Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz

Wäre es ein anderer gewesen, der seinen Roman „Jahrhundertroman“ betitelt hätte, hätte ich das Buch nicht einmal in die Hand genommen, selbst wenn es ironisch gemeint gewesen wäre. Aber diesen Roman schrieb nicht irgendeiner, sondern Peter Henisch. Einer, der zu den ganz Grossen gehört, nicht erst ein paar Jahre, sondern seit Jahrzehnten. Einer, bei dem jedes nicht gelesene Buch ein potenziell grosses Versäumnis sein kann.

Roch ist ein schrulliger Alter, der zu den Stammgästen in jenem Café gehört, in dem die Studentin Lisa eine Arbeit gefunden hat. Eine Arbeit, die zum Allernötigsten reicht und längst nicht alles abverlangt. Denn es ist nicht viel, was es in dem Lokal, das einst viel bessere Zeiten erlebt hatte, zu tun gibt. Auch nicht, wenn Herr Roch dort sein immer gleiches Frühstück bestellt und alles dafür tut, die junge Kellnerin Lisa in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwann erzählt er von einem Manuskript, seinem grossen Roman, den er beabsichtige, endlich zu einem guten Ende zu bringen, seinem Jahrhundertroman, die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, erzählt mit den Geschichten jener Literaten, die in diesem Jahrhundert seine Stadt, die Stadt Wien bewohnten. Er brauche jemanden, der das von Hand geschriebene Manuskript abtippe, biete zwei Euro pro Seite. Irgendwann wird die abgegriffene Mappe mit dem Papierbündel wie heisser Stoff im Café übergeben, denn die sonst kaum je anwesende Wirtin will nicht, dass Gäste ihrer unentbehrlichen Kellnerin zu nahe kommen. Aber als Lisa in ihrer WG das Manuskript auspackt, muss sie feststellen, dass sie den Text nicht einmal bruchstückhaft lesen kann, denn Rochs kryptische Handschrift ist für sie nicht zu entziffern. 

Lisa bringt das Manuskript in Rochs Depot in der Floriangasse 4A (einer Adresse, die es tatsächlich gibt), dorthin, wo sich Roch mit seinem Manuskript, seinem Leben zurückgezogen hatte. Einem Lagerraum, in dem er jene Bücher hortet, die er bei der Auflösung seine Bücherei vor der Vernichtung rettete und sich mit all jenen Büchern umgibt, die er auf seinen immer seltener werdenden Streifzügen in seine Höhle schleppt. Nach etwelchen Versuchen sitzen sie dann wirklich nebeneinander und Roch bittet Lisa, nachdem er den Schmerz darüber, dass Lisa bei sich zuhause den nicht nummerierten Seitenstapel doch tatsächlich entgegen seinen Warnungen durcheinanderbrachte, eine und immer noch eine andere Seite herauszuziehen, damit Roch ausbreiten kann, was in seinem Jahrhundertroman sonst für immer verborgen bleibt.

Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz, 2021, 388 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1731-6

Da wäre diese Geschichte zwischen dem Alten und der Jungen. Eine Geschichte der Annäherung, die für sich als Geschichte schon genügen würde. Aber eben nicht für einen Jahrhundertroman. Da ist noch die Geschichte von Semira, Lisas Freundin, die seit einigen Monaten in Österreich als Flüchtling Fuss zu fassen versucht, der aber die Ausschaffung droht und sich deshalb dem Arm des Gesetztes entzieht. Durchaus ein Thema, ein Thema, das nicht erst in der Gegenwart in einem europäischen Land zum Knackpunkt von Politik und Gesellschaft geworden ist. Aber nicht genügen würde für einen Jahrhundertroman.
Lisa zieht Blatt um Blatt aus dem Manuskript, dass die Geschichte der Stadt Wien mit den Geschichten ihrer Dichterinnen und Dichter erzählt, über ein ganzes Jahrhundert, von Musil bis Jelinek, von Artmann bis Mayröcker. Von Thomas Bernhard, der sich vor der Première seines Stücks ‹Heldenplatz› vor der ganzen Stadt zu verstecken versucht, weil er weiss, dass er mit der schon verschobenen und durch Misthaufen verhinderten vorerst abgesagten Première einer selbstgefälligen Gesellschaft den Spiegel vorhalten würde. Oder wie Christine Nöstlinger einen Anruf von Ernest Hemingway bekommt, der sie bittet, seine Frau zu werden und Christine Nöstlinger glaubt, einer Verarschung von Helmut Qualtinger aufzusitzen. Oder wie Peter Handke im Kino wenige Reihen vor Roch und seiner Begleitung den Film wie ein Berichterstatter einer Veranstaltung mit Stift und Papier verfolgt und nach der Vorstellung förmlich nach Hause rennt (um seine Erzählung „Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter“ niederzuschreiben). Geschichten, die sich alle wenig um ihren Wahrheitsgehalt kümmern, die das Buch von Peter Henisch aber zu einem  Feuerwerk der Fabulierkunst machen – eben zu einem Jahrhundertroman.

Was der fast achtzigjährige Schriftsteller auspackt, wie kunstvoll er konstruiert und mich als Leser immer und immer wieder überrascht, wie sehr man die Lust des Schreibens spürt, von einem, der sich an Form- und Farbvielfalt der Sprache so gar nicht bemühen muss, sondern alles wie flüssig warme Butter zu fliessen scheint – das beeindruckt ungemein. „Der Jahrhundertroman“ ist ganz viel, vielleicht nicht alles, aber ein fast 300seiten dickes Lesefest erster Güte. Schon lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so sehr amüsiert und berühren lassen wie bei diesem Roman – eben doch ein Jahrhundertroman. (Muss ja nicht der Jahrhundertroman sein.)

PS Wie ich sie liebe, die schrulligen Vögel, die sich im Papier einnisten!

PPS Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie mehr und fragen Sie Ihre Buchhändler:innen oder Bibliothekar:innen.

Interview

Ich mag Herrn Roch. Ich mag den Sonderling und Büchermenschen. Auch seine Unverfrorenheit. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass vieles von Roch zu Herrn Henisch passt. Oder ist meine Vermutung völlig falsch?
Natürlich freut es mich, dass Ihnen mein Buch so sehr zusagt. Ich will also versuchen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut und einfach ich es kann. Dass manches von Herrn Roch zu Henisch passt, kann schon sein – gewiss hab ihm dies und das in den Mund gelegt, was ich auch selbst sagen würde. Jedoch ist er  – gefühlt – etwas älter als ich, deutlich frustrierter, von diversen Handicaps geplagt, die mich Gott sei Dank nicht plagen und eben eine Literaturfigur. Eine Literaturfigur, die ich allerdings recht lebendig vor meinem inneren Auge gesehen und dessen Stimme ich vor meinem inneren Ohr gehört habe, so lang ich in diesem Roman drin war.

Sie lassen mit der Studentin Lisa und Herrn Roch zwei Gegensätze auflaufen. Das meine ich wörtlich, braucht es doch einiges, bis sie sich finden, letztlich die beiderseitige Not. Sie haben eben Ihren 78sten Geburtstag gefeiert. Wie schafft man es, so nahe an der Jugend zu bleiben?
Dass Sie mir in Hinblick auf Lisa zugestehen, nahe an der Jugend geblieben zu sein, finde ich sehr schön. Ich hab sie mir, diese Neunzehnjährige, scheint mir, ganz gut vorstellen können. Anfangs habe ich dabei an eine Nichte meiner Frau gedacht, die eine nicht unähnliche Kindheit gehabt und sich dann sehr tapfer emanzipiert hat. Aber natürlich hat sich die Figur dann verselbständigt, ist eben jetzt Lisa, in deren Rolle ich mich hineinzudenken, hineinzufühlen versucht habe – eine gewisse Empathiefähigkeit gehört ja zu den Voraussetzungen lebendigen Schreibens, da war die Distanz der Jahre und des Geschlechts gar kein grosses Hindernis.

Wenn die Literatur etwas darf, dann ist es das Erfinden. Das ist nicht leicht in einer Zeit, wo dauernd „Fake-News!“ geschrien wird und gewisse Leute sich weigern, der Fantasie ihren Platz zu geben. Selbst bei Filmen braucht es den Zusatz „nach einer wahren Begebenheit“. Weisst heisst das schon. Dabei spielen sie gekonnt mit der Fiktion. Braucht es den Mut der Verzweiflung?
Ja, das Erfinden – in diesem Buch das Erfinden von möglichen, oft wünschenswerten Abweichungen von der sogenannten Realität… Sich vorstellen zu können (zu wollen), dass etwas anders hätte sein können, als es war … Interessant, dass Sie mich fragen, ob es dazu den Mut der Verzweiflung braucht? Darauf wär ich selbst nicht gekommen, mir hat es in der ersten Schicht eher Freude gemacht, aber vielleicht erspüren sie da etwas im Hintergrund, das eine tiefere Wahrheit hat. 

Sich etwa vorzustellen, dass Ödön vom Horvath nicht von jenem Ast getroffen worden wäre, den der Sturm von einem Kastanienbaum in den Champs Elysées gerissen hat. Und dabei zu wissen, dass es leider doch so war … Sehen Sie, ich habe auch eine Szene skizziert, in der Jura Soyfer, der, zwei Tage vor dem Einmarsch der Nazis in Österreich, auf Schiern in die Schweiz fliehen wollte, nicht von übereifrigen Grenzgendarmen aufgehalten und festgenommen worden wäre. Und dann wäre er eben nicht noch im letzten Moment in ein Gefängnis des Schuschnigg-Staates gesperrt worden (von wo er dann, nach Übernahme des Knasts durch die Nazis, ein paar Tage später ins KZ überstellt wurde) aber ich habe diese Szene dann weggelassen, sie hätte m.E. im Zusammengang des Romans zu schwer gewogen.

Büchereien, Buchläden waren einst Treffpunkte von Intellekt und Kultur. Heute sind sie immer mehr Kaufhäuser und Gemischtwarenhandlungen. Buchhandlungen hatten eine Mission. Heute biedern sie sich an. Und trotzdem verschwindet das gute Buch nicht. Werden Leser:innen von anspruchsvoller Literatur immer weniger?
Dass Leserinnen und Leser anspruchsvoller Literatur immer weniger werden, ist zu befürchten. Auch dass Literatur, wie wir sie meinen und lieben, immer weniger geschrieben wird. Das ist es ja, was auch Herr Roch befürchtet, deswegen will er ja den Autoren und Autorinnen seines Jahrhunderts, also eines inzwischen immer weiter in die Vergangenheit abgedrifteten Jahrhunderts, ein Denkmal setzen. Aber vielleicht ist der alte Herr doch etwas zu kulturpessimistisch.

Es gäbe ja eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die seiner Ansicht durch ihre Arbeit widersprechen. Mir fallen da in Österreich spontan die verschiedensten Leute ein; Thomas Stangl („Die Geschichte des Körpers“), Anna Weidenholzer („Der Winter tut den Fischen gut“) und Egon Christian Leitner („Sozalstaatsroman“). Aber die Tendenz, dass Literatur, die sich einfach als cooles Business versteht, in dem vorweg berechnet und dann entsprechend geschrieben wird, was der Zeitgeist verlangt, sowohl von den Verlagen als auch von den Buchhändlern – und dann natürlich auch von den Leserinnen und Lesern, eher angenommen wird, ist nicht zu übersehen.

„Der Jahrhundertroman“, ein ziemlich vermessener Titel. Hätten nicht Sie ihn genommen, hätte er mich als zu vermessen abgeschreckt. Dabei tut mir Roch nicht bloss einmal sehr leid. Ein Bündel Papier, das durcheinander geraten ist, über ein Jahrhundert, das durcheinander geraten ist. Nahmen Sie all die grossen Namen an der Hand und verrieten Ihren ihre Geheimnisse (Geheimnisse müssen ja nicht wahr sein!)?
Dass der Titel „Der Jahrhundertroman“ zu dem Missverständnis Anlass gibt, der Autor (also der Herr Henisch) sei vermessen, grössenwahnsinnig, unrealistisch, was seine Selbsteinschätzung betrifft, war ein Risiko, das ich vielleicht etwas unterschätzt habe.  Andererseits stellt sich doch schon beim Überfliegen des Klappentextes und erst recht nach wenigen Seiten der Lektüre heraus, dass sich der Titel auf den Roman des ehemaligen Buchhändlers und Büchereiangestellten Roch bezieht, ein Manuskript, das die Studentin Lisa abtippen soll, nicht lesen kann, durcheinanderbringt. Ein Fragment, in dem die Chronologie abhandengekommen ist, in dem v.a. der Anfang mit Musil, den der Protagonist sucht, bis ganz knapp vor Schluss nicht zu finden ist. Ein Fragment, das nach und nach von der außersprachlichen Wirklichkeit überholt wird.

Apropos Musil & Co – die großen Namen kommen ja übrigens auch nicht irgendeinem fragwürdigen Kanon entsprechend vor. Manche, wie jener der Frau Nöstlinger, überraschen dann vielleicht auch ein wenig. Dass mich die Träger dieser Namen an der Hand nehmen und mir ihre Geheimnisse verraten ist ein hübscher Gedanke, ist aber nicht ganz der Fall. Ich hab halt ein gewisses Einfühlungsvermögen auch in diese Personen, keine Berührungsängste, keinen übertriebenen Respekt und manchmal eine gewisse Lust daran, ihnen etwas Alternatives anzudichten.

Sie gründeten 1969 die Literaturzeitschrift „Wespennest“. Lange Jahrzehnte eine Institution im Literaturbetrieb, weit über die Landesgrenzen hinaus. Literaturzeitschriften gibt es noch immer. Und doch ist ihre Bedeutung nicht mehr die, die sie einmal hatten. Warum protzen dafür „Schöner wohnen“, „Bleib gesund“ und „Motorwelt“?
Zweifellos hat es in den Sechziger-und Siebzigerjahren mehr davon gegeben und sie haben mehr bedeutet als heute. Das war eine Zeit, in der viele jungen Leute geradezu literatursüchtig waren – so ähnlich erinnert sich Roch in meinem Buch. Das wird er Lisa vielleicht erzählen, aber er bezweifelt, dass sie es glauben wird.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Sien Volders «Norden», Residenz

Eine junge Frau flieht vor einer grossen Entscheidung. Kann man so einfach aus einem Leben aussteigen? Welchen Preis zahlt man beim Versuch, neu anzufangen. „Norden“ erzählt von einer Sehnsucht, die viele mit sich herumtragen. Nicht zuletzt davon, in ein Auto zu steigen und einfach loszufahren, bis die Strasse endet.

Sarah ist Silberschmiedin, versteht sich als Künstlerin, unabhängig, nicht um Investitionen und Bankkonten an die Kundinnen zu hängen, sondern um die Persönlichkeit ihrer Kundinnen zu unterstreichen. Und weil sich plötzlich eine grosse Schmuckfirma für ihre Unikate interessiert und ihr den grossen Durchbruch verspricht, zieht es Sarah weg von ihrer Stadt, weg von ihrer Werkstatt, um eine Entscheidung zu treffen. Sarah will Zeit, will wissen, wohin sie sich tragen lassen soll. Sie packt ihre Sachen, den Brief von der Schmuckfirma und fährt mit ihrem olivgrünen 1969er Dodge Challenger weg von allen glatt asphaltierten Strassen an den Rand der Zivilisation. Nach Forty Mile, ganz im Norden, an der Grenze zu Alaska.

Forty Mile ist ein altes Goldgräberstädtchen, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich brachte. Ein klein gewordenes Nest, ein paar Häuser, ein Gasthaus, eine Tankstelle und ein Laden, in dem sich die Einheimischen mit dem Nötigsten eindecken können. Ein Ort am Zusammenfluss von Forteile River und dem Yukon, der im Frühling für Monate unpassierbar wird, weil riesige Eisschollen auf dem Strom den Ort zur Sackgasse machen. Sarah findet ein Zimmer bei Mary, die dort mit viel Esprit den Ladern führt und für die Menschen weit mehr ist als bloss die Frau, die den Laden führt.

Sarah ist auch in einer Sackgasse, sucht nach einer Spur, die sie aus ihrem Stillstand herausführt, denn es ist nicht nur der Brief von der Schmuckfirma, der nach einer Entscheidung ruft. 

Sien Volders «Norden», Residenz, 2020, 281 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1734-7

Sarah lernt die Menschen in Forty Mile kennen. Und die Menschen in Forty Mile sind neugierig auf die junge Frau, die auch noch nach Wochen bleibt und mehr und mehr die Herzen jener gewinnt, die an dem Ort am Rand hängengeblieben sind. Zum einen ist da Mary, in deren Zimmer im Obergeschoss des Ladens ein verhülltes Bild verrät, dass in der Vergangenheit der Ladenbesitzerin ein altes Leben endete. Oder Adam, ein junger Musiker, ein Geiger, der Sarah mehr als nur die Gegend zeigt, den Sarah mehr und mehr in ihre Nähe lässt, um festzustellen, dass neben ihr und der Musik aber noch eine dritte Kraft Adam an sich bindet; der Alkohol. Oder Walker, ein Mann, der in den Wäldern lebt, Fallen stellt und für die Menschen dort so etwas wie die Verkörperung eines Ideals ist; ein Trapper, ein Stück real gebliebener Romantik.

Sie alle haben etwas zurückgelassen. Mary, die Ladenbesitzerin, hiess einst Marion Goodwin und war vor ihrer Flucht nach Forty Mile eine gefeierte Malerin, bis sie im Kreuzfeuer von Kommerz und Kunst den Rückzug suchte und ein Leben hinter sich liess. Sarah macht sich auf die Suche nach Spuren ihrer Vermieterin, eigentlich auch auf die Suche nach sich selbst, denn sie spürt unweigerlich, dass das Schicksal dieser Marion Goodwin auch ihr eigenes werden könnte. Und als Adam einmal mehr seinen Halt verliert und im Alkohol zu ertrinken droht, als er sich auf die andere Seite des Flusses rettet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Norden“ ist ein Roman über Selbstfindung. Wo liegt die Bestimmung eines Lebens? Gibt es den unwiederbringlichen Moment, der eine Entscheidung fordert, die nicht zu korrigieren ist? Kann man einem Menschen, selbst wenn man ihn liebt, helfen das zu tun, was nach Bestimmung aussieht? 

Die junge Holländerin Sien Volders hat einen unverkrampften Roman geschrieben. Man riecht das Harz der Wälder, man hört den Rhythmus der Musik, die in der Kneipe im Ort bis in die Nacht den Takt angibt und spürt den kalten Wind, der über den Yukon zieht. Sien Volders romantisiert nicht, obwohl ich meiner eigenen Versuchung, jenes Stück Wildnis zwischen Nordkanada und Alaska nicht automatisch zu verklären, immer wieder entsagen muss. „Norden“ riecht nach Sehnsucht und dem Wissen, dass jeder mit seinen Entscheidungen letztlich allein bleibt. 

Auch wenn der Roman wahrscheinlich in zu vielen Geschichten ein Ende sucht, hat die Lektüre Freude gemacht! 

Interview

Eine junge Frau verlässt für eine Entscheidung ihre Welt in der Stadt Vancouver und fährt in die ehemalige Goldgräberstadt Forty Mile an der Grenze zu Alaska. Von der totalen Zivilisation an den Rand der Zivilisation. Die Stadt verlässt sie nicht wirklich, so wie sie nie wirklich in Forty Mile ankommt. Sind Sehnsuchtsorte nicht verdammt,  Enttäuschungsorte zu werden?

Für mich ist der Norden in diesem Buch das, was einst der Wilde Westen war: ein Ort, an dem der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist. Zunächst geht es ums Überleben, Mensch gegen Natur, um dann zu einer Symbiose überzugehen, in der Mensch und Natur leben können und aus der langsam eine neue Gesellschaft erwachsen kann. Es ist kein Zufall, dass Forty Mile am Rande der wirklichen Wildnis liegt: der am weitesten entfernte Ort, an dem man noch zusammenleben kann, und wo manche sehnsüchtig in den höheren Norden blicken, wo das wirkliche wilde Leben ist. 
Ob ein Sehnsuchtsort zur Enttäuschung wird, hängt sehr stark von der Erwartung ab, ob sie realistisch ist oder nicht: Sarah geht unerwartet dorthin, weil sie Luft und Raum will, um nachdenken zu können, und sie findet es dort. Mary ist vor langer Zeit dorthin geflohen, um eine zerstörerische Spirale zu durchbrechen und hat schliesslich ein neues Leben gefunden. Für beide Frauen ist der Ort eher ein Ort der Kontemplation als ein Ort des Heils. Für Adam ist es tatsächlich ein Ort der Enttäuschung, denn er jagt einer Illusion hinterher: dem Norden als Erlösung, als Sinn. Irgendwann wird es so sein, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hat.

Sarah bleibt zwischen zwei Männern hängen, in einer Art Schwebezustand, noch einem Ort, der Schmerz verursacht. Auch deshalb, weil sie beiden Männern nicht helfen kann. Sarah drängt Hilfe nicht auf und trotzdem finden beide Männer aus Krisen hinaus. Auch Mary, die einst eine gefeierte Malerin war, hat sich in der Abgeschiedenheit von Forty Mile zurückgezogen. Ist Schreiben ein Versuch auch eine Form des „Rückzugs“, Ordnung zu finden?

Wie gesagt, der Norden ist ein Ort, an dem man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Es ist eine Übertreibung der Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten. Das Heil liegt nicht im anderen, sollte nie im anderen liegen müssen. 
Überspitzt gesagt, kann man nur dann wirklich für den anderen da sein, wenn man frei und selbstbewusst, nach Selbstbeobachtung und eventuellem Rückzug, für sich festgestellt hat, was das eigene feste Fundament ist.
Schreiben ist für mich eine sehr analytische Tätigkeit, bei der ich neben dem Erschaffen einer Geschichte immer wieder hinterfragen muss, wie sich Menschen zu sich selbst und zueinander verhalten. 

Sarah kommt an einen Ort, an den sich eine ehemalige Künstlerin zurückgezogen hat. Nachdem sie im Kreuzfeuer von Kritik, Anfeindungen und Unverständnis, nach einem kometenhaften Aufstieg und dem Versuch sie zu instrumentalisieren, wegtauchte, ist sie in Forty Miles so etwas wie die Mutter aller. Auch Sarah droht im Konflikt zwischen Kommerz und Kunst zu zerbrechen. Gibt es eine Grenze zwischen Kunst und Kommerz?

Sarah merkt, wie die berufliche Seite ihres Lebens (ihr Talent und ihre Kunst) sie dazu zu bringen scheint, einen Weg einzuschlagen, den sie nicht unbedingt für sich selbst gewählt hat, und das in einem Tempo, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. 
Das hat sie mit Mary, der ehemaligen Künstlerin, gemeinsam. Beide Frauen gehen nach Norden, um darüber nachzudenken. Es gibt eine klare Grenze zwischen Kunst und Kommerz, aber das muss kein Problem sein. In Sarahs Silberschmiedekunst können Kunst und Kommerz problemlos koexistieren, vorausgesetzt, Sarah selbst ist damit im Reinen. Jede Figur im Buch sucht auf ihre eigene Art und Weise nach Freiheit. Ohne das zu sehr vorschreiben zu wollen, scheint es mir, dass es ein guter Weg ist, Frieden in den Entscheidungen, die man im Leben trifft, zu haben.

Noch eine Person, die zu zerbrechen droht, ist Adam, der Musiker, der Geiger, der das Geheimnis einer ganz besonderen Musikrichtung lüften und zu eigen machen will. Bei ihm ist es der Alkohol. Ist Alkohol an den Grenzen der Zivilisation ein ganz besonderes Trostmittel?

Schaut man sich das Leben rund um den Polarkreis an, sei es in Kanada, Skandinavien oder Russland, ist die besondere Beziehung zum Alkohol durchaus spürbar. 
So nah am Norden, sind die Sommer kurz, heiss und wild, die Winter lang, dunkel und kalt. Alkohol hilft, das Leben zu feiern, wenn die Dinge gut laufen, und die scharfen Kanten zu mildern, wenn es nötig ist. Obwohl der Umgang damit sehr unterschiedlich sein kann (in Skandinavien ist er eher streng), scheint das Verlangen nach dem Rausch ein wenig grösser zu sein als anderswo.
Die Art und Weise, wie Adam sich darin zu verlieren droht, während er einer Illusion hinterherjagt, ist in diesen Gefilden sicherlich sehr gut zu erkennen.

Was faszinierte sie an diesem Ort? An Forty Mile?

Forty Mile ist inspiriert von Dawson City, einer Stadt im hohen Norden Kanadas, in der ich einmal zufällig gelandet bin, weil ein lieber kanadischer Freund von mir plötzlich dorthin zog. Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Fan von Jack Londons Büchern, und als ich dort war, wurde mir klar, dass es dieser Ort ist, dass dies der aktuelle Wilde Westen ist. Ich selbst gehöre eher zu der Sorte von Sarah, die es als Ort der Kontemplation sieht. Ich sehne mich danach, und ich bin so begierig, dorthin zu kommen, weil ich weiss, dass ich immer wieder gehen werde.

Welche Lektüre bewegte Sie in den vergangenen Monaten?

Ich bin eine ausdauernde Wiederleserin und das Buch, das ich in diesen Tagen am häufigsten lese, ist «Sula» von Toni Morisson. Eine sehr kluge, schön geschriebene Novelle, in der die beschriebenen Frauen als Kriegerinnen, als Freundinnen, als Mütter und Töchter, aber vor allem als Geschichtenerzählerinnen vorgestellt werden.
Im Moment geniesse ich Marek Sindelkas Debüt «Chyba» (Klimakummer, auf Niederländisch) sehr.

Sien Volders, geboren 1983, lebt und arbeitet in Gent. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Anthropologie arbeitete Sien Volders als Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin. 2017 erschien ihr hochgelobter Debütroman „Noord“, der 2020 unter dem Titel „Norden“ aus dem Niederländischen übersetzt im Residenz Verlag erscheint.

Bettina Bach, aufgewachsen in Deutschland und Frankreich, lebt in Jena. Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Amsterdam. Bettina Bach übersetzt aus dem Niederländischen und Französischen, u.a. Jan Siebelink und Tommy Wieringa. Für die Übersetzung von Arjan Vissers «Der blaue Vogel kehrt zurück» wurde sie 2014 mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet.