Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz

Wäre es ein anderer gewesen, der seinen Roman „Jahrhundertroman“ betitelt hätte, hätte ich das Buch nicht einmal in die Hand genommen, selbst wenn es ironisch gemeint gewesen wäre. Aber diesen Roman schrieb nicht irgendeiner, sondern Peter Henisch. Einer, der zu den ganz Grossen gehört, nicht erst ein paar Jahre, sondern seit Jahrzehnten. Einer, bei dem jedes nicht gelesene Buch ein potenziell grosses Versäumnis sein kann.

Roch ist ein schrulliger Alter, der zu den Stammgästen in jenem Café gehört, in dem die Studentin Lisa eine Arbeit gefunden hat. Eine Arbeit, die zum Allernötigsten reicht und längst nicht alles abverlangt. Denn es ist nicht viel, was es in dem Lokal, das einst viel bessere Zeiten erlebt hatte, zu tun gibt. Auch nicht, wenn Herr Roch dort sein immer gleiches Frühstück bestellt und alles dafür tut, die junge Kellnerin Lisa in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwann erzählt er von einem Manuskript, seinem grossen Roman, den er beabsichtige, endlich zu einem guten Ende zu bringen, seinem Jahrhundertroman, die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, erzählt mit den Geschichten jener Literaten, die in diesem Jahrhundert seine Stadt, die Stadt Wien bewohnten. Er brauche jemanden, der das von Hand geschriebene Manuskript abtippe, biete zwei Euro pro Seite. Irgendwann wird die abgegriffene Mappe mit dem Papierbündel wie heisser Stoff im Café übergeben, denn die sonst kaum je anwesende Wirtin will nicht, dass Gäste ihrer unentbehrlichen Kellnerin zu nahe kommen. Aber als Lisa in ihrer WG das Manuskript auspackt, muss sie feststellen, dass sie den Text nicht einmal bruchstückhaft lesen kann, denn Rochs kryptische Handschrift ist für sie nicht zu entziffern. 

Lisa bringt das Manuskript in Rochs Depot in der Floriangasse 4A (einer Adresse, die es tatsächlich gibt), dorthin, wo sich Roch mit seinem Manuskript, seinem Leben zurückgezogen hatte. Einem Lagerraum, in dem er jene Bücher hortet, die er bei der Auflösung seine Bücherei vor der Vernichtung rettete und sich mit all jenen Büchern umgibt, die er auf seinen immer seltener werdenden Streifzügen in seine Höhle schleppt. Nach etwelchen Versuchen sitzen sie dann wirklich nebeneinander und Roch bittet Lisa, nachdem er den Schmerz darüber, dass Lisa bei sich zuhause den nicht nummerierten Seitenstapel doch tatsächlich entgegen seinen Warnungen durcheinanderbrachte, eine und immer noch eine andere Seite herauszuziehen, damit Roch ausbreiten kann, was in seinem Jahrhundertroman sonst für immer verborgen bleibt.

Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz, 2021, 388 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1731-6

Da wäre diese Geschichte zwischen dem Alten und der Jungen. Eine Geschichte der Annäherung, die für sich als Geschichte schon genügen würde. Aber eben nicht für einen Jahrhundertroman. Da ist noch die Geschichte von Semira, Lisas Freundin, die seit einigen Monaten in Österreich als Flüchtling Fuss zu fassen versucht, der aber die Ausschaffung droht und sich deshalb dem Arm des Gesetztes entzieht. Durchaus ein Thema, ein Thema, das nicht erst in der Gegenwart in einem europäischen Land zum Knackpunkt von Politik und Gesellschaft geworden ist. Aber nicht genügen würde für einen Jahrhundertroman.
Lisa zieht Blatt um Blatt aus dem Manuskript, dass die Geschichte der Stadt Wien mit den Geschichten ihrer Dichterinnen und Dichter erzählt, über ein ganzes Jahrhundert, von Musil bis Jelinek, von Artmann bis Mayröcker. Von Thomas Bernhard, der sich vor der Première seines Stücks ‹Heldenplatz› vor der ganzen Stadt zu verstecken versucht, weil er weiss, dass er mit der schon verschobenen und durch Misthaufen verhinderten vorerst abgesagten Première einer selbstgefälligen Gesellschaft den Spiegel vorhalten würde. Oder wie Christine Nöstlinger einen Anruf von Ernest Hemingway bekommt, der sie bittet, seine Frau zu werden und Christine Nöstlinger glaubt, einer Verarschung von Helmut Qualtinger aufzusitzen. Oder wie Peter Handke im Kino wenige Reihen vor Roch und seiner Begleitung den Film wie ein Berichterstatter einer Veranstaltung mit Stift und Papier verfolgt und nach der Vorstellung förmlich nach Hause rennt (um seine Erzählung „Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter“ niederzuschreiben). Geschichten, die sich alle wenig um ihren Wahrheitsgehalt kümmern, die das Buch von Peter Henisch aber zu einem  Feuerwerk der Fabulierkunst machen – eben zu einem Jahrhundertroman.

Was der fast achtzigjährige Schriftsteller auspackt, wie kunstvoll er konstruiert und mich als Leser immer und immer wieder überrascht, wie sehr man die Lust des Schreibens spürt, von einem, der sich an Form- und Farbvielfalt der Sprache so gar nicht bemühen muss, sondern alles wie flüssig warme Butter zu fliessen scheint – das beeindruckt ungemein. „Der Jahrhundertroman“ ist ganz viel, vielleicht nicht alles, aber ein fast 300seiten dickes Lesefest erster Güte. Schon lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so sehr amüsiert und berühren lassen wie bei diesem Roman – eben doch ein Jahrhundertroman. (Muss ja nicht der Jahrhundertroman sein.)

PS Wie ich sie liebe, die schrulligen Vögel, die sich im Papier einnisten!

PPS Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie mehr und fragen Sie Ihre Buchhändler:innen oder Bibliothekar:innen.

Interview

Ich mag Herrn Roch. Ich mag den Sonderling und Büchermenschen. Auch seine Unverfrorenheit. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass vieles von Roch zu Herrn Henisch passt. Oder ist meine Vermutung völlig falsch?
Natürlich freut es mich, dass Ihnen mein Buch so sehr zusagt. Ich will also versuchen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut und einfach ich es kann. Dass manches von Herrn Roch zu Henisch passt, kann schon sein – gewiss hab ihm dies und das in den Mund gelegt, was ich auch selbst sagen würde. Jedoch ist er  – gefühlt – etwas älter als ich, deutlich frustrierter, von diversen Handicaps geplagt, die mich Gott sei Dank nicht plagen und eben eine Literaturfigur. Eine Literaturfigur, die ich allerdings recht lebendig vor meinem inneren Auge gesehen und dessen Stimme ich vor meinem inneren Ohr gehört habe, so lang ich in diesem Roman drin war.

Sie lassen mit der Studentin Lisa und Herrn Roch zwei Gegensätze auflaufen. Das meine ich wörtlich, braucht es doch einiges, bis sie sich finden, letztlich die beiderseitige Not. Sie haben eben Ihren 78sten Geburtstag gefeiert. Wie schafft man es, so nahe an der Jugend zu bleiben?
Dass Sie mir in Hinblick auf Lisa zugestehen, nahe an der Jugend geblieben zu sein, finde ich sehr schön. Ich hab sie mir, diese Neunzehnjährige, scheint mir, ganz gut vorstellen können. Anfangs habe ich dabei an eine Nichte meiner Frau gedacht, die eine nicht unähnliche Kindheit gehabt und sich dann sehr tapfer emanzipiert hat. Aber natürlich hat sich die Figur dann verselbständigt, ist eben jetzt Lisa, in deren Rolle ich mich hineinzudenken, hineinzufühlen versucht habe – eine gewisse Empathiefähigkeit gehört ja zu den Voraussetzungen lebendigen Schreibens, da war die Distanz der Jahre und des Geschlechts gar kein grosses Hindernis.

Wenn die Literatur etwas darf, dann ist es das Erfinden. Das ist nicht leicht in einer Zeit, wo dauernd „Fake-News!“ geschrien wird und gewisse Leute sich weigern, der Fantasie ihren Platz zu geben. Selbst bei Filmen braucht es den Zusatz „nach einer wahren Begebenheit“. Weisst heisst das schon. Dabei spielen sie gekonnt mit der Fiktion. Braucht es den Mut der Verzweiflung?
Ja, das Erfinden – in diesem Buch das Erfinden von möglichen, oft wünschenswerten Abweichungen von der sogenannten Realität… Sich vorstellen zu können (zu wollen), dass etwas anders hätte sein können, als es war … Interessant, dass Sie mich fragen, ob es dazu den Mut der Verzweiflung braucht? Darauf wär ich selbst nicht gekommen, mir hat es in der ersten Schicht eher Freude gemacht, aber vielleicht erspüren sie da etwas im Hintergrund, das eine tiefere Wahrheit hat. 

Sich etwa vorzustellen, dass Ödön vom Horvath nicht von jenem Ast getroffen worden wäre, den der Sturm von einem Kastanienbaum in den Champs Elysées gerissen hat. Und dabei zu wissen, dass es leider doch so war … Sehen Sie, ich habe auch eine Szene skizziert, in der Jura Soyfer, der, zwei Tage vor dem Einmarsch der Nazis in Österreich, auf Schiern in die Schweiz fliehen wollte, nicht von übereifrigen Grenzgendarmen aufgehalten und festgenommen worden wäre. Und dann wäre er eben nicht noch im letzten Moment in ein Gefängnis des Schuschnigg-Staates gesperrt worden (von wo er dann, nach Übernahme des Knasts durch die Nazis, ein paar Tage später ins KZ überstellt wurde) aber ich habe diese Szene dann weggelassen, sie hätte m.E. im Zusammengang des Romans zu schwer gewogen.

Büchereien, Buchläden waren einst Treffpunkte von Intellekt und Kultur. Heute sind sie immer mehr Kaufhäuser und Gemischtwarenhandlungen. Buchhandlungen hatten eine Mission. Heute biedern sie sich an. Und trotzdem verschwindet das gute Buch nicht. Werden Leser:innen von anspruchsvoller Literatur immer weniger?
Dass Leserinnen und Leser anspruchsvoller Literatur immer weniger werden, ist zu befürchten. Auch dass Literatur, wie wir sie meinen und lieben, immer weniger geschrieben wird. Das ist es ja, was auch Herr Roch befürchtet, deswegen will er ja den Autoren und Autorinnen seines Jahrhunderts, also eines inzwischen immer weiter in die Vergangenheit abgedrifteten Jahrhunderts, ein Denkmal setzen. Aber vielleicht ist der alte Herr doch etwas zu kulturpessimistisch.

Es gäbe ja eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die seiner Ansicht durch ihre Arbeit widersprechen. Mir fallen da in Österreich spontan die verschiedensten Leute ein; Thomas Stangl („Die Geschichte des Körpers“), Anna Weidenholzer („Der Winter tut den Fischen gut“) und Egon Christian Leitner („Sozalstaatsroman“). Aber die Tendenz, dass Literatur, die sich einfach als cooles Business versteht, in dem vorweg berechnet und dann entsprechend geschrieben wird, was der Zeitgeist verlangt, sowohl von den Verlagen als auch von den Buchhändlern – und dann natürlich auch von den Leserinnen und Lesern, eher angenommen wird, ist nicht zu übersehen.

„Der Jahrhundertroman“, ein ziemlich vermessener Titel. Hätten nicht Sie ihn genommen, hätte er mich als zu vermessen abgeschreckt. Dabei tut mir Roch nicht bloss einmal sehr leid. Ein Bündel Papier, das durcheinander geraten ist, über ein Jahrhundert, das durcheinander geraten ist. Nahmen Sie all die grossen Namen an der Hand und verrieten Ihren ihre Geheimnisse (Geheimnisse müssen ja nicht wahr sein!)?
Dass der Titel „Der Jahrhundertroman“ zu dem Missverständnis Anlass gibt, der Autor (also der Herr Henisch) sei vermessen, grössenwahnsinnig, unrealistisch, was seine Selbsteinschätzung betrifft, war ein Risiko, das ich vielleicht etwas unterschätzt habe.  Andererseits stellt sich doch schon beim Überfliegen des Klappentextes und erst recht nach wenigen Seiten der Lektüre heraus, dass sich der Titel auf den Roman des ehemaligen Buchhändlers und Büchereiangestellten Roch bezieht, ein Manuskript, das die Studentin Lisa abtippen soll, nicht lesen kann, durcheinanderbringt. Ein Fragment, in dem die Chronologie abhandengekommen ist, in dem v.a. der Anfang mit Musil, den der Protagonist sucht, bis ganz knapp vor Schluss nicht zu finden ist. Ein Fragment, das nach und nach von der außersprachlichen Wirklichkeit überholt wird.

Apropos Musil & Co – die großen Namen kommen ja übrigens auch nicht irgendeinem fragwürdigen Kanon entsprechend vor. Manche, wie jener der Frau Nöstlinger, überraschen dann vielleicht auch ein wenig. Dass mich die Träger dieser Namen an der Hand nehmen und mir ihre Geheimnisse verraten ist ein hübscher Gedanke, ist aber nicht ganz der Fall. Ich hab halt ein gewisses Einfühlungsvermögen auch in diese Personen, keine Berührungsängste, keinen übertriebenen Respekt und manchmal eine gewisse Lust daran, ihnen etwas Alternatives anzudichten.

Sie gründeten 1969 die Literaturzeitschrift „Wespennest“. Lange Jahrzehnte eine Institution im Literaturbetrieb, weit über die Landesgrenzen hinaus. Literaturzeitschriften gibt es noch immer. Und doch ist ihre Bedeutung nicht mehr die, die sie einmal hatten. Warum protzen dafür „Schöner wohnen“, „Bleib gesund“ und „Motorwelt“?
Zweifellos hat es in den Sechziger-und Siebzigerjahren mehr davon gegeben und sie haben mehr bedeutet als heute. Das war eine Zeit, in der viele jungen Leute geradezu literatursüchtig waren – so ähnlich erinnert sich Roch in meinem Buch. Das wird er Lisa vielleicht erzählen, aber er bezweifelt, dass sie es glauben wird.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», FVA

Köcherbäume sind in Namibia heimisch, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, und gedeihen nur schwer in einem Dresdner Villenviertel, schon gar nicht, wenn sie dort links und rechts des Eingangs einbetoniert sind, mit Chemikalien vor dem Verrotten bewahrt, als Erinnerung an eine Zeit, die man eigentlich lieber vergessen lassen will.

Iva kehrt in dieses Haus zurück. Ein Haus, das leer geworden ist und bloss noch von einer polnischen Haushälterin bewohnt wird. Ivas Vater liegt im Krankenhaus, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, ohne Chance, je wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Und weil es das Ende von Evas Vater sein wird, weil die Mutter das Haus längst fluchtartig verlassen hatte und Evas Geschwister mit dem Gemäuer und dem alten Mann darin nichts mehr zu tun haben wollten, tritt sie ein in ein Leben, in das sie eigentlich nicht mehr zurückkehren will. Warum nicht zuhause bei ihrem Mann Roy und ihrem Jungen Shlomo bleiben? Warum nicht einfach alles seinen Gang nehmen lassen? Warum ein Leben unterbrechen, um in ein Leben zurückzukehren, das man einst mit wehenden Fahnen zurückliess?

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», Frankfurter Verlagsanstalt, 2021, 320 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00285-5

Amanda Lasker-Berlin nimmt mich an der Hand und mit in dieses Haus, hinter Türen, vorbei an Wänden, die mit ausgestopften Tierköpfen verhängt sind, in Zimmer, aus denen das Leben längst entwichen ist, in denen aber unverdaute Erinnerungen sabbern. Erinnerungen an Evas Grossmutter, die man zusammen mit den beiden Köcherbäumen aus Namibia in Deutschland einsetzen wollte, nachdem sie als Kind das Land fluchtartig verlassen musste. Ihr Land, das Land, das die Wilden ihr genommen hatten, in dem Deutschland als Kolonialmacht zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Aufstand der einheimischen schwarzen Völker brutal niederschlug, Völkermord beging. Eine Grossmutter, die mit ihrem Mann während der Naziherrschaft zu den Parteibonzen gehörte und sich schamlos am Reichtum der verschleppten und ermordeten Juden bereicherte. Erinnerungen an eine Mutter, die einst mitten in der Nacht mit blutendem Gesicht in Evas Zimmer stand und von Iva eine Entscheidung forderte; mitkommen oder bleiben, jetzt gleich.

Iva fährt von ihrer Familie weg, weg von ihrem Mann und ihrem kleinen Kind. Weg von Roy, der aus einer so ganz anderen Familie stammt als sie selbst, dessen Vater in einer schmuddeligen Wohnung in einem Hochhaus Akten, Fotos und Berichte sammelt, die unter anderem die verbrecherische Vergangenheit Ivas Familie dokumentieren sollen. Shlomo, Iva und Roys Junge heisst nicht aus einer Laune heraus Shlomo. Ein Name aus der Geschichte Roys Familie, ein Name, der „Friede“ bedeutet. Sie fährt zum Haus ihrer Familie, in der sich das Schweigen schon seit Jahrzehnten eingenistet hat, in der man nicht nur Köcherbäume tot einbetoniert, sondern auch die Geschichte und Geschichten, die dahinter stecken. Auch die Geschichte Ivas Geschwister Jette und Alexander. Jette, die dort wo die Köcherbäume herkommen nach Spuren sucht und Alexander, der am Gewicht seines Vater zerbrochen ist und erst zurück ins Haus seines Vaters kommt, als dessen Sterben absehbar und unausweichlich ist.

Was heisst es, als Kind aus einer Familie zu stammen, die sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte? Ivan sitzt im Krankenhaus am Bett ihres sterbenden Vaters. Von ihm sind keine Antworten mehr zu erwarten. Aber selbst wenn er stirbt, wird das, was sich über Generationen an blutigen Spuren nicht leugnen lässt, weiter wirken, wie radioaktiver Abfall.

Amanda Laker-Berlin erzählt behutsam und unspektakulär. Ohne dass die Geschichte aufzublasen wird, begleite ich eine Frau, die ringt und sucht, die sich dem stellt, was hinter Fassaden verborgen bleiben soll. Der Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, die Schoah, der Nationalsozialismus, Themen die im Roman „Iva atmet“ nicht bloss einfach Kulisse und Katalysator sind, sondern der Grund, auf dem das Haus aufgebaut ist. Iva atmet schwer!

Interview

Auf dem Umschlag ihres Buches ist ein Köcherbaum abgebildet. Aber umgekehrt, sodass er aussieht wie ein Lungengeflecht. Ihr Roman heisst „Iva atmet“. Iva hat immer einen Asthma-spray bei sich. Es ist nicht nur der Stress, der ihr den Atem nimmt. Das Verschwiegene, Unausgesprochene, letztlich das Lügen nimmt ihr den Atem. Was nimmt Ihnen den Atem?
Den Atem nimmt es mir, wenn ich die starken Ausprägungen des Klimawandels wahrnehme und dann überlege, wie stark sich die Lebensweise verändern muss. Die Überflutungen in Deutschland diesen Sommer, haben allen vor Augen geführt, dass die Katastrophen auch uns treffen und in Zukunft weiter treffen werden. Mich beschäftigt, wie es möglich ist, Krisen und Veränderungen als Gesellschaft zu meistern, ohne das es zu Radikalsierungen und Ausschlussmechanismen kommt. Auch die Coronakrise hat mir teilweise den Atem genommen. Sie schon jetzt so viele Verwüstungen in der Kulturbranche hinterlassen. Und ich wünsche, dass vieles wieder- oder neuhergestellt werden kann.

Die Grossmutter malte. Sie malte die südwestafrikanische Idylle. Sie selbst malten auch und erklären in einem Interview, dass das Schreiben Ihnen mehr Wege in die Tiefe gebe, das Malen durch die Ränder der Leinwand begrenzt sei. Sie schreiben auch Theater. Dort ist das Geschehen durch die Möglichkeiten der Bühne begrenzt. Steht beim Malen wie beim Schreiben nicht über allem die Frage, ob man Tiefe will oder lieber an der Idylle koloriert?
Ich glaube eigentlich nicht, dass Geschehen durch technische Möglichkeiten auf der Bühne oder durch Grenzen von Leinwänden beschränkt ist. Die Bildenden Kunst, das Theater und die Literatur können sich immer so weit ausbreiten, wie die Phantasie und die Bereitschaft es zu lassen. Sie sind schliesslich vermittelnde Elemente zwischen Rezipierenden und Agierenden. Ich wünsche mir oft mehr Bereitschaft sich auf Kunstwerke einzulassen und zu erforschen, wie viel sich in ihnen verbirgt. Für mich persönlich ist das Schreiben der künstlerische Weg, durch den ich mich am kraftvollsten in die Tiefe sprengen kann.

Wahrscheinlich gibt es in jeder Familie Geheimnisse. Und auch Geheimnisse, über die man nicht spricht. Aber Geschehnisse, die gar keine Geheimnisse sind, aber mit Bedacht als solche behandelt werden, weil man genau weiss, wie viel Gefahr von ihnen droht, sind die schlimmsten. Geheimnis aufbrechen um jeden Preis?
Das ist schwierig. Ich denke, dass jeder Mensch Geheimnisse haben muss. Sie sind schliesslich auch Schätze. Wenn diese Geheimnisse, aber andere Menschen direkt tangieren, halte ich einen offenen Umgang für wichtig. Gerade in einer Familie wie der von Iva. Dort wird die Vergangenheit ja nicht vollständig verschwiegen. Die NS-Zeit wird zelebriert und die Ideologie weitergetragen. Was in dieser nicht stattfindet ist eine Reflektion und das Überdenken der eigenen Perspektive.  Ich halte das Reflektieren von Zusammenhängen und Diskutieren von Ereignissen für essenziell.

Roy, Ivas Mann, sagt ihr einmal: „Seitdem ich dich kenne, bist du auf der Flucht, Iva.“ Dabei ist der Mensch mit seinem aufrechten, aber mit dem Alter immer schwerfälligeren Gang ein denkbar schlechtes „Fluchttier“. Therapien alles Art florieren, weil wir uns von alleine dem nicht stellen, wovor wir fliehen. Ist Schreiben eine Gegenbewegung zur Flucht?
Ja, ich denke schon. Schreiben und auch Lesen sind Auseinandersetzungen. Sie können die Angst, das Unbehagen vor Themen nehmen. Bei mir beobachte ich oft, dass ich mich mit Thematiken beschäftige, die mir auf unterschiedlichste Weisen Angst machen. Wie in meinem ersten Roman „Elijas Lied“ die Ideologie der Neuen Rechten. Beschäftigung und das Schreiben mit solchen Themen hilft einen vernünftigen Blick auf Veränderungen und Entwicklungen zu bekommen. Gleichzeitig löst es natürlich keine gesellschaftlichen Probleme, aber erschafft Denkräume, die Anstöße geben können.

Wie sind sie auf den Völkermord im heutigen Namibia gestossen? Kein Thema, das in der Deutschen Literatur einen gossen Hallraum hätte!
Das stimmt. Und das hat mich verblüfft. Ich habe mehr oder weniger zufällig von dem Genozid erfahren und mich erschrocken, wie wenig ich darüber wusste. In meiner Schulzeit war die deutsche Kolonialgeschichte etwas kaum Erwähntes. Auch in meinem Studium war sie kein Thema und das hat mich sehr irritiert. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren. Ich denke, dass zu diesem Thema noch viel geschrieben, gedacht und gesagt werden muss. Und das vor allem die Opferverbände mehr Gehör bekommen müssen. 

Amanda Lasker-Berlin, geboren 1994 in Essen, inszenierte mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert sie Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Ihre Theaterstücke und Prosa wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, «Elijas Lied» wurde mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 ausgezeichnet und für Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur nominiert. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Videoporträt 

Beitragsfoto © Nora Battenberg-Cartwright

Christian Kracht „Eurotrash“, Kiwi #SchweizerBuchpreis 21/4

Christian Kracht hat seinen Roman «Eurotrash» aus dem Rennen des Schweizer Buchpreises genommen. Aber auch wenn sich der Autor aus dem Wettbewerb ausklinkte, melde ich mich als Buchpreisbegleiter. Ich melde mich, weil ich sein Buch gelesen habe und es vielleicht nicht getan hätte, wäre sein Name nicht auf der Shortlist gestanden.

So wie es andere Bücher nie auf die Oberfläche des allgemeinen Interesses schaffen, so tun es andere auf jeden Fall. Und es gibt Bücher, an denen die Medien, Jurys und der Buchmarkt schlicht nicht in der Lage zu sein scheinen, an ihnen vorbeizugehen, weil sich allein die Beschäftigung mit ihnen lohnt, in Sachen Publicity oder in der Brieftasche selbst.

Ich möchte vorausschicken, dass ich zwei Bücher von Christian Kracht über die Massen schätzte und gerne gelesen habe: «Imperium» und «Die Toten» mit dem er 2016 den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen durfte (auch wenn man Dankbarkeit damals nicht aus seiner Reaktion lesen konnte). Beide Romane sind hohe Sprachkunst, genial konstruiert und wie immer bei Christian Kracht genial inszeniert.

Christian Kracht kann zwei Dinge unbestreitbar: Schreiben und Verunsichern. Das beweist er mit seinem Roman «Eurotrash», der es nun, als wäre es perfekt inszeniert, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Ein Roman, der mich als Leser gleichermassen faszinierte wie befremdete. Das tut dem Roman keinen Abbruch, denn ich unterstelle dem Autor, dass er genau das will. So wie er mich mit seinem Roman verunsichert, so verunsichert er mich als Person. Ich unterstelle dem Autor, dass er sich als Person und Schriftsteller perfekt vermarktet. «Christian Kracht» ist eine Marke, bei dem alles aufhorcht, wenn er sich ankündigt. Ein lebendiges Pulverfass, ein Funkelstein, der schwindlig macht, wenn man ihn lange genug fixiert.

Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-462-05083-7

Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Eine von Familie und Geschichte beschädigte alte Frau fährt mit ihrem von Familie und Geschichte beschädigten Sohn mit einem Taxi und einer prallvollen Plastiktüte Geld kreuz und quer durchs Land. Eigentlich tun sich beide gegenseitig nicht gut, bezichtigen sich aller erdenklichen Versäumnisse und Quälereien. Eine Tour durch ein Land durch Städte, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen, eine Tour durch Erinnerungen, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen. Eine Mutter und ein Sohn. Eine Bindung, die sich nur schwer mit Begriffen wie «Liebe», «Geborgenheit» uns «Wärme» verbinden lässt. Eine Bindung zwischen maximaler Abneigung und untrennbarer Nähe. Jeder, der liest, hat eine Mutter. Wir wissen, wie fragil eine solche Beziehung sein und werden kann. Darum schmerzt die Lektüre dieses Buches zuweilen körperlich. Nicht weil ich denke, dass der Autor die Wirklichkeit abbilden will – keinesfalls. Zuletzt bei Christian Kracht. Aber weil das Hickhack zwischen Mutter und Sohn so meisterhaft und klug inszeniert ist, dass es zumindest bei mir einen Nerz trifft, der bei der Lektüre empfindlich reagiert. Genau das, was ein Autor doch will. Einen Nerv treffen. Lesende konfrontieren, sie zur Auseinandersetzung zwingen.

Man liest «Eurotrash» nicht zur Erbauung. Und meiner Mutter würde ich das Buch zuletzt schenken. Eben perfekt inszeniert. Ein Spiel. Eine Inszenierung. So wie die Figur Christian Kracht auch. Was kann sich ein Autor mehr wünschen, dass sich eine ganze Szene Händeringen fragt, was denn der Autor eigentlich beabsichtigt. Aber möchte ich als Leser bespielt werden? Zu oft nicht. Für einen Kracht reicht es -allemal.

Fazit: Wenn sie sich trauen, dann lesen sie ihn. Wenn er ihnen nicht gefällt, ist das kein Indiz, dass der Roman nicht gut ist.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © leafrei.com

Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa

Hansjörg Schertenleib wagt einiges: Ein Lehrer, der sich zu Sex mit einer Schülerin hinreissen lässt. Ein Video, der den heftigen Akt dorthin trägt, wo der Mob nur lüstern darauf wartet und eine junge Frau, die sich ihrer Macht mit jeder Faser ihres Körpers bewusst ist. Ein Roman, der nicht in die Gegenwart zu passen scheint – und deshalb genau richtig ist!

Was muss passieren, bis man das Leben führt, das man eigentlich in sich trägt? Ist man dann erst reif und erwachsen genug? Caspar Arbenz ist Schlagzeuger, fünfundfünfzig und Lehrer an einer Musikschule, verheiratet, leidlich glücklich und Vater eines Sohnes, der als Arzt all das erreichte, was der Vater bislang nicht schaffte; Konstanz und Souveränität. Juliette ist neunzehn, studiert Gesang und ist für wenige Lektionen Rhythmik sogar die Schülerin von Arbenz. Nicht dass sie verliebt gewesen wären, weder Juliette noch Arbenz. Aber an jenem Abend an der Jazzschule, nach einem Konzert, zuerst an der Bar, dann in den Gängen, am Schluss in einem vollgestellten Proberaum, in dem sie sich alleine glaubten, setzte sich fort, was wie ein Spiel begonnen hatte; ein Spiel von Macht, Rausch und Fatalismus.

Aber als am nächsten Tag in den Sozialen Medien ein zweiunddreissig Sekunden lange Film auftaucht, der unmissverständlich zeigt, was im Halbdunkel geschah, mehr als deutliche Bilder der jungen Frau und ihres Lehrers zeigen, kippen zwei Welten. Beide heisst man vorerst von der Schule fernzubleiben, Arbenz Frau verlässt Wohnung und Ehe, es droht Suspendierung und Kündigung. Juliette spürt das Beben zuerst in ihrer WG und dann mit voller Kraft dort, wo sich bislang ein ganzes grosses Stück ihres Lebens abspielte; im Netz. Der sensationsgeile Mob stürzt sich auf die beiden, macht sie gleichermassen zu Opfern und Tätern. Man urteilt und richtet, als hätte der reisserische Mob nur darauf gewartet, sich aus der Coronaerstarrung auf jene zwei Leiber zu stürzen, die taten, was in einer heuchlerischen Gesellschaft gut getarnt schon längstens plattgemachte Tatsache ist.

Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa, 2021, 256 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-311-10064-5

Man mag sie beide nicht. Aber muss man Protagonist:innen mögen? Die junge Frau, die selbstverliebt genau weiss, wie sie mit ihrer Macht spielen kann, wie sie jedes Spiel zu gewinnen glaubt? Den alternden Lehrer mit Lederjacke und ausgetragenen Jeans, der ebenso an seine Unwiderstehlichkeit glaubt, sowohl musikalisch wie als Mann? Beide weigern sich, sich der Konsequenzen ihres Tuns bewusst zu sein. Juliette ist bas erstaunt, dass man sie zur Schlampe erklärt, Arbenz, dass die eine Affäre mehr genügt, dem Arrangement seiner Ehe die Luft abzudrehen. Und doch mag ich sie, weil Hansjörg Schertenleib die Menschen in seinem Roman zeigt, wie Menschen wirklich sind. Wie naiv zu glauben, man müsse ausgerechnet in der Literatur, in der Kunst, den Lesern schmeicheln. Manchmal sehne ich mich nach Autoren wie Thomas Bernhard, die sich am Höhepunkt ihrer Popularität nicht scheuten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, schamlos zu zeigen, was wirklich ist. Arbenz muss das Leben mit allem ins Gesicht schlagen, um ihm sein verkorkstes Leben vorzuführen. Und Juliette gerät gnadenlos in einen Cyberstrudel, der sie zu Gedanken zwingt, die sie sich nie gemacht hätte, hätten jene zweiunddreissig Sekunden nicht zurückgeschlagen. Beide flüchten, Arbenz in die alte Werkstatt seines Vaters am Rande eines Dorfes und Juliette ins Burgund, wo ihr Vater ein kleines Hotel trotz Corona am Laufen zu halten versucht.

Dienstag, 26. Oktober, 20 Uhr, im Kultbau St. Gallen, Konkordiastrasse 27: Hansjörg Schertenleib liest aus seinem Roman «Offene Türen, offene Fenster». Kollekte, Anmeldung unter kultbau.org
© Milena Schlösser

Aber was den Roman zu einer Perle macht, ist seine Sprache, die ungeheure Intensität seiner Beschreibungen, die Nähe zu seinen Protagonist:innen. Alle die filigranen Kleinigkeiten, die nicht zufällig in den Roman eingestreut sind, so wie immer wieder einmal ein toter Vogel oder eine alte Obdachlose mit sybillischem Dialog. Und all die Fragen, die der Text ganz leise stellt, die mich als Leser nicht loslassen. Ob man jene kennt, die einem am nächsten sind. Ob wir den richtigen Fährten folgen. Hansjörg Schertenleibs Roman ist ein starkes Stück Literatur, eingetaucht in den Sound der Gegenwart. Ehrlich und direkt!   

Und so ganz nebenbei: Ist doch gut, dass es bei Kampa neben den vielen Krimis auch noch Platz für Feinkost hat!

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind auch «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel» erschienen.

«Der Stich» Kurzgeschichte von Hansjörg Schertenleib auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © DavidClough

Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber

Kennen wir jene, die uns am nächsten sind? Unsere Kinder? Was wird aus ihnen, wenn sie Türen schlagen und in ihrem Zimmer verschwinden, wenn das grosse Schweigen ausbricht, wenn man als Eltern spürt, dass man zu Statisten wird? Ayelet Gunnar-Goshen spürt einer Entfremdung nach, der Eltern zu gerne mit Verbissenheit begegnen, kleine und grosse Katastrophen dabei nur noch unausweichlicher machen.

Man herzt sie, wenn sie klein sind. Sie sind einem das Nächste, das Wichtigste, eigen Fleisch und Blut. Man nimmt sie an der Hand, bekommt Küsschen, feiert die Liebe und die Familie. Um dann mit einem Mal festzustellen, dass in der vermeintlichen Symbiose Risse entstehen, dass sich in die Nähe Schranken hineinschieben, dass anderes und andere mit einem Mal wichtiger werden. Und wenn dann mit der Pubertät Emotion und Psyche nicht nur beim Kind in Wallung geraten, zeigt es sich, dass die Entfernung, die Entfremdung, die mit der Geburt begonnen hat, mit einmal Mal schmerzlich bewusst wird.

Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber, 2021, 352 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5849-1

Lilach und Michael leben mit ihrem Sohn Adam in Kalifornien, im Silicon Valley. Sie haben es geschafft. Nicht nur durch vielversprechende Jobs, auch als Familie, auch als Loslösung von den Traumas in ihren Familien, die in Israel zurückgeblieben sind. Angekommen aber sind sie nicht. Sie fühlen sich fremd, nicht zuletzt, weil Ihnen die Sprache der Heimat noch immer näher ist und sie genau spüren, dass Adam, ihr einziger Sohn, sich immer mehr aktiv von seiner Herkunft, seiner Sprache entfernt. Dass sich Adam nach und nach in sein Zimmer zurückzieht und nur noch einsilbig auf die Kommunikationsversuche seiner Eltern reagiert, scheint jener Phase geschuldet, durch die es alle Familien schaffen müssen. Aber als bei einer Party unter Jugendlichen ein Junge aus Adams Klasse tot zusammensackt, als sich die eilige Diagnose Herzstillstand nicht bewahrheitet und Drogen im Spiel zu sein scheinen, als die Polizei zu ermitteln beginnt und sich Adam einem Selbstverteidigungskurs unter der Leitung eines ehemaligen Soldaten der israelischen Armee anschliesst, als rassistische Parolen an die Wände der Schule geschmiert werden und klar wird, dass der liebe Junge, der seinen Hund vor einem qualvollen Tod bewahrte und seinen Liebreiz von unzähligen Fotos ausströmen lässt, langst nicht mehr der ist, den Lilach in ihrem Herzen trägt.

Ist dieses Gesicht, dass sie doch so gut kennt, vielleicht besser als sich selbst, in das sie alle Hoffnungen setzt, das sie bedingungslos und aufopfern zu lieben weiss, jenes, das sie liebt? Adam liebt Keller, seinen gezeichneten Hund. Und Adam liebt Uri, seinen Trainer, der ihm all das beibringt, was Mutter und Vater sich nie trauen würden. Die Gruppe robbt durch den Schlamm, übt die Gegenwehr mit roher Gewalt, gebärdet sich wie eine Kampftruppe. Lilach versteht nicht mehr. Sie versteht ihren Sohn nicht mehr, ihren Mann, dem die Arbeit wichtiger erscheint als das Leiden ihres Sohnes. Alles droht ihr wegzurutschen, auch ihre Arbeit, in die sie sich zuvor so leidenschaftlich hineingab. Während die Zeichen des Sturms um sie herum immer unmissverständlicher werden, Steine fliegen und Blut fliesst, wird aus der liebenden Mutter eine entschlossene Kämpferin. Doch der Kampf wird wie ein Feuer, das man mit heftigem und entschlossenen Blasen zu löschen versucht. Die Flammen schlagen ihr ins Gesicht. Warum ist ihr Mann immer dann weg, wenn er gebraucht wird? Warum ist Adams Trainer Uri immer dann da, wenn Not am Mann ist? Warum gelingt es ihr als Mutter nicht, ihrem Sohn das Herz zu öffnen? Was passiert?

Lilach ist nirgends mehr zuhause. Auch nicht mehr in ihrer Familie. Nicht einmal mehr bei ihrem Mann. Ayelet Gundar-Goshen ist eine grosse Beobachterin mit einem Sensorium, das sich ganz tief in die Seelenzustände ihrer Protagonist:innen hineinschraubt. „Wo der Wolf lauert“ ist kein Kulissenspektakel, aber ein Seelensturm. Der Roman erzählt subtil und mit kleinen Schritten, überrascht durch seine Kraft und durch die Nähe zum inneren Kampf, den die leidende und mitleidende Mutter aussteht. Ich fühle mich als Leser in eine Geschichte hineingezogen, die mich auch auf der letzten Seite nicht erlöst, die mir zeigt, wie das wirkliche Leben ist; unergründlich.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz» (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit «Löwen wecken» ihr zweiter Roman, der für NBC als TV-Serie verfilmt wurde, und 2017 ihr Roman «Lügnerin«. Sie lebt in Tel Aviv.

Beitragsbild © Tal Shahar

5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus

„Krumholz“ ist ein Stück Wald, in dem Agatha ihr Leben liess. Aber vielleicht auch das Leben der beiden Protagonisten, deren Leben nie gerade verlief, das wie ein krummes Stück Holz abgerissen vom Ganzen weggeworfen wurde. Flavio Steimann ist ein Meister der stimmungsvollen Sätze, die in fast barockem Glanz so ganz anders klingen wie das Einerlei des Mainstreams.

Klar, es gibt den süffigen Wein, den süssen, den herben, den vollen, den trockenen. Wäre „Krumholz“ ein Wein, dann wäre es Portwein, schwer und nur in keinen Schlucken zu geniessen. Zwar las ich den Roman im Liegestuhl an einem breiten Fluss, aber im Wissen darum, dass ich dem Geschenk dieses Buches nicht gerecht werde. Da ist wohl eine Story, gar verbürgt und in seiner Abfolge amtlichen Akten nachempfunden. Was den Roman aber so genussreich macht, ist seine opulente Sprache, die Kontraste und Farben überzeichnet, das Lesen zu einem Schmaus mit jenen Sinnen wachsen lässt, die im Kopf Farben, Formen, Rhythmen und Empfindungen evozieren. Mag sein, dass meine Beschreibungen hymnisch werden. Aber als ich das Buch gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein. Ich hätte es langsamer lesen sollen, immer wieder weglegen, die Lektüre zu einem Zeremonie machend. Eben wie bei Portwein, und zwar mit jenem von der teuren Sorte.

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus, 2021, 195 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96054-247-6

Agatha kommt Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt, irgendwo im Nirgendwo, in einer Bauernfamilie, die eh schon ums Überleben kämpft. Bei der Geburt entscheidet sich der junge Arzt, den die verzweifelnde Hebamme herbeiholt, für das Leben des Neugeborenen. Die Mutter stirbt, der Vater zerbricht. Der Hof geht vor die Hunde. Und als klar wird, dass das kleine Mädchen taub ist und der Vater es nicht mehr schaffen wird, gibt man das Mädchen vorübergehend Verwandten in Obhut, bis sich die Ämter melden und man das Mädchen in eine «Armen- und Idiotenanstalt» steckt. Wie Flavio Steimann, der auch als Theaterautor erfolgreich ist, das Geschehen in jenen Gemäuern beschreibt, zum Beispiel als der Störmetzger eine Sau schlachtet und die Schlachterei zu einem opulenten Szenenspektakel macht, zwingt mich der Autor am Ende der Lektüre noch einmal zu den markierten Stellen zurückzukehren, um noch einmal in den Bildern zu baden.

Als Agatha alt genug ist, um für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, schickt man sie in eine der vielen Textilfabriken, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Boden schiessen. Ganz allmählich beginnt die junge Frau die Welt zu erkennen, bis man bei einer der damaligen mobilen Reihenuntersuchungen bei ihr Tuberkulose diagnostiziert und die junge Frau auf einen Hof auf dem Land zur Erholung schickt. Und weil sie nicht arbeiten soll, zieht sich Agathe in den nahen Wald ins „Krumholz“ zurück, aus dem sie eines Tages nicht mehr zurückkehrt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Flavio Steimann von Innozenz Torecht, genannt Zenz. Zenz ist ein Vagabund, ein Herumtreiber, dauernd auf der Flucht, vor sich selbst, seiner Vergangenheit, dem Hunger, den Ämtern, mal in Paris als Modell in den Diensten eines Künstlers, mal als Halbwilder in den Wäldern. Bis zu jenem Tag, als er eine junge Frau im Wald antrifft, eine junge Frau, die die Begegnung mit dem Streuner und Ruhelosen mit ihrem Leben bezahlt. Man wird ihm habhaft, steckt ihn ins Gefängnis, macht ihm den Prozess und einen Kopf kürzer.

Flavio Steimann erzählt zwei Leben, die sich fatal kreuzen. Von zwei Menschen, denen die Gesellschaft von Beginn weg den Stempel des Verlierers auf die Haut brennt, die man auf die Seite der Bösen, Missratenen, vom Teufel Besessenen drängt, mit Unterstützung der Kirche und des Staates, in einer Zeit, die doch eigentlich im Aufbruch steckte. Aber Menschen, und vor allem die Armen, Rechtlosen, sind Material.

Gerade weil einem das Geschehen manchmal fast mittelalterlich dünkt und die Geschehnisse parallel mit den Errungenschaften der aufkommenden Psychologie einhergehen, reisst die Geschichte mit. Dass mich Flavio Steimann dabei fast überbordend in den Strudel seiner Sprache hineinzieht und dabei alle Regeln der Sprachbescheidenheit elegant umschifft, macht «Krumholz» zu einem Sonderling. So wie Portwein. Allen schmeckt er nicht! Aber mir!

Interview

Der Inhalt ist authentisch, beruht auf einem «Fall» aus dem Jahr 1914. Wie sind sie auf den Stoff gestossen? Solche Geschichten offenbaren sich ja meist durch aktives Suchen, wenn auch auf der Suche nach etwas ganz anderem.
Es war in der Tat so: Ich habe aus Interesse Akten zum Prozess gegen den Vierfachmörder Matthias Muff besorgt und bin dabei quasi als Beifang auf das Urteil über Wütschert gestossen. In groben Zügen war mir seine Geschichte bereits bekannt; in der Dokumentation durch die Behörde mit dieser speziellen formaljuristischen und gleichzeitig selbstgerechten Ausprägung aber hat mich die Sache dann nicht mehr losgelassen, insbesondere auch, weil das weibliche Opfer als Objekt des Delikts nur in wenigen Worten erwähnt wird. Um die Idee nicht am Faktischen ersticken zu lassen, habe ich das dünne Büchlein mit dem Urteil des Luzerner Obergerichts nach der Lektüre lange Zeit liegen lassen, bis sich eine Art Vergessen einstellte; ich wolle mich bewusst wieder vom authentischen Fall lösen und ihn nur noch modellhaft verwenden. Geblieben ist letztendlich der Umriss als Plot mit seinen beiden Hauptfiguren, die ich aber fiktional gestaltet habe – unter Beibehaltung gewisser Schnittmengen mit dem historischen Personal, wo ich es für wesentlich und adäquat erachtete.

Die Geschichte, der ganze Roman lebt vom Kontrast. Auf der einen Seite eine Gesellschaft im Aufbruch, der Wechsel von einer reinen Agrar- zu einer Industriegesellschaft, das Aufbrechen der Psychologie, der Kunst. Und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die noch immer in ganz klare Muster trennt; unten und oben, gut und böse, Privileg und Material. Auch in Agatha und Zenz offenbaren sich diese Kontraste. Lieben Sie den Kontrast?
Verschiedenheit, Ambiguität und Ambivalenz machen den Reiz der verschiedenen Literaturen und damit auch des Lesens aus. Jedes gelungene Erzählen lebt in irgendeiner Form von Unterschieden, Gegenteilen und Kontrasten – im Guten wie im Schlechten. Was in meinen Texten, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dazukommt, ist die Realität des sozialen Gefälles, sowohl was den Lebensstandard als auch die Geistesschulung betrifft. Diese Diskrepanz ist auch auf unserer modernen Welt bei Weitem noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil. Hinsichtlich Armut, Bildungsmangel und Ausgrenzung sind Aga und Zenz gewissermassen Zwillinge. Trotz unterschiedlicher Charaktere leben aber beide ganz unten, und das Delikt macht die Fatalität ihrer Lebenskatastrophen zudem unabwendbar und endgültig.

Mein Deutschlehrer warnte uns einst vor einem übermässigen Gebrauch von Adjektiven. Trotzdem hätte mein Deutschlehrer wahrscheinlich Freude an ihrem Roman gehabt, denn es gibt nichts Heikleres im Schreiben, als eben diese Sorte Wörter richtig einzusetzen. Aber weil sie ihr Erzählen in einen so ganz eigenen Sound eintauchen, stört die Würze nicht. Es ploppt in den Rezeptoren! Drängte sich das von Beginn weg auf?
Literarische Texte schreibe ich mit der Feder unbeeinflusst von formalen Überlegungen aus der Hand heraus und folge dabei einer Intuition, die mir ohne ein gewolltes Zutun Duktus und Klang vorgibt. Das Beschriebene oder Erzählte wird somit Ergebnis eines unkontrollierten generativen Schreibakts und nicht eines absichtsvollen Konstruierens. Strukturelle Analysen auf der Metaebene mache ich keine, somit fehlt mir ein klar definiertes Bewusstsein für die Art meines Schreibens, und allfällige Überhänge von einzelnen Wortarten nehme ich nicht wahr. Dennoch: Einleuchtenden, nachvollziehbaren Vorschlägen zu Lektoratseingriffen entziehe ich mich nicht; letztlich gibt es aber so viele verschiedene Rezeptionen und Urteile wie Lesende, und jene sind nicht selten diametral, immer aber breit gestreut.

Es hätte eine Kampfschrift für die Verlorenen, Unterdrückten werden können. Und doch, trotz aller sprachlichen Nähe, bleiben sie beim Schreiben in erstaunlicher Distanz, halten sich mit jeglicher Interpretation zurück. Auf der einen Seite sprachliche Opulenz, auf der anderen Seite erzählerische Distanz. Wieder ein Kontrast?
Wenn man so will. Ich verstehe mich als Erzähler und nicht als Erklärer von Geschichten. Weil ich davon ausgehe, dass es ohnehin keinen Plot, keine Romanidee gibt, die nicht schon auf der Welt wäre, ist für mich in allererster Linie die Form, der sprachliche Zugriff auf das Gewählte entscheidend. Dieser bestimmt letztlich auch den Standpunkt und die Haltung der Autorschaft: Bei aller Empathie für mein Personal will und kann ich nicht aktiver Anwalt oder gar Interpret sein: Wertungen, Urteile, psychologische Einordnungen sollen nicht Elemente meiner Prosa sein. Zuzustimmen oder abzulehnen, Nähe oder Distanz zum Roman und seinen Figuren zu finden, ist in jedem Fall Angelegenheit des Lesepublikums.

Ihr vorheriger Roman „Bajass“ und „Krumholz“ sind verwandt. Ist das Programm?
In einem bestimmten Sinne, ja! Zusammen mit „Aperwind“ (1987) sind diese letzten Werke in einer weiten Klammer trilogisch zu verstehen. Die Bücher sind im Wesentlichen in drei verschiedenen Bereichen verortet, die auch Gegebenheiten und Biografien meines familiären Hintergrunds geprägt haben: Die technischen Errungenschaften der anbrechenden Moderne und die damit verbundene Emigration sowie die Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft. Angesiedelt habe ich diese Texte bewusst in einer Periode des vielfältigen Aufbruchs vor und nach der Jahrhundertwende von 1900 – es gab da, neben viel anderem, Eisenbahnprojekte, die Erfindung der drahtlosen Telegrafie und der Kunstseide, die Blüte der Atlantikschifffahrt mit dem Traum von Amerika – fundamentale dramaturgische Elemente, die in meinem Erzählen mehrschichtig als Hintergründe oder Treiber wirken.

Flavio Steimann, geboren 1945 in Luzern, ist seit 1966 literarisch und als Theatermacher tätig und veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Er wurde ausgezeichnet mit dem Förderpreis von Stadt und Kanton Luzern, mit dem Schweizerischen Schillerpreis und mit dem Förderpreis der Marianne und Curt-Dienemann-Stiftung Luzern. Sein Roman «Bajass» erschien 2014 und wurde 2020 in Luzern als Theaterfassung uraufgeführt.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist. 

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

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Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

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Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Peter Weibel «An den Rändern», edition büchelese

Ein Erzählband eines Schriftstellers, der ein Leben lang als Arzt arbeitet, seit Jahrzehnten in der Geriatrie, dort wo gestorben wird. Ein Erzählband, der in Bildern von Erlebnissen an den Rändern des Lebens, an den Rändern des Seins erzählt, nicht nur mit Worten. Peter Weibel malt mit feinem Pinsel, transparenten Farben Szenen, die nicht durch Kontur gewinnen, sondern durch das Fluid, das sie erzeugen!

„An den Rändern“ lag eine ganze Weile da; auf dem Nachttischen, in der Bibliothek, auf dem grossen Tisch im Wohnzimmer, am Schluss auf dem Arbeitstisch in der Gästewohnung des Literaturhauses Thurgau. „An den Rändern“ hat mich lange begleitet, weil ich die Geschichten nicht trinken wollte wie ein Glas Wasser. Viel mehr wie einen Trank, eine Art Medizin, ein Heilmittel, das mir verspricht, dass selbst dort, wo es zu Ende geht, ein Zauber sein kann, dass selbst dort etwas beginnen kann, dass es meine Sichtweise ist, die aus Grenzerfahrungen Abgründe macht.

„Manchmal muss man an die Grenzen gehen, wenn alles nur noch ein Warten auf die allerletzte Grenze ist.“

Peter Weibel «An den Rändern», edition bücherlese, 2021, 144 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906907-44-4

Ich traf Peter Weibel im Sommer 2020 in Bern. Ich war in der Stadt und rief ihn an, ob er Zeit für ein Treffen habe, obwohl wir uns höchstens vom Hörensagen kennen. Ich wartete auf der Münsterplattform, einem kleinen Park über der Aare, bis ich ihn mit Pfeife und wildem, weissen Haarschopf und einer Tasche an den Schultern in die Menschen schreiten sah. Wir kannten uns gleich, obwohl das letzte Treffen Jahre zurücklag und am Schluss einer Lesung eine Signatur lang dauerte. Als wären wir Freunde. Peter Weibel ist unmittelbar, lässt keinen Zweifel, dass sein Bemühen das eines Mannes ist, der keine Lust verspürt, in Spielchen das Gegenüber abzutasten. So sind auch seine Geschichten; unmittelbar und direkt, ehrlich und durchtränkt von gelebter Empathie.

„Die Liebe ist der letzte Hort der Utopie.“

Was ich damals nicht wusste; Peter Weibel malt. Nicht erst, seit die Arbeit als Arzt etwas weniger geworden ist (Andere wären schon ein Jahrzehnt pensioniert!), sondern schon lange. Ein Tun, das auch in die Geschichten in seinem Erzählband einfliesst. Und Peter Weibel erzählt wie er malt. Es sind nicht Zeichnungen mit harten Konturen, klaren Linien, die abbilden, was man sieht. Es sind Aquarelle mit fliessenden Übergängen, auslaufenden Farbflächen, Farben, die ineinanderfliessen. So wie seine Geschichten, die keine Szenerie nachzeichnen wollen, sondern ein Gefühl, eine Ahnung, eine sich ausbreitende Erkenntnis.

„Nicht alles, was wir sehen, können wir greifen, und nicht alles, was wir greifen wollen, können wir sehen, aber manchmal sehen wir durch die Zeit hindurch.“

Ich las „An den Rändern“, als hätte mir der Autor seine Hand auf meine Brust gelegt, um meinen schnellen Atem, meine Ängste zu bannen. Es sind Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe zu diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann.

„Man kann nicht schreiben, ohne den Schmerz zu kennen.»

.. und ein wunderschön gestaltetes Buch mit Aquarellen des Autors!

Interview 

Dein Erzählband ist ein Buch des Innehaltens. Es sind Momente der intensiven Reflexion. Fällt dir das im Alter leichter oder muss es eine Eigenschaft des literarischen Schreibens sein?
Ich glaube, das Alter verändert den Schreibprozess bei jedem von uns, und bei jedem anders – bei mir vielleicht: Die Arbeit an der Verdichtung; Versuche, eine rythmische Prosaform zu finden, die leicht sein kann, auch wenn sie Schweres mittragen will, die zugleich reflektiv und bildkräftig sein soll. Auf mein eigenes Alter bezogen: Die kreative Kraft lässt nach, die Erfahrung erleichtert den Prozess der literarischen Gestaltung.

Du schreibst. Du malst. Wo liegen die Unterschiede in diesen beiden kreativen Tätigkeiten? Wo die Gemeinsamkeiten?
Schreiben und Malen: Schreiben als Profession – Malen als pure Freude; Aquarellieren als Poesie des Augenblicks… Aquarellieren ist etwas sehr Augenblick-bezogenes; selten gelingt der grosse Wurf mit dem Pinselstrich, dem auslaufenden Wasser, meistens aber nicht, und du kannst nicht mehr korrigieren… Die Knochenarbeit, die ja zum literarischen Gestalten gehört, kennt das Aquarellieren nicht.

Du beschreibst viele Begegnungen mit Menschen, die eine Krankheit, das Alter, Geschehnisse an den Rand gebracht haben. Du schreibst behutsam, weit weg vom Pointenzwang. Wenig Effekt, dafür viel Tiefe, viel Empathie. Lehrte dich das dein Beruf als Arzt?
Natürlich prägt mein Erstberuf als Arzt den Zweitberuf des Schreibenden («Der Zweitberuf als kritische Instanz des ersten»). Es ist wie bei Kurt Marti, der in seinen «Leichenreden» – und nicht nur da! – im literarischen Wort gestaltet, was er als Theologe auf der Kanzel nicht aussprechen konnte. Im kurzen Essay «Die literarische Sprache beginnt dort, wo die medizinische endet» habe ich vor kurzem versucht, ein paar Gedanken zur Verbindung von Medizin und Literatur festzuhalten.

Corona spielt in deinen Erzählungen eine marginale Rolle, ist aber da, mehr als ein hintergründiges Rauschen. In vielen Gesprächen mit Schreibenden kam die Frage immer wieder, wie und wann sich das Virus auch in der Literatur wie ein Sediment ablagern wird. Auch ein Sediment in dir?
Die Corona-Zeit hat mich natürlich sehr geprägt, in vielen Bereichen. In zwei Erzählungen habe ich versucht, der Verstörung eine literarische Form zu geben; einmal die erschütternden Erfahrungen in den Pflegeheimen, wo ich selbst arbeite, einmal die zeitlose Botschaft von Camus› Pestroman, die über Nacht mit Wucht zurückgekehrt ist; «Menschen haben Angst und werden klein, andere werden gross und lassen die Angst zurück».

© Peter Weibel / Aquarell

„Il n’y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître la nuit.“ Ein Satz von Camus. Mit ihm endet eine deiner Geschichten. Albert Camus scheint sich in der Gegenwart als wiederentdeckte Stimme aufgeschwungen zu haben. Wie sehr lässt du dich von anderen in deiner kreativen Arbeit beeinflussen?
Keiner und keine von uns lebt und schreibt ja in einem hermetischen Innenraum, wir alle sind geprägt von literarischen Erfahrungen, von Vorbildern, Leitfiguren. Bei mir sicher Böll, Christa Wolf, Büchner, und vor allem Albert Camus – er war für mich die erste Ikone der Literatur, als ich noch tief in der Schule steckte, und sein Pestarzt die erste Ikone der Medizin.

Ein Thema in einigen deiner Geschichten ist das Alter und das Gefühl, als alter Mensch nicht mehr ernst genommen zu werden. Ist das eine Erfahrung der Gegenwart?
Alte Menschen haben ja oft einen grossen – und ja verkannten – Lebensreichtum, der weiterfliessen könnte und selten weiterfliessen kann: Die lächelnde Lebensdistanz, das Schweben und Schaukeln der Dinge, das Durchschauen von Lebens-Täuschungen… In der Erzählung «Altern» habe ich versucht, einem dieser Alternden, denen ich täglich begegne, eine Stimme zu geben.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» (edition bücherlese).

Beitragsbilder © Ayse Yavas