„es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür“ – Nadja Küchenmeister, Trägerin des Basler Lyrikpreises 2022, ist Gast im Literaturhaus Thurgau

Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich.

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren. 

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.

Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

von Ariane von Graffenried

Nadja Küchenmeister, geboren 1981 in Berlin, lebt dort. Sie studierte Germanisitik und Soziologie an der Technischen Universität in Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Diverse Lehrtätigkeiten, u.a. am Deutschen Literaturinstitut sowie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Für den Rundfunk schreibt sie Hörspiele, Features und Rezensionen. Ihre Gedichtbände wurden vielfach ausgezeichnet.

Ein Abend mit Lisa Elsässer im Literaturhaus Thurgau am 4. Mai!

2023 erhielt die Urner Schriftstellerin Lisa Elsässer das «Urner Werkjahr». Die Auszeichnung ist mit 20’000 Franken dotiert und damit die höchste Auszeichnung, welche die Kunst- und Kulturstiftung des Kantons Uri vergeben kann. Grund genug, die vielseitige Schriftstellerin und Dichterin von der Innerschweiz an den Seerhein nach Gottlieben einzuladen.

«Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Kleist hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet!» Lisa Elsässer

Nach einer Ausbildung zur Pflegefachfrau wurde Lisa Elsässer auf dem zweiten Bildungsweg Buchhändlerin und Bibliothekarin. Inmitten von Büchern entdeckte sie die Begeisterung für das eigene Schreiben und studierte schliesslich von 2005 bis 2008 am Literaturinstitut in Leipzig. Zu Beginn ihres literarischen Schaffens publizierte Elsässer vor allem Lyrik. 2011 erschien ihr erstes Prosawerk «Die Finten der Liebe». Für ihr Schaffen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, 2018 etwa den Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung. Lisa Elsässer lebt und arbeitet heute in Walenstadt im Kanton St. Gallen. Zuletzt erschien bei Wolfbach der Gedichtband «Schnee Relief» (2019) und der Roman «Im Tal» bei der Edition Bücherlese (2022).

«Ein Knäuel aus etwas Hartem» Bettina Scheiflinger liest im Literaturhaus Thurgau aus ihrem Debüt «Erbgut»

«Am Bahnhof abgeholt und wiedererkannt werden, später herausfinden, dass man weit entfernt vom Bodensee den gleichen Fleck Erde so gut kennt, mich von Cornelia und Gallus in der Lektüre meines Buches so gut verstanden fühlen, ein zugewandtes und einfühlsames Publikum: wie manchmal einfach alles zusammen kommt und passt, so war das letzten Samstag im Bodmanhaus. Danke, dass ich bei euch lesen durfte!» Bettina Scheiflinger

Im Roman «Erbgut» verschmelzen die Lebensspuren von vier Generationen zwischen den Jahren des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Szenen aus verschiedenen Biografien breiten sich wie Mosaiksteinchen nebeneinander aus, bis allmählich sichtbar wird, wie über Generationen Verhaltensweisen, Lebensentwürfe und Traumata weitergegeben werden.

Rund um die Ich-Erzählerin wird ein Netz aus Beziehungen offenbar: vom gewalttätigen Grossvater väterlicherseits, der NSDAP-Mitglied und später Kriegsgefangener war, der Grossmutter mütterlicherseits, die als Tochter von italienischen Gastarbeitern in der Schweiz aufwuchs, bis zu den Eltern, die sich in Bezug auf ihre Vergangenheit in Schweigen hüllen. Als sie erwachsen wird, steht die junge Frau vor der Wahl, welchen Weg sie selbst gehen möchte. Der Roman setzt sich mit grossen Lebensfragen auseinander: Wie wurde ich zu der, die ich bin? Wie viele Erlebnisse, Erinnerungen und Traumata meiner Familie trage ich in mir und was macht das mit mir?

Im vom Verlag produzierten Trailer zum Buch, bei dem Teig und Erde von zwei Händen verarbeitet wird, werden die Szenen von Schlagwörtern überblendet: Fremde, Familie, Ich, Geburt, Körper. Bettina Scheiflingers kunstvoll konstruierter Roman taucht in ganz viele Themen. Das prägendste gibt dem Buch auch den Titel: «Erbgut». Nicht nur die Traumatisierung des Grossvaters durch Krieg und Gefangenschaft wird weitergegeben an den Vater der Ich-Erzählerin. Traumata oder andere prägende Erlebnisse prägen und beeinflussen nur schon durch die Erziehung spätere Generationen. Die Frage ist nur: Ist es möglich, sich von diesem „Erbe“ zu befreien?

Ein anderes Thema offenbart sich in der Geschichte der Eltern der Erzählerin. Arno, Sohn jenes gewalttätigen Grossvaters, heiratet eine Italienerin und wird mit Tausenden anderer «Saisonier», oder wie man in der Schweiz scheinheilig freundlich formulierte, «Gastarbeiter». 1970 sprach sich die Schweiz nur ganz knapp in einer abgelehnten Initiative (Schwarzenbach-Initiative) dagegen aus, dass der Anteil «Überfremdung» die 10%-Marke nicht überschreiten darf. Eine politische Diskussion, die nicht nur den Abstimmungskampf ausserordentlich hitzig machte, sondern auch die Ängste all jener schürte, die ihr Auskommen in der Schweiz fanden, fern ab von ihrer Heimat. Ängste, die für die illegal nachgeholten und sehr oft versteckten Kinder katastrophale Folgen hatte.

Noch ein Thema in «Erbgut» ist das Körperliche selbst, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein, dem eigenen Körper, mit Schwangerschaft und Geburt. «Erbgut» ist ein erstaunlich körperlicher Roman, ein mutiges Stück Literatur!

Rezension «Erbgut» auf literaturblatt.ch

«Sicher ist nur, dass nicht wir bestimmen, wer wir sind.» Anna Kim im Literaturhaus Thurgau mit «Geschichte eines Kindes»

Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und später nach Österreich gekommen, veröffentlicht seit 2004, bald 20 Jahre, vor allem Romane und Essays. Ein erstes Mal hörte und sah ich Anna Kim in Leukerbad am Internationalen Literaturfestival 2017 mit ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“, ein Roman über die Geschichte Nord- und Südkoreas nach dem zweiten Weltkrieg, von einer jungen Frau auf den Spuren ihrer Wurzeln.

Anna Kim trennt ihr biographisches nicht von ihrem politischen Schreiben, das Individuelle und das Politische wäre stets eine Einheit gewesen, weil ihr Aussehen scheinbar nicht das repräsentiert, was ihrer Biographie entspricht, weil man Menschen allzu schnell nach ihrem Äusseren taxiert. 

Logische Konsequenz daraus ist ihr Roman „Geschichte einer Kindheit“, mit dem Anna Kim von Wien nach Gottlieben angereist war.

Wie alle ihre Bücher ein erstaunliches Werk schon deshalb, weil sich Anna Kim nie auf das Kleinräumige, Nationale, Regionale reduzieren lässt, weil ihre Geschichten, die Schauplätze ihrer Romane stets einen global übersetzbaren Hintergrund besitzen, der sich genauso global verortet in den Romanen niederschlägt; ob in Grönland, Kosovo, Korea oder den Nordamerika; ihre Romane sind Suchen nach den Gründen, warum Menschen nicht zur Ruhe kommen, warum Menschen sich und andere stets in Schubladen pressen, grosse Schubladen oben mit viel Raum, enge unten, in die man alles stopft, was man oben nicht haben will. Sozio-politische Themen, die die Autorin, so verriet sie in einem Interview, auch dann nicht loslassen, wenn die Romane zu ende geschrieben sind und ihr Fokus auf Neues ausgerichtet wird.

„Geschichte einer Kindheit“ führt uns in eine us-amerikanische Kleinstadt im im Jahr 1953. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Als Vater ist keiner da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte das Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich einer beinah feindlichen Gesinnung stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichischstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler, durchdrungen sind von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman hat mehrere Stimmen. Zum einen jene der jungen Frau, die einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht, die eine Fährte aufnimmt und in Rückblenden zu reflektieren beginnt und von ihrem eigenen Leben erzählt, zum andern die unterkühlten Aktenpassagen, denen tatsächliche Akten zu Grunde liegen, die einen Schriftverkehr dokumentieren, der in schmerzhaft übergriffiger Weise zeigt, wie wenig es bei einer scheinbar objektiven Beurteilung um den jeweiligen Menschen selbst geht. Schon der Titel des Romans „Geschichte eines Kindes“ impliziert, dass Anna Kims Roman exemplarisch sein will.

Warum steht der Mensch so sehr unter dem Zwang, einzuordnen, alles in eine von Werten geprägte Hierarchie zu bringen? Ist das unsere Unfähigkeit, die natürliche Gleichheit von allen zu ertragen? Weil wir Menschen uns als Spitze der Evolution sehen?

In den Akten werden ungeheuerliche Behauptungen aufgestellt, die wie in Beton gegossene Wahrheiten präsentiert werden. Zum Beispiel: Im Durchschnitt ist die Intelligenz der Negerkinder um zwei Prozentpunkte niedriger als die der weissen Kinder.“ Aussagen, die heute zu tiefst schockieren, gleich mehrfach, in ihrer Zeit aber hingenommen wurden. Heute passiert solches Erwachen fast täglich, wenn gefragt wird, ob gewisse Bücher heute noch lesbar sind bis hin in die bildende Kunst, wo Männer wie Picasso auf ihren Sockeln wackeln.

„Geschichte eines Kindes“ ist aber auch der Roman einer jungen Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer weigert, ihre Mutterschaft anzutreten. Ein scheinbares Unding, ganz im Gegensatz zu all den Vätern, die nicht bereit sind, ihre Vaterschaft anzutreten.

Anna Kims Roman beschreibt die menschliche Unfähigkeit, das Gegenüber nicht an Äusserlichkeiten zu messen: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Eine Schlüsselfrage, die bis in die Weltpolitik hineingeht.

Kurzgeschichte «Die Zähne» von Anna Kim auf der Plattform Gegenzauber

Rezension «Geschichte eines Kindes» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau

am 22. April Gast im Literaturhaus Thurgau

Was und wie Bettina Scheiflinger schreibt und erzählt, beeindruckt sehr. Ihr Debüt „Erbgut“ überzeugt durch aussergewöhnliche Reife, durch Mut und hätte es in den vergangenen Monaten verdient, einiges an Beachtung mehr zu bekommen. Mit der Einladung der Autorin ins Literaturhaus Thurgau verneigt sich der Schreibende vor der Autorin.

Ernstzunehmende Untersuchungen erklären, dass jedes Leben genetisch vorbelastet ist durch die Generationen davor. Auch wenn man solchen Aussagen gegenüber kritisch bleibt, wird es einleuchtend, wenn man zugestehen muss, dass traumatisierte Menschen, die eine Familie gründen, ihre Erlebnisse bei der Erziehung nicht einfach ausblenden können. Es ist nicht möglich, in einem neuen Leben einfach bei Null zu beginnen. All das, was sich in die Jahrringe eines Menschenlebens einfrisst, was sich als dunkle Schatten in den Seelen ablagert, was im Untergrund modert, wirkt im Tun – oder auch im Unterlassen. Dass sich Bettina Scheiflinger schon mit dem Titel ihres Erstlings unzweifelhaft in dieses Thema hineinzuwagen versucht und dabei alles andere als scheitert, ist beeindruckend. Schon der Titel selbst – „Erbgut“ – offenbart die Vielschichtigkeit des Wortes selbst. Was sich als Erbe von Generation zu Generation weitergibt, ist nicht immer ein Gut, aus dem die nächste Generation schöpfen kann. Beispiele aus der Geschichte gibt es viele. Was heute in Israel passiert, ist in vielem mit Sicherheit mit dem kollektiven Traumata mehrerer Generationen zu erklären, die in der Folge von Judenverfolgung und -vernichtung millionenfach Leben zerstörte.

Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-218-01329-1

Bettina Scheiflingers Roman erzählt aber keine grossen geschichtlichen Zusammenhänge, auch wenn die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Roman spielen. Die Erzählstimme ist eine junge Frau, zwischen einer schweizerischen Kleinstadt, Wien und einem Dorf, einem Haus in Kärnten. Die junge Frau löst sich gegen den Willen der Eltern aus der fürsorglichen Umklammerung ihrer Familie und zieht nach Wien. Sie ist allein, hat Arbeit, bleibt länger, hadert mit sich und ihrer Vergangenheit. Sie weiss, dass in der Familie Sperrzonen eingerichtet wurden, dass es Dinge gibt, die ausgeschwiegen werden, sei es in der Geschichte ihrer Mutter oder in der ihres Vaters. Selbst die gemeinsame Geschichte ihrer Eltern ist nicht jene, die an der Fassade präsentiert wird. Die junge Frau stolpert, schwankt und taumelt, selbst als sie schwanger wird und in einer Klinik ein Kind zur Welt bringt.

Ein weiteres Qualitätszeichen des Romans ist, dass sich Bettina Scheiflinger keines billigen Erzähltricks bedient. Da sind keine Briefe im Dachboden, kein Geständnis einer Grossmutter, kein Tagebuch. Bettina Scheiflinger erzählt in einzelnen Bildern, die sich erst während der Lektüre zu einem ungefähren Ganzen zusammenfügen. Aber schon diese einzelnen Bilder haben es in sich. Sie sind von einer derartigen Intensität, dass sie wie Selbsterlebtes in der Erinnerung bleiben. Da sitzt Arno, der Vater der Erzählerin, als Halbwüchsiger auf einem Baum und weigert sich selbst in der Nacht herunterzukommen. Sein Vater hat ihn wegen einer Nichtigkeit windelweich geschlagen. Die Mutter droht, die Schwester fleht. Aber Arno bleibt. Am nächsten Tag ringt er seiner Mutter das Versprechen ab, dass es nie wieder soweit kommen darf. Ein anderes Beispiel: Johanna, die Grossmutter der Erzählerin, die auf einem Hof mit Wirtshaus in Kärnten lebt, muss während des Krieges miterleben, wie Partisanen ihre Eltern aus dem Haus zerren und verschleppen. Franz, ihr Vater, ist Nationalsozialist. (Vielleicht ist mir diese Binnengeschichte auch deshalb so in die Kniekehlen gefahren, weil sich das immer Gleiche in der Geschichte wiederholt.)

Bettina Scheiflinger wollte kein chronologisch, stringentes Erzählen. So wie Ablagerungen, sich das Erbgut toxisch auffüllt, so erzählt Bettina Scheiflinger. Sie erzählt vom grossen Schweigen in der Familie, all den Auslassungen, die alles andere als klären. Von den Ängsten, nicht zu genügen, den Traumatas einer Kindheit, wenn Gewalt und Einsamkeit, das Gefühl von Verlassenheit, die Angst vor Verlust das eigene Tun dominieren. Wenn man sich nicht befreien kann. Wenn man im Niemandsland hängen bleibt.

Ich bin mir sicher; Da beginnt Vielversprechendes!

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 

Webseite der Autorin

«Verpuppt» – je eine Lesung von Ana Marwan im Literaturhaus Thurgau und am «Wortlaut» St. Gallen

Ana Marwans Sprache beeindruckt. An zwei Lesungen in der Schweiz, im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben und am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen, bezauberte die slowenische Schriftstellerin mit Bild- und Sprachkraft, die noch lange nachhallen wird!

“Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke, Gallus, für die Einladung, Moderation, und besonders für deine vertieften Leseweisen und bereichernden Gespräche!“ Ana Marwan

„Verpuppt“ („Zabubljena“) wurde in Slowenien 2021 als „Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichnet. 2022 gewann Ana Marwan den Bachmannpreis mit ihrem Text „Wechselkröte“. Ana Marwan hat Romanistik studiert, hat sich mit Fotographie auseinandergesetzt und widmet sich seit bald 10 Jahren nun ganz dem Schreiben. 2019 kam ihr Roman „Der Kreis des Weberknechts“ auf die Bühne der deutschen Literatur, ein Roman, dessen Dichte und Kunst schon damals überraschte und überzeugte. Im vergangenen Jahr trat Ana Marwan im Otto-Müller-Verlag die nicht ganz einfache Nachfolge von Karl-Markus Gauß an, als Herausgeberin der Zeitschrift „Literatur und Kritik“.


Die junge Rita landet in der geschlossenen, psychiatrischen Klinik, ohne Möglichkeiten mit der Aussenwelt, ausser durch gelegentliche Besuche, in Kontakt zu kommen. Sie war schon als Mädchen anders, viel mehr nach innen orientiert, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Warum Rita in die Psychiatrische eingeliefert wurde, kann zumindest ich bloss erahnen. Aber eine nicht unwesentliche Rolle dabei hat wohl ihre Mutter gespielt – Frau Klammer. Im Laufe einer Therapie ermuntert man Rita zu schreiben. Und Rita schreibt, beschreibt ihre Innenwelt. Eine Innenwelt, die kein Abbild der Realität ist, sie aber sehr wohl spiegelt. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klink, aber von einem Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt, in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einen Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet.


Ana Marwans Roman liest sich, als wäre es der aufgewickelte Seidenfaden jener Puppe, die die Protagonistin Rita umwickelt, der sie einengt und einschnürt, der sie aber auch schützt vor der Welt „draussen“. „Verpuppt“ ein Versuch, die Welt ausserhalb dieser Puppe zu verstehen. „Jede Geschichte ist Gewalt über das Leben.“ Rita fürchtet sich, ihre Sprache zu verlieren. Eine Angst, die angesichts dessen, was aktuell in der Welt passiert, nachvollziehbar ist. Ritas Therapeuten legen ihr ans Herz, Herr Jež sei der Schlüssel. Rita schreibt sich immer mehr in die Nähe dieses Herrn Jež, seinem Leben, seiner verlorenen Ehe, seiner Einsamkeit. Rita erzählt von der Welt, die sie sich macht, einer Welt im Kopf.

Ana Marwans Roman ist nicht plottorientiert, entzieht sich in vielem den gängigen Mustern der Unterhaltung. Bei der Lektüre ihres Buches hatte ich das Gefühl, als ob die Synapsen meines begrenzen Verstands dauernd gezwungen sind, neue Verbindungen, Kopplungen einzugehen. Sie schreibt, um Bilder zu erzeugen (Fotografie, die sich dem reinen Abbilden entziehen), um Geschichten zu erzählen, aber nie, um zu erklären, zu klären, schon gar nicht, warum Rita dort ist, wo sie ist, in der Psychiatrie. Ana Marwan möchte „schön verbergen“.

Lesung am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen

Ihr Roman ist voller Sätze, die man wie Sprachperlen mitnehmen und nicht mehr hergeben möchte. Ein Beispiel: «Das schöne an verpassten Gelegenheiten ist, dass uns nichts hindert, sie Gelegenheiten zu nennen.“ Immer wieder Sätze, über die man mit Vergnügen stolpert. „Jeder Künstler ist lieber begabt als fleissig, eher ein König denn ein Arbeiter.“ Noch so ein Satz. Oder „Gott sei dank schützt uns die Etikette vor allem, zu was uns der Wusch zwingen möchte, sie schützt uns wie eine starre Ritterrüstung.“ Oder „In der Handtasche hatte sie einen Taschenspiegel, um sich von Zeit zu Zeit zu vergewissern, wer sie war.“

Rezension zu «Verpuppt» auf literaturblatt.ch

Ana Marwan «Die Wechselkröte» Siegertext Bachmannpreislesen 2022 auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Philipp Frei

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!

Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.

Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9

1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.

Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.

 
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

„Wir verstehen nicht, was geschieht» – eine Reise in einen sowjetischen Gulag

Seit in Europa mit Bomben beladene Drohnen Wohnhäuser zerreissen, Panzer Radfahrer beschiessen und ein unüberwindbarer Graben zwischen Europa und Russland gähnt, ist das Interesse vieler, verstehen zu wollen, gross. Vielleicht auch ein Grund, warum das Interesse am Schriftsteller und Historiker Viktor Funk so gross war.

«Wir haben uns lange auf den Besuch in Gottlieben gefreut, und ihr habt uns mit eurer Gastfreundschaft gezeigt, dass unsere Vorfreude gerechtfertigt war. Danke für Deine sehr empathische und herzliche Moderation, Gallus, danke an Sandra für die Bilder und auch an das Publikum für alle die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Und danke auch, dass wir dank euch Gottlieben kennengelernt haben.» Viktor Funk

Wir leben in beängstigen Zeiten. Hätten wir uns vor 13 Monaten vorstellen können, was in Europa geschieht? Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik zur Welt und zusammen mit seiner Familie als Zwölfjähriger nach Deutschland. Wenn man auf seiner Webseite liest, muss das für jenen Viktor damals mehr als nur eine schwierige Zeit gewesen sein. Trotzdem gelang es ihm, Geschichte zu studieren und mit einer Magisterarbeit über den Vergleich von mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden abzuschliessen.

2017 debütierte Viktor Funk in der Literatur mit seinem Roman „Bienenstich“, eben genau mit jenen Krisen junger MigrantInnen, die sich überall abspielen, seit dem von Russland angezettelten Krieg millionenfach, bis vor unsere Haustüren. 
Seit 2006 ist Viktor Funk Redakteur bei der Frankfurter Rundschau im Ressort Politik, schreibt aber nicht nur dort, sondern engagiert, intensiv und emphatisch Romane, die aktueller nicht sein könnten.
Als ich seinen aktuellen Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ vor ein paar Monaten zu lesen begann, wusste ich schon während der ersten Seiten, dass ich darüber schreiben musste und am Ende der Lektüre, dass ich es versuchen musste, den Schriftsteller in die Schweiz, nach Gottlieben einzuladen. Dass Viktor Funk die Einladung annahm, freute mich ungemein.

In den Konzentrationslagern der Sowjetzeit starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Es ist nicht anzunehmen, dass im Nachfolgestaat Russland die Gulags zu Geschichte wurden. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist aber nicht einfach ein Versuch des Wachrüttelns und schon gar kein Vorwurf an ein träges Westeuropa, das sich neben all dem gegenwärtigen Schrecken nicht auch noch mit jenem in der Vergangenheit beschäftigen möchte.

Viktor Funk hat sich ganz intensiv mit mündlichen und schriftlichen Erinnerungen von Gulag-Überlebenden beschäftigt und stiess dabei auf die Geschichte des Physikers Lew Mischenko und seine Frau Svetlana.
Lev und Svetlana sind keine Fiktion. Genauso wie Petschora, der Gulag, in den man Lev nach seiner Zeit im KZ Buchenwald schickte. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Versuch des Autors selbst zu verstehen; Wie kann man die Jahre in einem Gulag überstehen? Und wie schaffte es ein Mann wie Lev nicht daran zu zerbrechen?

Zentrales Element im Buch und im Überlebenskampf sind die Briefe zwischen Lev und Svetlana. Es gibt viele Gründe, warum Lev die Zeit im Gulag überlebte; sein Glück ein Techniker, ein Physiker zu sein, seine Freundschaften – aber mit Sicherheit diese Liebe zu seiner Frau.

Der Roman ist die Geschichte einer Reise; einer Reise mit dem Zug nach Petschora Richtung Sibirien, eine Reise in die Vergangenheit und eine Reise in die Tiefen eines Lebens. Viktor Funk hat Lev dort zurückgelassen, mit diesem Buch aber eigentlich wieder mitgenommen. 

Vielen Dank für den wichtigen Abend!

Rezension zu «Wir verstehen nicht, was passiert» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Das Licht kommt zurück. Eine Ausstellung mit Lyrik von Bert Strebe D und Keramik von Ursula Bollack CH

«Was für ein grosses Glück, dass ich diesen Abend im Bodmanhaus erleben durfte, mit den Werken von Ursula Bollack um mich herum, mit kundiger und so wunderbar empathischer Moderation – und mit einem fantastischen, aufmerksamen, warmherzigen Publikum. Eine meiner schönsten Lesungen. Danke.» Bert Strebe

Septembermorgen

              für Ursula & Wolfgang

die nachtkerzen weisen den weg als wir kommen
zwei uhr früh die tür ist offen

die steine ums haus herum barfußwarm
von all den sommern von den kindern vom moos

im badezimmer kauert der buchsbaumzünsler
er mag nicht mehr reden um diese zeit
die flügelspitzen sind schon in rost getaucht

der mond pustet etwas katzengold 
auf first und garten und unsere wimpern 

später zieht er an einer dünnen schnur 
den ersten schimmer des tages herauf
und legt ihn unter die sonnenblumen 
und über unsere träume

das licht kommt zurück die amseln werden blau
und die schwingen der engel und die herzen

Bert Strebe, geboren in Hunteburg, einem winzigen niedersächsischen Dorf, schon lange wohnhaft in Hannover, ist Zeitungsmann mit Leib und Seele. Seit einem Vierteljahrhundert gehört ein Teil seiner Seele aber auch der Literatur. Vor längerer Zeit kam mir eine Kuvert mit Kopien seiner Gedichte in die Hand. Schon damals war ich beeindruckt von der Zartheit dieser Texte. Neben verschiedenen Gedichtpublikationen schrieb Bert Strebe auch einen Roman, ein Theaterstück und ein Hörspiel. Dass Bert Strebe  nach einer langen Reise vom Norden Deutschlands auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau sass, freute mich sehr.


Nicht unbeteiligt am Umstand, dass Bert Strebe den Weg vom Norden Deutschlands nach Gottlieben unter die Räder nahm und dass es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit zwischen zwei Kunstrichtungen kam, die sonst nur wenig Berührungspunkte zu haben scheinen, war vor Jahren die Keramikerin Ursula Bollack-Wüthrich selbst. Neben ihrer Lehrtätigkeit geht sie schon lange ganz eigene Wege in der Keramik und zeigte sich schon an zahlreichen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik.

«Der Samstagabend war schlicht und einfach wunderbar; ein sehr waches, aufmerksames Publikum, Bert Strebes Worte, die von Verletzungen und Schönheiten erzählten und danach berührende Gespräche zwischen Keramik und einem Glas Wein. Danke für die Fragen, mit denen du uns herausgelockt hast und besonders dafür, dass du dich auf dieses Wagnis eingelassen hast.» Ursula Bollack-Wüthrich

Ursula Bollack-Wüthrich produziert keine Alltags- oder Gebrauchskeramik. Ihre Werke haben Stimmen, flüstern, laden ein zu einem tieferen Blick. Dabei quillt die Sprache förmlich aus den Objekten heraus. Gedichte und Objekte sind voller Sinnlichkeit, sind materialisierte Innenansichten.


Ursula Bollack und Bert Strebe tauchten mit den BesucherInnen in sieben Blöcken in ihr Schaffen, zeigten, dass sich so verschiedene Kunstformen, in ihrer Art, sich mit Wahrnehmung und Welt auseinanderzusetzen, mehr als nur berühren können. Der Abend mit Ursula Bollack-Wüthrich und Bert Strebe war eingetaucht in Freundschaft und gab Einblick in die Tiefen zweier Kunstschaffenden, die sich abseits vom Gefälligen mit Leib und Seele in ihre Ausdrucksformen hineingeben.

Ursula Bollack-Wüthrich ist am Samstag 18. März von 15 – 18 Uhr und am Freitag 24. März von 18 – 20 Uhr im Literaturhaus Thurgau in ihrer Ausstellung anwesend.

Fotos © Gallus Frei