pepp, ist „Wir werden jung sein“ eine Fragestellung, die sich aufdrängt!
Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.
Seit seinem Roman „Morphin“ (2012) gehört Szczepan Twardoch zu den ganz grossen und eigenwilligen Schriftstellern der Gegenwart. In seinen düsteren, beinah apokalyptischen Romanen, die nichts beschönigen und die Abgründe menschlichen Seins mit Tiefenbohrungen bis ins Rückenmark sondieren, keimt wenig Hoffnung. Und gerade deshalb sind Bücher wie sein neuer Roman „Kälte“ existenziell.
„Kälte“ ist nichts für zarte Seelen, keine Erbauungsliteratur, schon gar keine Nachttischlektüre. „Kälte“ fasziniert und schreckt ab, pulverisiert Illusionen, zeigt mit letzter Konsequenz, dass sich Menschsein schlussendlich nur noch auf den letzten Drang zu überleben reduzieren kann – koste es, was es wolle. „Kälte“ ist grosse Literatur, die sich um die grossen Fragen des Lebens dreht: Was bleibt, wenn nichts mehr hält? Was macht Menschsein aus? Gibt es Hoffnung? „Kälte“ ist ein Roman, der in die Knochen fährt, der während des Lesens die Haut erschaudern lässt und zeigt, worin die Kraft der Literatur liegt; in der Berührung.
Konrad Widuch, aus dem schlesischen Polen, reist in den Wirren der russichen Revolution nach Osten, schliesst sich den Trotzkisten an und gründet mit der Revolutionärin Sofie eine Familie, überzeugt davon, Teil einer neuen Weltordnung zu werden. Aber in den Wirren verschiedener Auffassungen von Revolution und dem uneingeschränkten Machtanspruch Stalins zwingt die Zeit Sofie mit den Kindern zur Flucht und Widuch in ein riesiges sibirisches Gulag, einen Ort, über den ich nicht schreiben und dessen Namen ich nicht erwähnen will (Dalstroi). Widuch gelingt mit zwei düsteren Gefährten die Flucht, nicht weil er an eine Rückkehr nach Hause glaubt, aber weil es die einzige Chance ist auf einen letzten Rest Freiheit.
Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2
Nichts an seiner endlos lange werdenden Flucht ist ein Ankommen. Neben der arktischen Kälte und den Wintermonaten in absoluter Dunkelheit, gepeinigt von Hunger und Krankheiten, findet Widuch mit seinen beiden Gefährten Schutz bei einem weitgehend autark lebenden Taigavolk, wo man ihnen in einer Mischung aus traditioneller Gastfreundschaft und Misstrauen begegnet, sie leben lässt, bis ein Flugzeug aus der Zivilisation die Bedrohung nicht zu Widuch und seinen Gefährten bringt, sondern zur ganzen Siedlung, die abgeschottet vom Weltgeschehen lebt, in einer Ordnung, die einer neuen Weltordnung viel näher kommt als der russische Kommunismus. Nach einem weiteren Blutbad ist Widuch erneut auf der Flucht, am Schluss nur noch auf sich selbst gestellt, bis er im Eis eingeschlossen die Invincible findet, ein Schiff aufs Eis gedrückt und zwei Männer, die auf den Sommer und die Weiterfahrt auf dem Weg zur arktischen Nordostpassage warten. Irgendwann ist Widuch auch auf diesem Schiff allein, wo er mit den Aufzeichnungen seiner langen Reise nach Nirgendwo beginnt, einem Monolog gegen die Einsamkeit, gegen den Wahn.
Jahrzehnte später gelangen diese Aufzeichnungen zu Borghild Moen, die im Sommer 2019 mit ihrer Jacht Isbjørn im Hafen von Pyramiden, einem ehemals sowjetischen Bergbaudörfchen auf Spitzbergen dem Schriftsteller Szczepan Twardoch begegnet, der sich dort eigentlich hätte zurückziehen wollen. Raus aus der Schlinge des Lebens. Borghild gibt Twardoch die Aufzeichnungen zu lesen, nicht nur in der Hoffnung, einen geeigneten Adressaten zu finden, denn Borghild ist unheilbar krank. Die Aufzeichnungen von Konrad Widuch sind die ihres Vaters.
„Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.
Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. „Kälte“ ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken. Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.
In seiner ganz eigenen Kraft strotzend!
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.
Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Wenn ein schmales Buch mit „Eine Sommernovelle“ untertitelt ist, ist man versucht, es für ein flockig leichtes Geschichtchen zu nehmen. Was in seiner Tonalität ein bisschen verklärt und fast antiquiert daherkommt, offenbart Tiefen, die überraschen. „Die Yacht“ ist ebenso melancholisch wie tiefgründig. Anna Katharina Fröhlichs Novelle mahnt zur Ehrlichkeit.
Anna Katharina Fröhlich lebt in Italien. Sie kennt das Licht, die Gerüche und Geräusche, den Geschmack und den Duft. Wer „Die Yacht“ liest, taucht, nimmt all dies mit, taucht ein in eine Welt, die zumindest ich, nur von Urlauben kenne. Und Anna Katharina Fröhlich beherrscht in ihrer Sprache eine Kunst, die mich staunen lässt, etwas, was mich auf den ersten Seiten misstrauisch machte, weil ich mich selbst beim Schreiben davor hüten würde; Anna Katharina Fröhlich mischt in ihre Novelle Adjektive derart üppig, dass ihre Sprachmelodie im ersten Moment fast aufgeblasen scheint. Aber ihr grosszüger Umgang mit dieser Wortart korrespondiert mit der Welt, die sie beschreibt. Auf der einen Seite lebt dieses Buch von sinnlichen Eindrücken, zum andern beschreibt sie sehr genau die Oberfläche, sei es die der Dinge, der Menschen und der Innenwelten.
„Hinsehen ist besser als denken, weil sehen auch erschaffen bedeutet.“
Martha Oberon ist eine junge Frau, die in einer italienischen Kleinstadt nicht nur die Ruhe, die Distanz, Antworten und eine Richtung sucht, sondern sich selbst. Ausgebrochen aus der Enge ihres Elternhauses und den Verwirrungen ihrer Gegenwart will Martha herausfinden, wie sie dorthin gelangt, wo sie einst ihr Grossvater hinsteuern wollte. Marta zeichnet. Sie besucht in der kleinen Stadt in Italien einen Malkurs. Aber sie will mehr. Sie will Wegweiser.
Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Matthes & Seitz, 2024, 164 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-7518-8012-1
Sie lässt sich ein in das Leben dieser Stadt. An einem Sonntagmorgen lernt sie in einer Bar einen Mann mit einer Rose im Knopfloch kennen. Salvatore Spinelli. Ein seltsam aus der Zeit gefallener Herr, auf den ersten Blick mit gediegener Eleganz, bei genauerem Hinschauen; geflickte Löcher in seinem weissen Hemd, ein Riss im Ärmel seiner Leinenjacke. Sie kommen ins Gespräch und Martha fühlt, bei ihm etwas gefunden zu haben, wonach sie schon so lange gesucht hatte. Spinelli zeigt ihr jeden Winkel der Stadt. Jeder und jede kennt ihn, weiss von seiner Armut, seiner Offenherzigkeit, seinem Charme. Er ist ein Teil dieser alten Mauern, ein Überbleibsel einer Welt, die sich im Bann moderner Kommunikationsmittel und dem Stress der Gegenwart zu verlieren droht. Spinelli öffnet sie in eine Welt, von der sie mit ihrer Art des Zeichnens ahnte. Mit einem Mal scheint sich aufzutun, was ihr bisher verschlossen blieb.
„Spinelli war der einzige Mensch, den sie kannte, der keinen Beruf, keine Versicherung, keinen Status, kein Bankkonto, keine Frau und keine Kinder hatte, in denen er das Erbe seines Wesens hätte sichern können. Er vertrat nichts und niemanden mehr ausser sich selbst.“
Spinelli lädt sie ein zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien. Dort kennt er die Tabarins. Ein Paar, das in einem weissen Haus auf einem Felsplateau über dem Meer wohnt, das es vor Jahren im Zuge einer Kunstvermittlung kennengelernt hatte. Dort residiert man, von Bediensteten umgarnt, lädt andere Reiche ein, tummelt sich in der Gewissheit, dass einem die Welt gehört. Martha, gleichsam fasziniert wie verunsichert lernt die Malerin Mrs Moore kennen, eine alte Bekannte von Spinelli. Die eigenwillige Künstlerin macht ihr das Angebot, sie zu malen und sie in ihre Kunst einzuführen. Ein Angebot, das für Martha nach Erfüllung riecht und ihrem Leben mit einem Mal Richtung gibt.
Bei einer der Fahrten mit der Yacht der Tabarins, der Devil’s Kiss, lernt Martha den in Tabarins Diensten stehenden Balthasar kennen, der eigentlich Griša Pavloviç heisst und mit dem Namenswechsel seiner Herkunft zu entfliehen versucht, ein Verbündeter, später ein Geliebter. Aber Martha muss schmerzhaft erfahren, dass die Welt im weissen Haus über dem Meer und der mit allem Luxus ausgestatteten Yacht, wie alles eine Welt des Scheins, eine perfekt inszenierte Kulisse ist.
„Den wahren Träumer sehe ich als Jäger, der in dem unergründlichen Dickicht des eigenen Bewusstseins Jagd auf etwas Fliehendes macht, das seine Existenz auf dieser Welt rechtfertigt.“
Anna Katharina Fröhlich konfrontiert ihre Protagonistin Martha durch eine eigentliche Schule des Sehens mit den Untiefen des Lebens. Einziger Leuchtturm ist Salvatore Spinelli, ein Mann, der sich aus allem herauszuhalten scheint, es aber versteht, den kleinen Geheimnissen des Lebens gegenüber offen zu sein. Ein Mann, der sich der Moderne verweigert. Ein Mann sich in einer Unmittelbarkeit dem Leben stellt, die ihn seltsam fremd und dafür umso faszinierender macht.
Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane «Wilde Orangen», «Kream Korner», «Der schöne Gast» und «Rückkehr nach Samthar». Zuletzt erschien ihr Roman «Die Yacht» in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.
Man lese und staune! Julia Josts Debüt mit dem sperrig langen Titel «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ ist ein literarisches Feuerwerk, ein barock anmutendes Sittengemälde südkärtnerischer Eigenheiten in bester österreichischer Fabuliertradition. Was hier an Kraft und Intensität gedeiht, ist betörend und verblüffend.
Vordergründig erzählt Julia Jost in ihrem einzigartigen Erstling vom Aufwachsen in Südkärnten, in einer rechten, nationalistisch geprägten Umgebung in den 80ern und 90ern, einem Land, einem Bundesstaat, der sich mit den politischen Kräften rund um den Populisten Jörg Haider damals in eine Richtung aufmachte, aus der Österreich bis in die Gegenwart nicht in der Lage ist, auszusteigen. Julia Jost erzählt von einem elfjährigen Kind, dass sich schon als Mädchen nicht in die ihr zugedachte Rolle einfügen will, das ihre Andersartigkeit spürt, das sich unter einem Lastwagen versteckt, um dem geschäftigen Treiben auf dem Gratschbacherhof zuzuschauen, die lieber mit ihrer Freundin Luca spielt, um sich nicht einholen zu lassen von den aus- und einladenden Geschehnissen auf dem Hof ihrer Eltern und Grosseltern.
Julia Jost «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht», Suhrkamp, 2024, 231 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43167-2
Ihr Vater ist mit seinen Geschäften zu Geld gekommen, zu viel Geld. So viel Geld, dass weder Vater noch Mutter in der Lage sind, das Geld standesgemäss auszugeben. Also zieht man um, vom Gratschbacherhof am Fuss der Karawanken, nicht weit von der Drau, dem Fluss, der Kärnten in Nord und Süd teilt, in die Stadt. Weg vom Gasthof, der der Gratschbacherhof ist und war, in dem sich all die mehr oder minder Originale trafen, kein Geheimnis Geheimnis blieb und die rechts-nationalistische Gesinnung, die auch an den Wänden prangt, bis hin zu einem alten, vergilbten Ariernachweis der Familie aus allen Poren trieft. Schuldgefühle ihrer Mutter, die sich mitverantwortlich fühlt für den Tod eines Kindes, ein Junge, der kopfüber in einem tiefen Brunnen starb mit einem Messer mit der Gravur ‹Meine Ehre heißt Treue’ aus der Waffenkammer seines Grossvaters im Bauch.
«Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille.»
Auf dem Hof stapeln sich Berge von Material; Möbel, Kleider, Uhren, Schmuck… Dinge mit denen man Dutzende Haushalte ausrüsten könnte. Zeugnisse eines rauschhaften Lebens einer Frau, die nie zur Ruhe kommt, die das ganze Leben zu einer einzigen Kompensation macht, einer einzigen Busse für eine Existenz am Rande des Wahnsinns. Es versteckt sich nur das Kind, unter dem Lastwagen, der das ganze Zeug an den neuen Ort bringen soll, in die Stadt, wo ein neues Leben beginnen soll, weg vom Gratschbacherhof, in dem sich all die Dämpfe, Gerüche und Gase aus der Vergangenheit mit aller Hartnäckigkeit festhalten.
Das Faszinierende an diesem Roman ist aber weder die Geschichte noch das Szenario. Die Österreichiche Literatur ist voller Abrechnungen, Rundumschläge, Beschimpfungen und Triaden. Julia Josts Szenerie erinnert an die gnadenlos frechen Zeichnungen des 2016 verstorbenen Karikaturisten Manfred Deix, an die messerscharfen Antiheimatromane eines Josef Winklers oder die schäumende Sprachlust der in diesem Jahr verstorbenen Schriftstellerin und Malerin Helena Alder. Es ist die schiere Sprachlust und Sprachkunst, der fast atemlose Rhythmus, der erst bei der lauten Lektüre zum Tragen kommt. Es sind die barocken, verspielten, überbordenden Bilder, der lange Atem, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zieht. Da schreibt jemand, der von einer ganzen Horde von Geistern geritten wird. Zugegeben, man muss sich in diese Wort- und Satzkaskaden einlassen. Aber wenn man sich bei der Lektüre betören lässt, wird es zu einem wilden Ritt auf den Zacken der Krawanken! Ein literarischer Hochgenuss!
Julia Jost, geboren 1982 in Kärnten, Österreich, studierte Philosophie, Bildhauerei und Theaterregie. Sie arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie u. a. am Thalia Theater Hamburg. 2019 wurde sie für einen Auszug aus «Wo der spitzeste Zahn der Karawanen in den Himmel hinauf fletscht» mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Ihr Theaterstück «ROM» feierte im April 2024 am Volkstheater Wien Premiere. Julia Jost lebt in Wien und Berlin.
Vielleicht beschreibt „Familie“ das engste Band, den grössten Anker, mit dem wir uns durch ein Leben mit vielen Ungewissheiten trauen. Kein Wunder, ist kein Gefüge derart mit Idealen, Vorstellungen und Erwartungen behaftet wie „Familie“. Ursula Fricker lotet in ihren Romanen immer wieder dieses filigrane Gefüge aus. „Fangspiele“ ist ein Roman über die Blendungen der „Freiheit“.
Was Freiheit bedeutet oder wie frei wir uns in Wirklichkeit in unserem Leben bewegen, darüber streitet nicht nur die Politik und die Philosophie. Wie sehr die Freiheit des einen zur Last des andern werden kann, davon gibt es unzählige kleine und grosse Beispiele. Beispiele, die sich bis zur Katastrophe auswachsen. Nach welchem Massstab agieren wir? Was lässt uns etwas tun und was verhindert, etwas zu tun? Wie sehr lassen wir uns in unserem Leben einschränken, um Konventionen zu genügen, Rollen einzunehmen? Wie weit haben wir das Recht, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Wünsche zur allumfassenden Rechtfertigung unseres Tuns zu erklären?
Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-7152-5036-6
Ines und Lenni sind ein modernes Paar, beide erfüllt in ihrem Beruf, auch wenn sich beide im Laufe ihrer Karriere anzupassen hatten. Sie kauften sich am Stadtrand Berlins ein Haus über einem kleinen See, renovierten es mit Hilfe ihrer Freunde zum grössten Teil eigenhändig und freuen sich am musikalischen Feingefühl ihrer einzigen Tochter Lea. Eigentlich passt alles. Eigentlich. Scheinbar. Ganz zufällig, wegen einer Autopanne, lernen sie Edda kennen, eine charismatische, eigenwillige Frau in ihrem Alter, die mit einem Mal in ihr unaufgeregtes Leben tritt und alles aufmischt. Edda bewegt sich in der Theaterszene, wirbelt durch die Kunstwelt. Nicht nur auf der Bühne bleibt kein Stein auf dem andern, lösen sich Gewissheiten auf, reisst die Action Gewachsenes in ihren Strudel.
Auch ihre Tochter Lea schält sich aus ihrer Rolle als braves Kind, emanzipiert sich mehr und mehr, hängt ab mit ihrer Freundin Peggy. Plötzlich ist der Wunsch nach einem Tatoo viel dringlicher als das tägliche Cellospiel, obwohl Leas Lehrerin dem Mädchen ein grosses, auf keinen Fall zu vernachlässigendes Talent zuspricht. Auch Lenni hängt mit seinen Gedanken der einen oder andern verpassten Chance nach, nicht zuletzt dem versäumten Einstieg in die Forschung. Das Wartezimmer seiner Hausarztpraxis ist zwar immer voll. Aber auch er fühlt sich mehr und mehr in einem Zustand des Wartens.
«Was ist Einbildung und was ist real?»
Bis sich Lennis Frau Ines mehr und mehr von ihrer neuen Freundin Edda in ihre Theaterwelt einspannen lässt. Bis Ines mehr und mehr klar zu werden scheint, dass ihre eigentliche Berufung in den umtriebigen Theaterprojekten ihrer neuen Freundin liegt, Ines immer öfter abtaucht, manchmal auch für ein paar Tage. Bis man Lenni zu verstehen gibt, dass Ines auch an ihrem Arbeitsplatz das eine oder andere Mal unentschuldigt fehlte. Bis Ines bei einem Auftritt ihrer Tochter Lea trotz eines Versprechens wegbleibt. Nicht nur, dass sich Ines mehr und mehr aus dem Familiengefüge entfernt. Lenni weiss nicht, wie ihm geschieht. Was geschieht mit seiner Frau? Welche Rolle spielt die Frau, der man einst am Strassenrand aus der Patsche half? Warum wird aus Zweisamkeit, aus einer Familie plötzlich ein Trümmerfeld, in dem die letzten Gewissheiten einzustürzen drohen?
Und als Jasper, ein Freund aus alten Tagen ihm ein Angebot zurück in die Forschung macht, Lea die Aufnahmeprüfung an ein angesehenes Musikgymnasium schafft und sich die Bande zwischen Lenni und seiner Tochter Lea in der Not mit einem Mal verfestigen, als Lenni mehr und mehr hinnehmen muss, dass der Kampf um seine Ehe, die Mutter seiner Tochter aussichtslos wird, beginnen jene Fragen aufzuflammen, denen er sich ein Leben lang verweigerte.
„Fangspiele“ ist eine heftige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Zeit: Wo beginnt Manipulation? Was bedeutet „persönliche Freiheit“? Wie weit kettet uns Verantwortung? Ursula Frickers literarische Auseinandersetzung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit fahrlässiger Sicherheit bewegen. Wie schnell Gewissheiten kippen können. Ursula Frickers Roman ist fein gesponnen und zeigt gekonnt, wie sehr wir uns in Automatismen bewegen, wie sehr wir gefangen sind von uns selbst. Wie schnell die Freiheit des einen zum Zwang des andern wird. Wie sehr die Befreiung dort zur Katastrophe hier werden kann.
Unbedingt lesen!
Interview
Keiner meiner Lebensabschnitte zeigte mir deutlicher, wie verwundbar das Gefüge „Familie“ ist, wie die Corona-Zeit. Wie verletzlich. Wie ausgesetzt. Leben wir nicht viel zu sehr in scheinbaren Gewissheiten? Richten wir uns nicht viel zu selbstverliebt ein Leben ein, das gefälligst nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu funktionieren hat?
Interessant an der Corona-Zeit war ja, dass Familien, von denen man glaubte, sie funktionierten recht gut, durch die erzwungene permanente Nähe an ihre Grenzen kamen. Zumindest in meinem Bekanntenkreis konnte ich das beobachten. In normalen Zeiten ist man ja selten so viel zusammen, man arbeitet, die Kinder sind in der Schule, man trifft sich vielleicht morgens zum Frühstück und abends zum Essen. Und plötzlich teilt man sich Ort und Zeit vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die kleinen Freiheiten, die Nischen, die man sich geschaffen hat, werden ausgefüllt von der Präsenz der anderen. Man fühlt sich, man ist, unter Dauerbeobachtung. Leise und vorsichtig stellt sich die Frage, ob ein Zusammenleben über Jahrzehnte überhaupt nur klappt, indem man sich den grössten Teil der Zeit aus dem Weg gehen kann.
Wenn man länger mit jemandem zusammen lebt, lernt man den andern auf eine bestimmte Weise kennen. Man ist gezwungen, ihn, zumindest teilweise, in das eigene Selbst zu integrieren. So ergeht es auch Lenni und Ines. Gewiss- und Geborgenheit, aber auch Abhängigkeiten und Gewohnheiten ergeben ein Lebensgefüge. Vielleicht scheint es zunächst eine Anmassung, sich das Leben möglichst nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen einrichten zu wollen, aber es ist doch auch zutiefst menschlich. Im alltäglichen Zusammenleben allerdings, auch ohne Corona, sind Kompromisse unerlässlich. Gut, wenn das Zurückstecken gerecht verteilt ist. Ist es aber in den seltensten Fällen.
Im Roman gibt es ja Verweise auf die Mutter von Ines, Grete, auch sie Ärztin, eine kernige, selbstbewusste Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie emotional misshandelt: Sind das nun Gretes Bedürfnisse, die dieser Mann abdeckt, oder warum bleibt sie bei ihm – und zwar freiwillig. Selbe Frage stellt sich bei Ines und Edda: Warum verharrt eine bisher selbstbestimmt lebende Frau in einer toxischen Freundschaft, obwohl sie diese jederzeit beenden könnte. „Edda ist nicht Mafia“, reflektiert Lenni an einer Stelle, „sie würde kein Rollkommando schicken, im Gegenteil, sie würde Ines morgen früh schon ersetzt und sie abends vergessen haben …“ Mich haben die beiläufigen psychologischen Mechanismen interessiert, die Menschen (jenseits ökonomischer Zwänge) veranlassen, illiberale Bedingungen nicht nur zu tolerieren, nein, sie sogar zu suchen.
Edda bringt das Leben von Lenni und Ines umfassend durcheinander. Für Ines die Befreiung, für Lenni die Katastrophe. «Was ist Einbildung und was ist real?“, schreibst du in deinem Roman. Ist nicht jede Wahrheit eine ganz persönlich gefärbte? Eine nur aus der persönlichen Geschichte zu begreifende?
Der Roman, aus Lennis Perspektive erzählt, ist ja auch eine Manipulation (des Lesers, der Leserin). Was Einbildung ist und was real, diese Ambivalenz durchzieht die ganze Geschichte. Auch Lennis Forschungsgegenstand, Placebo-Einsatz in der praktischen Medizin, streift diesen Komplex: Einbildung kann zu einer durchaus realen Verbesserung unterschiedlichster Beschwerden beitragen. Und ja, jede Wahrheit ist natürlich eine persönlich gefärbte. Aber was bedeutet „persönlich“, gibt es so etwas wie eine reine eigene Wahrheit überhaupt? Auch die eigene Wahrheit ist ja beeinflusst von Dingen, die wir lesen oder hören, von Moden und Trends. Von Menschen, die wir bewundern, denen wir nacheifern, mit denen wir uns identifizieren und vergleichen. „…wo verbindet der fremde Einfluss sich mit dem eigenen Wollen, und wie viel Mischung verträgt ein eigener Wille, um nicht plötzlich rot statt blau zu sein?, fragt Lenni an einer Stelle. Ein schmaler Grat also. Man spricht heute ja oft von „Blasen“.Je nachdem in welchem Umfeld wir uns bewegen, kann die „Wahrheit“ einer solchen Gruppe als ureigene Meinung/Ansicht empfunden werden bzw. ist sicherlich die Neigung wiederum sehr persönlich, welchem Umfeld man sich zugehörig fühlt. Früher gab es dieses Phänomen der „Blase“ natürlich auch schon, aber die Wucht der gegenseitigen Bestärkung, die Ausschließlichkeit und auch die Unversöhnlichkeit potenziert sich, seit wir Social Media haben – gepaart mir einer zeitgeistigen Überinterpretation des eigenen Gefühls bzw. der Unfähigkeit, Gefühle mittels rationaler kritischer Distanz zu reflektieren.
Dass sich Katastrophen kulminieren können, wissen wir aus unserem Leben selbst. Und dass der Satz „Eines Tages wirst du wissen, wie sehr du in jenen Momenten gewachsen bist“ dann nichts Tröstliches hat, wissen wir auch. Wir wissen auch sehr wohl, wie schnell Gewissheiten wegbrechen können. Und trotzdem öffnen sich Abgründe. Warum sind wir so harmoniebedüftig?
Gewissheit ist ja erstaunlich selten mit „wirklich wissen“ assoziiert und noch seltener mit Wissenschaft, vielmehr mit Erfahrung, mit Glauben, Vertrauen, mit Gefühl. Gewissheit ist also eine subjektiv geprägte, persönliche oder auch gruppenbezogene „Wahrheit“. Nehmen wir Gott als wohl bekanntestes Beispiel. Für Menschen im Mittelalter war Gott eine Gewissheit – durch vom Glauben geprägte Erfahrungen. Phänomene schrieb man umstandslos dem göttlichen Wirken zu. Gott (der Klerus) als unhinterfragbare Führungsinstanz lenkte und überwachte ein dichtes moralisches Regelwerk und verfügte entsprechende Sanktionen. Dem Einzelnen bot sich so eine Art Lebenskorsett. Eng geschnürt, aber auch Halt gebend.
Emanzipatorische Strömungen, auch die Trennung zwischen Kirche und Staat im Zuge der europäischen Aufklärung/Säkularisierung haben uns von diesem moralischen Rigorismus nach und nach befreit. Heute sehen wir, zum einen in den USA, zum andern in islamisch bzw. islamistisch geprägten Ländern, die nie eine Aufklärung im westlichen Sinn durchlaufen haben, aber dennoch eine Weile recht freie Lebensweisen pflegten, einen beispiellosen religiösen Backlash. In den westlichen Gesellschaften, die USA habe ich ja schon erwähnt, aber auch bei uns, scheinen aktuell ebenfalls diverse religiöse oder quasireligiöse Entwicklungen Fahrt aufzunehmen. Autoritäre Führungsfiguren, seien sie dem rechten Spektrum zuzurechnen, seien es Verfechter moralisierender Sprach- und anderer ideologisierter Regelkomplexe, die absolut gesetzt werden. Parallel ist eine Romantisierung vermeintlicher Befreiungsbewegungen zu beobachten – bis hin zur Kontextualisierung von nackter Barbarei und der Rechtfertigung von politisch-religiösen Agenden, die uns allen eigentlich den Angstschweiss auf die Stirn treiben sollten. Das ist schon einigermassen absurd.
Manchmal scheint mir, als ob kaum jemand so recht damit klarkäme, dass die Moderne dem Einzelnen viel Freiheit schenkt, aber auch viel Ambivalenz auferlegt. Dass das Böse nicht auf der einen, und das Gute auf der anderen Seite zu verorten ist. Vielleicht ist Freiheit ja eine so ungeheure Zumutung für den Menschen, dass er sich lieber autoritären Strukturen beugt, um dann umso heftiger von Freiheit zu träumen. Ich will das eigentlich nicht glauben.
Lenni glaubt an Manipulation; Edda ist die Zerstörerin. Lea, Ines und Lennis Tochter, versteht die Welt nicht mehr und verlässt in ihrer Not den Weg der Konfrontation, weil sie reflexartig spürt, dass mit dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Boden zu Teibsand werden könnte. Selbst die scheinbare „Befreiung“ von Ines ist ein Klammern. Das Klammern an einen Traum, eine Idee. Ist nicht alles die Hoffnung auf Rettung?
Das Interessante an Ines ist ja, wie sie mit ihrer kognitiven Dissonanz umgeht bzw. nicht umgeht. Einerseits ist da Ines` bisherige, ausgesprochen selbstbestimmte Weise zu leben. Andererseits Eddas Theater, Avantgarde, Edda eine charismatische Figur, ein Guru, wenn man so will, die Opferbereitschaft fordert, die sich willkürliche Bestrafungen erlaubt, manipulativ. Warum möchte Ines so unbedingt mit Edda befreundet sein, zu dieser Gruppe um Edda gehören? Ist es wirklich nur der Traum, endlich Theater machen zu können, oder spielt da auch ein sehr eitles Motiv mit rein; möchte sie einfach gerne einem elitären Kollektiv angehören, ist es eine Art Fetischisierung des Aussergewöhnlichen, Eddas Machtmissbrauch ein Zug, der genialen Menschen halt zusteht?
Will man irgendwo dazugehören, muss man sich im Grunde ja immer den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Umso dringender dieser Wunsch, desto unfreier macht man sich selber – und umso exklusiver ein „Club“, desto verzweifelter möchte man ihm angehören, nicht selten auch um den Preis der Selbstentmündigung.
Ja, Lea ist der Lichtpunkt in dieser Geschichte. Zumindest geht mir das so. Ein Mädchen, eine junge Frau, die unter den Entwicklungen in der Familie zwar leidet, aber intuitiv eine sehr eigenständige Stärke entwickelt. Verantwortung für sich selber übernimmt. Nicht primär nach der Schuld der anderen fragt, die Rettung nicht delegiert, sich selber rettet. Sie hält sich an das, was sie gut kann: das Cellospiel.
Ines verschwindet aus ihrem alten, angestammten Leben. Wie oft spielen wir mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir aus allen Pflichten und Zwängen aussteigen würden, kompromislos und unumstösslich. Wir kennen solche Biographien. Manche werden gar zu Heiligen. Und trotzdem zementieren wir unser Dasein, bis uns das Gewicht den Atem nimmt?
Der radikale Bruch. Die ultimative Befreiung. Bei Ines ist es ein wenig komplizierter. Sie geht ja nicht ins Offene; wenn man Lenni glauben will, vieles spricht dafür, begibt sie sich aus einer recht gleichberechtigten Partnerschaft sehenden Auges in eine manipulative Hölle. Mehr dazu habe ich ja oben schon ausgeführt.
Wenn jemand aber aus einem Impuls heraus einfach geht, dann möchte man ihm unbedingt folgen. Man möchte sehen, wie er sich durchschlägt, wie er an Geld oder Essen kommt, wo er schläft. Es scheint sich, dem Tramp ähnlich, heute hier, morgen dort, um die totale Freiheit zu handeln. Ist es natürlich nicht. Aus Pflichten lässt sich vielleicht aussteigen, aber nicht aus Zwängen: zu essen, zu schlafen. Ich würde sogar sagen, die Beschaffung von Essen, das Suchen eines sicheren Schlafplatzes, mit anderen Worten, das Stillen der elementarsten Bedürfnisse, kann zu einer echten Plage werden, der Überdruss bleibt nicht aus. So oder so, das Leben hat Längen. Über weite Strecken passiert nicht viel. Und man gewöhnt sich leider auch an das aufregendste Leben. Sind das Gründe, nicht davon zu träumen? Natürlich nicht. Die Idee, einfach alles hinter sich zu lassen, ist wohl nichts weniger als eine archaische Sehnsucht. Esoteriker würden sagen, das Nomadische in uns.
Und was uns hält, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Nach Schutz. Nach Kontinuität, Gewissheit, Struktur. Diese Bedürfnisse oder auch Notwendigkeiten, besonders wenn man Kinder hat, sind wohl letztlich doch stärker als eine Freiheit, die ja eigentlich auch gar keine echte Freiheit ist.
Dein Roman ist auch ein Buch über Wahrnehmung. Ein Thema, dass wie nie zuvor diskutiert wird, und zwar nicht bloss theoretisch oder philosophisch. Selbst Kriege werden mit kollektiver, ideologisierter Wahrnehmung gerechtfertigt. Ist Schreiben ein Versuch der Wahrnehmung?
Wahrnehmung ist ja eng mit Wahrheit verzahnt. Wie wir oben gesehen haben, verleitet die Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus dazu, diese spezifische Sicht der Welt auch für wahr zu halten. Und möglicherweise den Rest der Welt zu zwingen, dasselbe zu tun. Schreiben ist der Versuch herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Wahrnehmung funktionieren kann. Literatur leiht dem Leser, der Leserin, fremde Augen, verführt zur Empathie, erstmal neutral verstanden. Die Definition von Empathie ist ja zunächst nur: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“ (Wikipedia) Also bedeutet Empathie nicht nur, beispielsweise den Schmerz einer anderen Person mit- oder nachempfinden zu können, auch den Hass oder die Gleichgültigkeit eines Mörders. Das hat nichts mit rechtfertigen zu tun. Wir lernen daraus viel. Für unser eigenes Leben und vielleicht auch Über-leben.
Dass wir uns in der Literatur sowohl als Schreibende als auch als Lesende in andere, fremde Wahrnehmungswelten versetzen dürfen, hat ein extrem wertvolles humanes Potential. Literatur ist eine Art Training, Ambivalenzen auszuhalten. Literatur weiss nicht schon, sie fragt. Sie muss frei sein von Instrumentalisierung. Ein Essentialismus der behauptet, nur Betroffene könnten beispielsweise Unterdrückungserfahrungen begreifen und logischerweise auch schildern (oder übersetzen) hat in der Literatur nichts zu suchen. Die oftmals verzerrte Wahrnehmung gruppenbezogener Perspektiven als einzige Wahrheit – das kann niemand wollen. Literatur ist zu soviel mehr imstande als der Exekution politischer Agenden; sie kann uns von der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten erzählen, weit jenseits der kleingeistig-ängstlichen Vermeidung von Verstörung. Lea, im Kleinen, macht es vor: Das Leben verletzt, aber man kann darüber hinwegkommen.
Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für «Fangspiele» erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.
Claire Keegans Romane sind Konzentrate, sprachlich wie inhaltlich. „Reichlich spät“ beschreibt das Psychogramm eines Mannes, der sich seiner dunklen Seiten nicht bewusst ist, der ganz und gar verklebt ist in der Sicherung seiner eigenen Bedürfnisse. Und Claire Keegan schreibt in einer Intensität, die trunken macht.
Das Buch ist nicht einmal 60 Seiten „dick“. Aber von schmalbrüstig kann keine Rede sein. Nicht dass die Autorin auf Beschreibungen und Stimmungsbilder verzichtet. Aber jeder Satz bebildert das Geschehen. Jede Wendung vervielfacht den Genuss des Lesens, auch wenn die Geschichte bisweilen weh tut.
Cathal lebt und arbeitet in Dublin. Sein Leben spielt sich in der Firma vor seinem Bildschirm, im Bus und seiner Wohnung ab. Nicht dass er einsam wäre. Es ist ein genügsames Leben, ein Leben aber, dass sich von den Dingen um ihn herum nur wenig beeindrucken lässt. Vielleicht ist Cathal ein Prototyp dessen, was Individualismus hervorgebracht hat; eine Sorte Mensch, die sich als absoluter Mittelpunkt des Sein empfindet, alles nach seinen Bedürfnissen misst, ganz auf sich selbst fokussiert ist. Ein Mann, dem Verachtung zum Lebensprogramm wurde. Ein Mann, der sich seine Welt zurechtgelegt hat.
Cathal lernt Sabine kennen, zufällig. Sie verabreden sich öfters. Man verbringt Wochenenden zusammen und immer häufiger Zeit in Cathals Wohnung, weil Sabine keine eigene Wohnung besitzt. Sabine kocht gut. Sie riecht gut. Und sie sieht leidlich gut aus. Für Cathal spricht nichts dagegen, aus dem Provisorischen etwas Festes werden zu lassen, jetzt oder nie. Auch wenn der Heiratsantrag nichts Romantisches an sich hatte und die Gründe dafür einfach bloss triftiger waren als jene dagegen, kaufen die beiden irgendwann Ringe und machen einen Termin aus, an dem die Hochzeit stattfinden soll.
Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl, 2024, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 64 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-96999-325-5
Aber als Sabine mit ihrem Hausrat in Cathals Wohnung einzieht, wird ihm erst bewusst, dass jenes Leben, mit dem er sich schon Jahre bequem eingerichtet hatte, nicht ohne Einschränkungen weiterzuführen ist. So sehr sich die Dinge in Cathals Wohnung ausbreiten und Sabine sich einnistet, so sehr fühlt er sich in seinem wohl eingerichteten Gefüge bedroht. Und als er sich dann auch noch in Sabines Kaufverhalten, in die Art ihres Haushaltens einmischt und Sabine ihm mehr als deutlich macht, dass sie nicht bereit ist, in der Beziehung die Rolle der Dienenden zu spielen, eskalieren die Auseinandersetzungen. Cathal weiss nicht, wie ihm geschieht.
Auf dem Cover des Buches steht: „In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom grossen Thema Misogynie (Frauenfeindlichkeit).“ Vielleicht geht es in diesem Buch aber ganz einfach um menschliche Degenerationen, dass Menschen mehr und mehr ihre eigenen Bedürfnisse und Ansichten zum obersten Gesetz erklären, an das sich alles und jeder zu richten hat. Cathal hat schon in seiner eigenen Familie gelernt, dass seine Mutter zu dienen hat, dass eine Frau kein ebenbürtiges Gegenüber ist, dass man sich auch getrost mit Vorsatz und hämischem Lachen über Frauen setzen kann. Frauenfeindlichkeit ist kein Phänomen der Moderne, aber in Zeiten, in denen wie in keiner Epoche zuvor Gleichberechtigung zur erklärten Selbstverständlichkeit hätte werden sollen, schlichter Hohn.
„Reichlich spät“ als Titel bezieht sich nicht nur auf Cathals Augenreiben, als er feststellen muss, dass Sabine die Reissleine gezogen hat. „Reichlich spät“ beschreibt auch den Zustand einer Gesellschaft, die es nicht schafft, sich von Mechanismen zu befreien, die sich über Jahrhunderte in den männlichen Genen festgesetzt zu haben scheinen.
Claire Keegan schreibt sich mitten in den Nerv. In ihrer unspektakulären Erzählart, den feinen Beobachtungen menschlichen Versagens blendet sie mit Spiegeln, die unweigerlich zur Selbstreflexion zwingen.
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände «Wo das Wasser am tiefsten ist» (2004) und «Durch die blauen Felder» (2008) (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2017), «Das dritte Licht» (2013/2022) und «Kleine Dinge wie diese» (2022) erschienen. «Das dritte Licht» wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland.
Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.
Zu glauben, die eigene Geschichte, die Geschichte der Familie, würde sich wie eine lange Kette Perle an Perle aneinandereihen, sie bestünde aus Nacherzählbarem, erliegt dem Irrtum, Geschichten wären Geschichte. Rebekka Salm erzählt von einer jungen Frau, die erkennen muss, das die Suche nach Klärung sich in einem Knoten offener Enden verstricken kann.
Was wir aus unserer Geschichte und den Geschichten unserer Ahnen mitnehmen, sind Versatzstücke. Mit der Wahrheit ist es wie mit den Sternen. Einige leuchten hell, die sehe man sofort. Andere seien zu schwach, um sie von blossem Auge sehen zu können, sagt Heinz zu Teresa, der Protagonistin in Rekekka Salms zweitem Roman „Wie der Hase läuft“. Teresa, die in Heinz Karres Brockenstube arbeitet, all den gestrandeten Dingen ein Preisschild anbringt und sie mit Geschichten belegt, Geschichten die die Dinge mit Bedeutung versehen.
Wir interpretieren, was wir aus unserer Perspektive sehen. Wir geben Geschichten Bedeutungen, Gewicht. Teresa ahnt, dass in der Geschichten ihrer Familien schwarze Löcher jene Geschichten bedrohen, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Nicht zuletzt darum, weil jene Menschen sterben, die erklären und klären könnten, was nie zu Ausgesprochenem wurde. So wie die Grossmutter ihres Mannes, Emma, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes zurück in ihre Heimatstadt Amsterdam siedelte, dorthin, wo ein Mord sie einst aus ihrem Glück spülte. Teresa muss zusammen mit ihrem Mann Mirco die Wohnung der Grossmutter räumen, Zimmer voller Erinnerungen, voller Zeugnisse eines Lebens, das mit dem Tod Geschichten und Geschichte ins Vergessen reisst.
Rebekka Salm «Wie der HAse läuft», Knapp, 2024, 195 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-907334-20-1
Mirkos Grossmutter Emma hatte schon vor ihrer Heirat mit ihrem Grossvater eine Geschichte. Damals gab es einen Mann, gab es Cees, mit dem sie verheiratet war. Ein versprochenes Glück, das nur ein paar Monate dauerte, bis in Cees Bäckerei 1943 ein Schuss fällt. Bis ein junger deutscher Soldat seine Walter zieht, weil Cees nicht aufhört, dieses eine Lied „Oh, du lieber Augustin“ zu singen, jenes Lied, das den Soldaten peinigt, weil es jenen Schmerz zurückbringt, vor dem er in der Uniform der Wehrmacht zu fliehen versucht. Der Soldat schiesst und Cees stirbt in den Armen seiner Frau, in Emmas Armen. Emma kommt in die Schweiz zu einer Tante, beginnt ein neues Leben, heiratet den schweigsamen Bruno, gründet eine Familie. Eine Familie, in der sich der Alp fortsetzt, ein Alp vor dem sich Teresa fürchtet, vor dem sie sich manchmal einschliesst in einem Schrank in der Brockenstube ihres Chefs. Weil der Schrank jener Ort ist, in dem sie Ordnung sucht, Erklärungen, in dem sie die Versatzstücke zuzuordnen versucht.
Wenn du wissen willst, wohin der Hase läuft, musst du wissen, aus welcher Richtung er gekommen ist, sagt sie zu ihrem Mann Mirco, der die Versessenheit seiner Frau nicht nachvollziehen kann. Ich muss Licht ins Dunkel bringen. Die Fallgruben markieren. Mirko will keine Antworten. Ihm genügen seine Ahnungen. Erst recht, weil Teresas Grossvater Wede damals im Krieg als junger Soldat in Amsterdam stationiert war. Erst recht, weil Teresa weiss, dass jener Soldat, der den ersten Mann jener Grossmutter in dessen Bäckerei in Amsterdam erschoss, den selben Namen trägt wie ihr Grossvater.
Teresa beginnt zu fragen. „Wie der Hase läuft“ erzählt Geschichten ihrer Eltern, Geschichten von Mircos Eltern, von den Grosseltern, all jener, die Spuren in ihrem Leben hinterliessen. Geschichten, die ahnen lassen, dass die Fassaden, hinter der sie sich verbergen, ganz andere Geschichten erzählen. Geschichten von Untaten, Geschichten von Entzweiung, Geschichten von Wunden. Während Rebekka Salm in ihrem Debüt „Die Dinge beim Namen“ das Geschichtengeflecht eines ganzen Dorfes in der Horizontale erzählte, ist „Wie der Hase läuft“ ein Geflecht in der Vertikalen, in der Zeit, über drei Generationen, in den Wirren der Historie, in den Leerstellen des Verborgenen. Rebekka Salms Roman ist nicht der Versuch „Licht ins Dunkel“ zu bringen, sondern die erzählte Erkenntnis, dass Wahrheit nicht zu greifen ist. Ein beeindruckender Zweitling!!
… und mindestens ein Grund für eine Reise nach Leukerbad ans Internationale Literaturfestival vom 21. – 23. Juni 2024!
Interview
Romane vermitteln, vielleicht zu oft, den Eindruck, sie würden Ordnung in Geschehnisse, in die Geschichte bringen. Aber sowohl die Historie, wie die ganz eigene Geschichte, ist die der Auslassungen, des Vergessenen, Verschwiegenen, Überblendeten. Ist „Wie der Hase läuft» die erzählte Widerlegung? Eine Widerlegung vielleicht nicht – eher eine andere Sichtweise darauf. Oder eine Grossaufnahme des Stoffes, aus dem die vermeintliche Ordnung besteht. Ich glaube, dass wir als Menschen bestrebt sind, unser Leben und das Leben unserer Familie in eine konsistente und sinnhafte Geschichte zu verpacken. Aus diesen Geschichten wiederum konstituieren wir unser Selbstbild. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich selbst, mache es nicht anders. Auch ich brauche Ordnung (Daten, Namen, Erlebnisse, die alle schnurstracks und unverschnörkelt zu mir und dem heutigen Tag führen). Und doch glaube ich, dass diese Kausalitäten, die wir herstellen aus erzählten Fragmenten und Erinnerungen viel lückenhafter und viel weniger «objektiv wahr» sind, als wir uns das einzugestehen getrauen.
Sterben Menschen, sterben Ahnen, dann reissen sie Geschichten mit ins unwiederbingliche Vergessen. Selbst wenn wir in Wohnungen Verstorbener Ding für Ding in die Hand nehmen, ist ihnen die Bedeutung genommen. Erinnerungen werden zu reinem Material. Sie rematerialisieren sich. Du bist Mutter einer Tochter, Tochter einer Mutter. Ist die Art deines Erzählens die Vergewisserung, was Geschichte mit uns macht? Dass es nicht bloss die eine Sichtweise gibt? Dass es entscheidend sein kann, ob man die Fähigkeit des „Sich-hineinversetzens» erlernt? Geschichten sind leicht und flüchtig wie Gas. So zumindest stehts im Roman «Wie der Hase läuft». Man kann sie – im Gegensatz zu den materiellen Hinterlassenschaften – schlecht greifen, nicht festhalten, ihren Wert nicht in Geld bemessen und auch nicht ihren Einfluss auf unser Selbstbild. Sind wir es, die Geschichten erfinden oder erfinden die Geschichten nicht viel eher uns? Es spielt eine Rolle, welche Geschichten meine Mutter mir erzählt hat und welche ich meiner Tochter erzähle. Es spielt eine Rolle, ob ich die Geschichten laut erzähle und mit stolzgeschwellter Brust oder ob ich sie verschämt flüstere. Es spielt eine Rolle, was man mir verschwiegen hat – aus Angst oder Unvermögen – und was ich wiederum verschweigen werde. Aber schlussendlich geht es vielleicht auch darum, dass wir lernen loszulassen und jede*r für sich die Wahrheit findet, die für sie*ihn lebbar ist.
„Die Dinge beim Namen» war ein erzähltes Netz über ein ganzes Dorf, ein Erzählen in die „Horizontale» mit punktuellen Bohrungen in die Vergangenheit. Dein zweiter Roman scheint einem vertikalen Prinzip zu folgen, einer versuchten Bohrung in die Zeit, über drei Generationen und darüber hinaus. War das das Resultat der Erkenntnis, dass ein Zweitling dem Erstling nicht einfach folgen darf? Ich denke beim Schreiben viel weniger strategisch, als ich vielleicht müsste. Ich habe «Wie der Hase läuft» nicht in Abgrenzung zu meinem Debüt geschrieben. Sondern vielleicht eher in Ergänzung? In beiden Romanen geht es um die Macht von Geschichten und die Frage, wie sicher wir uns eigentlich sein können, dass das, was wir für die Wahrheit halten, auch wirklich wahr ist. Aber im Vordergrund stand die Lust am Schreiben einer Familiengeschichte, am Detektiv-Spiel in Raum und Zeit, am Verwirrspiel: Was ist History und was «nur» Story?
Ein Leben auf der Flucht …. Ein Leben in steter Angst, entdeckt und gefressen zu werden. Wir können dem nicht entfliehen, was wir verursachen. Weder die ProtagonistInnen in deinem raffiniert konstruierten Roman, noch wir, die wir uns den Geschichten aussetzen. Die Tatsache, dass wir gefressen werden, freut die Pharmaindustrie und TherapeutInnen aller Couleur. Wir haben es noch längst nicht geschafft, das Schweigen zu durchbrechen. Teresa muss sich selbst befreien. Belügen wir uns selbst, indem wir glauben, Ängste, Verletzungen, ein Alp liesse sich „heilen»? Heilen finde ich ein grosses Wort und eine nicht minder grosse Aufgabe. Ich bin aber auch keine Psychotherapeutin. Vielleicht geht es mir in meiner Deutung weniger um heilen und mehr um integrieren. Es gab schlimme Erlebnisse in meiner Familie, in meiner Kindheit? Ok. Sie gehören zu mir. Es gibt Lücken in meiner Geschichte, die nicht (mehr) zu schliessen sind? Gut. Auch sie gehören zu mir. Der Stoff, aus dem mein Leben besteht, ist weit weniger heil als ich es möchte – er ist löchrig, er hat dunkle Stellen. Aber es ist eben mein Stoff.
Teresa arbeitet in einer Brockenstube. Ein Ort voller toter Erinnerungen. Sie erzählt den KundInnen in den vollgestellten Räumen Geschichten zu den Dingen, gibt ihnen Bedeutung zurück. Unsere Wohnungen, unsere Zimmer sind vollgestellt mit Erinnerungen, materialisierter Geschichten. Wenn wir sterben, ist ihnen der Zauber genommen. Aus Erinnerungen wird wieder reines Material, dass tonnenweise entsorgt wird. Brauchen wir all diese Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, um unserem Leben wenigstens den Anschein zu geben, eine Spur zu hinterlassen? Ja. Und gleichzeitig scheint mir diese Antwort zu einfach. Wir kaufen und horten auch Dinge, weil sie schön sind. Weil wir uns daran freuen können Zeit unseres Lebens. Weil sie uns das Leben bequem machen. Weil sie die Bojen sind, die über Geschichten schaukeln, die wir gerne erzählen. Weil diese Geschichten uns an das kleine Glück erinnern – und manchmal auch an das grosse.
Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.