«Spätestens wenn man sie nicht mehr hat, merkt man, wie wichtig sie ist.» Das gilt auch für Kultur – oder erst recht. Und es braucht schon eine ordentliche Portion Mut und Aufwand, in diesen Zeiten eine Kulturveranstaltung zu organisieren, die einen ganzen Ort mitnehmen soll. Die kleine Stadt Amriswil im Herzen des Thurgaus trotzte allen Ängsten und lud ein zur 2. Amriwiler Kulturnacht.
«Es war eine Meister- und Monsterleistung wie die verschiedenen Plattformen sich engagiert und organisiert haben. Es war eine Stimmung der Superlativen, alle haben sich gegenseitig geholfen, waren dankbar für die Durchführung, bereicherten sich an der kulturellen Vielfalt, waren berührt und begeistert von Begegnungen. Und auch das wunderbare Herbstwetter hat zum Geniessen eingeladen. Endlich wieder Leben mit Kultur!», schrieb die OK-Präsidentin und Stadträtin Madeleine Rickenbach in einer Mail an all jene, die sich in die Liste der VeranstalterInnen eingeschrieben haben.
Als ich zusammen mit der Schriftstellerin Sandra Hughes über den Marktplatz auf das Pentorama zuging, musste die Schriftstellerin erst einmal stehen bleiben und ihr Handy zücken, um ein Foto von dem Veranstaltungsort zu schiessen. «Das glaubt mir kein Mensch!» Wenige Wochen vor der Durchführung der Kulturnacht hatte man uns am ursprünglichen Ort «ausgeladen», weil eine coronakonforme Durchführung einer Lesung nicht gewährleistet werden konnte. So verschob man kurzerhand ins Pentorama, in eine Halle, die voll mehrere tausend BesucherInnen fassen kann. Eine Krimilesung in einer Halle? Würde das gut gehen?
Es ging gut. Auch wenn sich der Ansturm auf die Lesung in Grenzen hielt, war doch die Konkurrenz von Dutzenden anderer Veranstaltungen im Ort gross, vielfältig und potent. Sandra Hughes nahm die Lauschenden mit nach Meride in die Pastamanufktur der Familie Savelli ,einer alteingesessenen Pastadynastie im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Die junge Kindergärtnerin Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und fürs Dorf, das sich in Schockstarre befindet.
Sandra Hughes neues Ermittlerduo, die eigenwillige Emma Tschopp aus der Region Basel und der Tessiner Commissario Bianchi, wird auch in weiteren Krimis gemeinsam ermitteln. Die Fährte ist gelegt! Eine gelungene Lesung vor aufmerksamem Publikum. Ein angeregtes Gespräch über menschliche Abgründe und das Glück des Schreibens. Vielen Dank an Sandra Hughes und die Gäste im Pentorama!
Laura Vogt las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem bei Zytglogge erschienenen Roman «Was uns betrifft». Eine Reise in die Seele einer zerrissenen Frau, einer Frau, die aufbricht. Eine Lesung, die beeindruckte, weil es Laura Vogt schafft, Themen zu Literatur werden zu lassen, die sonst gerne aussen vor bleiben.
„Was uns betrifft“ betrifft mich, betrifft jeden, der Laura Vogts Roman liest. Vielleicht, weil das Buch von den Urängsten einer jungen Frau erzählt, einer werdenden und gewordenen Mutter. Vielleicht weil der Roman nichts beschönigt und Fragen stellt. Vielleicht weil Ihr Roman derart ehrlich ist, nicht verklärt und idealisiert. Vielleicht aber auch, weil Laura Vogt einen Roman geschrieben hat, den sie nie hätte schreiben können, wäre sie nicht selbst Mutter geworden.
Schon die erste Szene im ersten Teil ihres Romans fährt einem in den Unterleib. Rahel, die junge Protagonistin sitzt in einer Lesung und mir wird geschildert, wie sich in ihrem Unterleib ein männliches Spermium mit der Eizelle Rahels vereint. Als hätte man dem Erzählmotor schon zu Beginn eine Einspritzung verpasst. Ein Einstieg, der einem als Bild unauslöschlich hängen bleibt.
Es sind drei Frauen im Roman der jungen Ostschweizerin; Verena, die an Krebs erkrankte Mutter, Rahel die Protagonistin und Fenna ihre Schwester. In keinem der drei Frauenleben scheinen Männer eine wirklich gute Rolle zu spielen. Martin, Rahels Freund setzt sich ab. Verena trennt sich von Erik, Rahels Vater, schon früh. Und Fenna kämpft sich an Luc ab. Als ob unter allem die Einsicht stünde, dass Beziehungen zwischen Menschen permanentes Wagnis sind und bleiben. Vielleicht sogar die Mahnung, endlich von den festgefahrenen Vorstellungen von „Familie“ Abstand zu nehmen.
Laura Vogt schreibt sich extrem nahe an ihre Protagonistin, bildlich und emotional. „Was uns berifft“ ist ein Buch von selten weiblicher Dominanz. Ein Buch, dass so nie von einem Mann hätte geschrieben werden können und deshalb für den Mann zu einem wahren Leseabenteuer werden kann.
Jens Steiner ist noch wenige Tage Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau. Die Stiftung stellte ihm während zweier Monate die kleine Wohnung im Literaturhaus Thurgau zur kreativen Verfügung. So war die Kulturstiftung auch Trägerin der Lesung, die vom Literaturhaus Thurgau mit dem neuen Format «Literatur am Tisch» kombiniert wurde.
Bei anderer Gelegenheit schrieb Bettina Spoerri, Schriftstellerin, über das neue Format: „Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele AutorInnen genau für sie: für Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen … Dabei war es spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren.“
Vor der Lesung unterm Dach trafen sich so ein Dutzend Interessierte bei Wein, Käse und Brot, solche, die das Buch gelesen hatten und sich gerne mit dem Schriftsteller in eine Diskussion verwickeln liessen. Kein Schriftsteller schreibt nur für sich. Aber vielleicht lesen wirklich Literaturinteressierte auch nicht bloss für sich. Literatur ist mehr als Unterhaltung, sondern Auseinandersetzung. Und die geschieht nur, wenn man über das Gelesene spricht. Jens Steiner lies sich darauf ein und für das muntere Dutzend in der «Stube» des Literaturhauses war es eine Offenbarung.
Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Das kleine Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht. Jens Steiners Roman bohrt in die Sedimentschichten der Gesellschaft, in die tiefen Schichten, dorthin, wo Hitze entsteht; Wut, Zorn, Frustration. Er verwendet sein Schreiben als Okular, als Vergrösserungsglas, das uns die Kleinigkeiten, die feinen Details vors Auge bringt.
Hansjörg Schertenleib war Gast im Literaturhaus Thurgau. Ein überaus inspirierender Abend im Licht eines Autors, an dem alles pure Leidenschaft ist.
Sein Onkel Leopold riet ihm einst: „Werden sollst du nichts, aber tun musst du etwas! Etwas das dir Freude bereitet und ein Feuer in dir entfacht.“ Das Feuer brennt noch immer, fürs Schreiben und die Literatur lichterloh. Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.
Sein Buch «Palast der Stille», das im vergangenen Frühling bei Kampa herauskam, ist weder Roman noch Erzählung, auch keine Novelle. Wohl am ehesten ein erzählerisches Essay. Erstaunlich, wo doch Verlage fast alles daran setzen, unter den Titel des Buches das Begleitwort „Roman“ zu setzen, in der Überzeugung, das Buch verkaufe sich dann besser.
Schon im ersten Kapitel nimmt Hansjörg Schertenleib Bezug auf den amerikanischen Dichter Henry David Thoreau (1817 – 1862) und seinen Selbstversuch „Einsamkeit“ und das daraus entstandene Buch „Walden“.Der Besuch am Ort an dem «Walden» geschrieben wurde, war Initialzündung für Sätze wie „Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert…“ Ein Mann sehnt sich und wählt die Einsamkeit. Die Frau merkt das und sagt: „Ich weiss, dass du wegmusst.“ So wird ein Cottage, ein kleines Haus am Meer auf Spruce Head Island in Maine, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute, sein Sehnsuchtsort. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer sein ganz eigener, real gewordener Sehnsuchtsort.
57 m2. Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Seine Katze, der Mann und ein bisschen Auslauf rundherum. Einzelne Gegenstände werden so wichtig, dass Hansjörg Schertenleib in seinem Buch regelrechte Dingreisen unternimmt, um zB. die Geschichte eines, des Tisches zu erzählen. Oder die Geschichte seiner Kindheit, keiner leichten Kindheit, seiner Familie, seines Vaters, seiner ersten Liebe, seines Suchens und Findens.
Hansjörg Schertenleib bleibt in seinem Schreiben, seinem Erzählen, seinem Erinnern nicht nur bei sich selbst. Er springt förmlich aus sich heraus und wechselt die Perspektive, nicht nur zwischen er und ich, sondern auch in der Zeit, im Ort, in der Person. So wie in der Erinnerung an Aura Kadric, den 4. März 1993, während der brutalen Belagerung von Sarajevo oder zur Fluchtgeschichte eines Afrikaners und später Betrachtungen über seine erste Hermes 2000. Sein Haus des Erzählers hat einen gläsernen Boden!
Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein musste.
Tanya hat ihre Heimat, die Ukraine, verlassen. Sie will vergessen. Ihre Herkunft, ihre Vergangenheit. Alisa, ihre Tochter, hat nicht nur im Leben ihrer Mutter keinen Platz. Sie versucht zu korrigieren, zu kompensieren, den Tritt zu fassen in einem Leben, das keinen Halt findet. „Jägerin und Sammlerin“ ist der Lebenskampf zweier Frauen, von Mutter und Tochter, der unterschiedlicher nicht sein könnte.
Suchen wir uns unsere Probleme aus oder werden wir von ihnen aus- oder heimgesucht? Alisa wird in kein einfaches Leben hineingeboren. Ihre Mutter Tanya und ihr viel älterer Vater suchen ein neues Leben in Deutschland, als jüdische Kontingentflüchtlinge und lassen die Ukraine hinter sich. Die Tochter Alisa wächst in Deutschland auf, wenig geliebt und umsorgt von einer arbeitenden, „jagenden“ Mutter und einem enttäuschten, immer griesgrämiger werdenden Vater. Ein Zuhause, das in lauten und unnachgiebig geführten Streitereien zu ersticken droht, das weit weg ist von Nestwärme und Geborgenheit.
Obwohl Alisa alles tun möchte, um ihrer Mutter zu gefallen, ein Lächeln der Zufriedenheit zu provozieren, genügt sie nie; zu hässlich, zu ungeschickt, zu lasch, zu faul. Obwohl Alisa in der Schule beste Noten zeigt, orientiert sich die Mutter ganz an den aus ihrer Sicht offensichtlichen Mängel der Tochter; keine Freunde, und wenn, dann die falschen, kein Talent fürs Ballet, obwohl die hübsche und zierliche Mascha aus der Nachbarschaft, ebenfalls aus der Ukraine, vormacht, was durch Selbstdisziplin zu erreichen wäre.
Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau, 2020, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03798-7
Tanya ist nicht nur mit ihrer Tochter Alisa nicht zufrieden. Sie ist mit ihrem ganzen Leben, der Welt und den Brosamen, die man ihr lässt nicht zufrieden. Von Familie und Pflichten daran gehindert, das zu werden und zu sein, was eigentlich in ihr steckt, sich dauernd mit den falschen Männern herumschlagend, von allen missverstanden und nie belohnt für das, was sie tut, wird Tanya nicht nur für ihre Tochter zur Tretmine. So sehr Tanya die Schlechtigkeit der Welt für ihr Unglück verantwortlich macht, so sehr leidet ihre Tochter Alisa darunter, dass sie sich das Glück schlicht nicht zutraut.
Was man ihr einimpft, bewahrheitet sich. Obwohl Alisa ein halbes Leben lang zeichnet, stempelt ihre Mutter dies bloss Unsinn. Obwohl Alisa über Jahre nach der Schule einkauft, putzt und kocht, obwohl sie der Mutter in ihrer Ausbildung hilft, Bewerbungen für die Arbeitsämter schreibt, genügt sie nie. Tanya kritisiert gnadenlos die Mängel ihrer Tochter. Alles, was Alisa tut, wird nach Nützlichkeit taxiert. Und so werden aus den Zeichen der Tochter, eines pubertierenden Körpers, den zunehmenden Schwierigkeiten mit Essen, der Figur, dem Gewicht, den Pickeln im Gesicht keine Zeichen, die einer Mutter sagen würden, dass sie helfen müsste, sondern das infernale Schlachtfeld der Tochter ganz allein.
„Ich bin die geborene Jägerin“, sagt Mutter Tanya ganz am Schluss des zweiten Romans der Schriftstellerin Lana Lux und meint damit eigentlich ihre Tochter Alisa, von der sie im gleichen Atemzug sagt: „Sie hat keinen Biss. Sie hat keinen Jagdtrieb.“ Ohne dass Tanya ihre Tochter klassifiziert, ist sie doch die, die die Probleme sammelt, eben eine Sammlerin. Niemand, der die Probleme beim Namen nennt, der die Probleme anpackt, sie besiegt. Dabei ist das Leben der Mutter alles andere als eine Siegerstrasse.
Man kann „Jägerin und Sammlerin“ auf den Lebenskampf zweier Frauen reduzieren. Auf den Kampf einer jungen Frau, der Tochter, einen unsäglichen Kampf gegen den eigenen Körper, das eigene Ungenügen, die Angst vor dem Verlust letzter Selbstkontrolle. Den Kampf einer noch immer jungen Frau gegen die Angst an den Versprechungen des Lebens nicht teilhaben zu können, vom Unglück und allgegenwärtigen Missverständnis verfolgt zu sein. Manchmal sind beide Lebenskämpfe bei der Lektüre kaum auszuhalten. Jener der Tochter in dem ihr selbst zugeführten Schmerz, jener der Mutter in der offensichtlichen Empathielosigkeit. Aber es sind zwei Schlachtfelder der Gegenwart, Schlachtfelder von Ursache und Resultat.
In „Jägerin und Sammlerin“ erzählen Mutter und Tochter. Und es wird deutlich, wie unvereinbar Wahrheiten sein können, die auf die Schnelle betrachtet fast deckungsgleich sein könnten. Der Roman zeigt, wie sehr Empfindung und Wahrnehmung, Ursache und Wirkung auseinanderdriften können, selbst in allergrösster „Nähe“, zwischen Mutter und Tochter, Tochter und Mutter. Der Roman ist eine Schlacht, eine der vielen Schlachten der Gegenwart. Der Roman spiegelt die Welt zwischen Konsum, Rausch, Sehnsucht und Erwartungen.
Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Kukolka», das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman «Jägerin und Sammlerin».
Ariela Sarbacher, kürzlich Gast im Literaturhaus Thurgau, beantwortet Fragen, die ich ihr gerne gestellt hätte.
Dein Buch beginnt mit einer Frage und einer Antwort: „Mamma, was passiert, wenn man tot ist?“ „Dann wird plötzlich alles dunkel.“ Dein Buch endet mit dem selbstbestimmten Tod der Mutter. Dazwischen liegt alles. Vom Licht, das ausgelöscht wird, bis zum Drang, das Licht selber auslöschen zu wollen. Hat sich dein Verhältnis zu Sterben und Tod durchs Schreiben verändert? In der Auseinandersetzung um den Entschluss der Mutter lernt Francesca diesen zu respektieren und sie aus der Verantwortung der Mutterrolle zu entlassen. Dadurch ändert sich Francescas Verhältnis zu ihrem Leben. Ihr wird bewusst was es heisst, ganz auf eigenen Füssen zu stehen und für sich selbst weiter zu gehen. Ich selbst habe noch kein Verhältnis zum Tod, ausser, dass ich noch lange hier bleiben möchte.
Du hast in der Ich-Perspektive geschrieben und dabei viel Nähe zugelassen. Warum nicht eine Perspektive aus der dritten Person? Ich wollte eine eindringliche Erzählperspektive einnehmen, in der sich die Figur der Tochter durch verschiedene Lebensalter hindurch in unterschiedlicher Tonalität mit der der Mutter konfrontiert. Die Unmittelbarkeit war mir wichtig, durch die die Leser sich der Perspektive der Tochter nicht entziehen können und an ihr reiben müssen. Die dritte Person hätte Distanz zwischen den Lesern und dem Text geschaffen.
Dein Buch erzählt nicht chronologisch, sondern springt in der Zeit, fügt Stücke zusammen. Es gibt ganz lange Einstellungen und ganz kurze. Eigentlich so, wie wirkliches Erzählen passiert. Als sässe man vor einer ungeordneten Schachtel mit Fotografien. Kannst du etwas über die Entstehung deines Buches erzählen, wie sich die Geschichten zusammenfügten? … ja, so wie wirkliches Erzählen passiert und so wie man auch lebt: mal bin ich ganz gegenwärtig, dann lasse ich mich von der Vergangenheit einholen und vielleicht auch bestimmen, dann träume ich mich vorwärts in eine unbekannte Zukunft, bin wieder hier … Die Stimme der «Kleinen» brachte den Stein ins Rollen. Die Zeitsprünge entstehen jedoch innerhalb einer Chronologie und einer genauen Dramaturgie.
Dein Roman ist durchsetzt mit Gedichten. Du bist Schauspielerin. Die Protagonistin Francesca auch, aufgewachsen in Sprache, in verschiedenen Sprachen. Was bedeutet Sprache im Leben von Ariela Sarbacher? Knappe Sätze, die in ihrer Aussage verdichtet sind, liegen mir mehr, als das Weitschweifige. In den Gedichten finde ich Ausgleich und Freiheit, komplizierte Sachverhalte in Rhythmus und Klang zu verwandeln, ohne sie ihrer Komplexität zu berauben. Das Gedicht lässt keine Erklärung zu, es spricht für sich. Sprache bedeutet für mich persönlicher Ausdruck – sowohl beim Sprechen als auch beim Schreiben – und, wenn es gelingt, Kommunikation mit anderen. Ich könnte mir nie für mich vorstellen ein Schweigeseminar zu besuchen, das wäre die Hölle! Rückzug ist mir wichtig, aber immer mit der Möglichkeit nach aussen zu kommunizieren. Sprache bedeutet auch Identität.
Keine Angst, dass das in einer zukünftigen Welt immer mehr schwindet oder sich bis zur Unkenntlichkeit verändert? Ich frage mich manchmal, was die verkürzte schnelle Art der schriftlichen Kommunikation mit uns macht. Kommunikation findet auch auf der nonverbalen Ebene statt. Sprache geht durch den Körper. Deswegen ist es wichtig, den ganzen Menschen gegenüber zu haben. Darin sehe ich eine Gefahr, in dieser zunehmend digitalisierten Welt. Ich fürchte mich vor einer körperlosen Welt, in der man vor allem schaut, tippt und auf dem Bildschirm nur noch den Ausschnitt von sich wahrnimmt, den man wahrhaben will.
Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in deinem Roman ist ein schwieriges, weit entfernt von der stets stark idealisierten Kind-Mutter-Bindung. Schon früh macht die Mutter der Tochter klar, dass sie nicht zur Mutter taugt, dass es besser gewesen wäre, es wäre gar nicht soweit gekommen. Schon alleine das wäre Stoff genug für ein Trauma. Aber die Mutter ist ehrlich. Hat Ehrlichkeit Schmerzgrenzen? Die Mutter ist authentisch und handelt aus Überzeugung, ohne sich darum zu kümmern, wie die anderen damit zurechtkommen. Es ist nicht so, dass sie zur Rolle der Mutter nicht taugt, sie geht in der Rolle nicht auf.
Gibt es eine Beziehung, der man mehr Nähe zutraut, als einer Mutter-Tochter-Beziehung? Warum habe ich den Eindruck, dass die Nähe zu einem Vater nie von dieser Nähe sein kann? Die Tatsache, dass ein Wesen im Körper einer anderen Person entsteht und neun Monate lang darin heranreift, ist nicht zu unterschätzen.
Francesca wird schon als kleines Kind klar, dass ihre Mamma anders ist, nicht nur in ihrer Art zu gehen, die von einer langen Krankheit in der Jugend der Mutter begründet liegt. Aber Francesca liebt ihre Mutter. Sie verteidigt ihre Mutter, so wie das alle Kinder bis zu einem gewissen Alter tun. So wie alle Kinder ihre Mütter lieben. Aber diese Liebe bleibt ambivalent. Wann wird eine solche Ambivalenz schwierig? Nicht die Liebe ist ambivalent, sondern das Verhältnis zwischen den beiden.
Irgendwo in der Mitte des Buches steht: „Seit ich zurückdenken kann, bin ich traurig. Die Trauer ist flach. Ich werde sie nicht los.“ Das sind Sätze, die sich eingraben. Und trotzdem ist dein Roman nicht selbstzerfleischend. War das alles Plan oder war das Schreiben intuitiv? Wie erreicht man es, dass der Ton nicht weinerlich wird? Es freut mich, dass Du diesen Satz erwähnst. Es war der Versuch, der Geschichte auf den Grund zu gehen, da hätte Weinen keinen Platz gehabt, ich wollte die Geschichte ja begreifen, so habe ich sie Stück für Stück fortgeschrieben.
Nachdem ich im Frühsommer 2014 Andreas Neesers Roman „Zwischen zwei Wassern“ unmittelbar nach einem Buch von Haruki Murakami gelesen hatte, musste ich den Autor unbedingt kennenlernen. So sehr mich der Erzählband Murakamis enttäuschte, so sehr faszinierte mich der Roman des 1964 geborenen Aargauers. Ich reiste von Amriswil nach Rothrist, an eine Lesung in der Bibliothek des Ortes. Eine denkwürdige Begegnung, denn seither begleitet mich das Schreiben und Wirken des Autors in seiner ganzen Vielfalt.
Andreas Neeser ist Erzähler, Romancier, Lyriker, Performer und vieles mehr in einem. Vor allem ist er ein Schriftsteller, der sich unglaublich nahe an seine Personen schreibt. Ein Autor, der die Musik in der Sprache liebt, ihren Klang, ihren Sound. Vielleicht ist dies eine Erklärung, dass Andreas Neeser sich in den letzten Jahren auch immer wieder der Mundart widmete. Und dabei nehme ich das Wort Mund-Art ganz wörtlich.
Ausgerechnet in diesem Frühjahr erschienen nun gleich zwei Romane; bei Haymon das Buch „Wie wir gehen“ und beim Zytglogge-Verlag der Mundart-Roman „Alpefisch“. Ausgerechnet in einer Zeit, in der keine Lesungen stattfanden, keine Festivals. In einer Zeit, in der die Buchverkäufe in den Keller rutschten und SchriftstellerInnen und Verlage in Existenznöte gerieten, Nöte, die noch längst nicht ausgestanden sind.
«Wie wir gehen», Haymon Verlag Innsbruck: Was geschieht, wenn man es versäumt, eine gemeinsame Sprache zu finden? Wenn man sich trotz aller Liebe fremd bleibt? Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangenen Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.
Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht. So wird ein Diktiergerät die Tür zu einem verschütteten Leben, zu mehreren verschütteten Leben, jenem des Vaters, der Tochter, des einstigen Mannes und der Geschichte von Mona selbst.
«Alpefisch», ein Mundart-Roman, Zytglogge Basel: Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser lotet aus, was sonst nur Schatten wirft.
Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin.
Ariela Sarbacher mit ihrem Roman «Der Sommer im Garten meiner Mutter», die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler, die Illustratorin Lea Frei waren die Gäste und Akteure des Sommerfests, dem ersten Programmpunkt in der neuen Saison des Literaturhauses Thurgau.
Vielleicht ist es der Hunger nach Kultur in einer Zeit mit vielfältigen Mangelerscheinungen. Vielleicht ist es die Freude darüber, dass Ariela Sarbacher ihren Roman nun doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren konnte. Vielleicht aber, wie mit dem Sommerfest, wo so viele Formen des Genusses aufeinandertreffen: Literatur, Musik, Bildkunst, freundschaftliches Zusammensein und etwas für den Gaumen. Aber vielleicht auch, weil mit jeder neuen Programmleitung in einem Literaturhaus der Wind ein bisschen dreht.
«Stories» Christian Berger und Dominic Doppler
Ariela Sarbacher brachte ihren Debütroman „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ mit, der im Frühling dieses Jahres beim Bilger-Verlag in Zürich erschien. Ein beeindruckender Roman, der eine breite und begeisterte Leserschaft fand. Ein Buch, von dem ein Kritiker schrieb: „Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt.“
Nach einem lauschigen Vorabend im Garten des Literaturhauses wurden die Gäste Zeugen eines Experiments. Die Schriftstellerin Ariela Sarbacher und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler sahen sich an diesem Abend zum ersten Mal. Das einzige, was in den Wochen zuvor geschah; Ariela Sarbacher verriet den Musikern, welche Textstellen sie lesen, bzw. vortragen wird. Christian Berger und Dominic Doppler sind ein seit vielen Jahren eingespieltes Team. Sie lasen das Buch, spürten sich in den Text hinein. Vor ausverkauften Rängen schwang sich der Text unter dem Dach des Literaturhauses in ganz neue Sphären.
Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter.
Jens Steiner, Schriftsteller, Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau, Gast im Literaturhaus Thurgau
Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.
Lea Frei zeichnet.
Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.
Eine junge Tote in einer Pastafabrik. An einem Ort im pittoresken Tessin, der sonst nur mit Idylle verbunden wird. Emma Tschopps Einstieg als Ermittlerin in der Welt von JägerInnen und Gejagten! Ein Verbrechen im Schatten einer steinernen Familiengeschichte? Ein Verbrechen aus der Vergangenheit? Sandra Hughes überzeugt mit ihrem ersten Krimi, schält ganz langsam, ganz genüsslich bis an den „Kern einer faulenden Zwiebel“.
Wenn es in Krimis darum geht, Ordnung zu machen, einen Fall zu lösen, dann mag ich dieses Genre nicht. Selbst wenn die Handlung, die Verstrickungen noch so verwirrlich sind und Autorin oder Autor sich bemüht, mir die Hauptperson nahe zu bringen – es bleibt ein schales Gefühl. Eben dieses schale Gefühl einer vorgegaukelten Ordnung, einer Ordnung, die es nicht gibt, einer Gerechtigkeit, die es nicht gibt. Denn selbst wenn eine Täterin oder ein Täter überführt, verurteilt und hinter Gittern ist, bleibt die Wunde offen. Verbrechen bleiben, Verletzungen bleiben, selbst wenn sie unsichtbar sind, selbst wenn sie vernarben, selbst wenn sie bezeugt sind.
In Sandra Hughes erstem Krimi sagt die Vermittlerin Emma Tschopp ganz am Schluss: „Mein ganzes Arbeitsleben lang kämpfe ich schon für die Gerechtigkeit. Aber es gibt keine.“ Darüber liesse sich abendfüllend diskutieren. Vielleicht gibt es eine Gerechtigkeit für die Gesellschaft. Aber mit Sicherheit keine für Opfer und TäterInnen. Opfer bleiben Opfer, erst recht, wenn ein Mensch sterben musste. Noch viel mehr, wenn das Opfer wie im Krimi von Sandra Hughes ein mehr oder weniger zufälliges ist. Auch für TäterInnen, denn selbst dann, wenn Haftstrafen nach ihrer Dauer und Geldstrafen in ihrer Höhe messbar sind, ist es für Aussenstehende sehr oft nicht nachvollziehbar, das die einen für Jahrzehnte weggeschlossen werden und andere auf Bewährung frei bleiben.
Emma Tschopp, einundfünfzig, alleinstehend und kinderlos, Kriminalpolizistin bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft versucht mit ihrem Labrador Rubio und ihrem gelben Campingbus an einem Waldrand ein paar Kilometer von Meride, einem Tessiner Bilderbuchdorf, Ferien zu machen. Jene dreiundzwanzig Tage Ferienguthaben, die ihr zustehen und die entfallen, wenn sie nicht in diesem Jahr eingelöst werden. Aber weil eine Kriminalbeamtin auch in den Ferien Kriminalbeamtin bleibt, wird sie von ihren Tessiner Kollegen um Unterstützung gebeten, weil das Opfer wie Emma Tschopp aus dem Umland von Basel stammt.
Und das Opfer? Stefanie Schwendener war wenig über zwanzig. Eine junge Kindergärtnerin, die alle mochten, die im Tessin einen unbezahlten Urlaub machte, nachdem sie von einem Aufenthalt zuvor schon hingerissen war von einer neuen Welt, einer neuen Aufgabe. Sie bewohnte eine kleine Wohnung in Meride und bot Führungen an in der Pastamanufaktur der Familie Savelli im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und für das Dorf, das sich in Schockstarre befindet. Ein Fall, bei dem nichts zu greifen scheint und die Polizei unter dem Tessiner Commissario Bianchi an ihre Grenzen kommt. Ein Fall, an dem sich auch Emma Tschopp anfänglich die Zähne ausbeisst, weil wie immer alles in die Irre führt, was offensichtlich scheint.
Sandra Hughes sticht mitten hinein. Seien es verkrustete Familienverhältnisse, Geheimnisse, die nie an die Oberfläche kamen, aber über Jahrzehnte ihren Modergeruch verbreiteten. Hinein in Fassaden, hinter denen sich Abgründe auftun, nicht nur in Familien, sondern in Strukturen, die nach Aussen nur Gutes propagieren. So wie die barmherzigen Schwestern von Ballenmoos, die ein Kinderheim führen und über Jahrzehnte mit mehr als fragwürdigen Methoden das Leben von Kindern brachen. Eine Geschichte, die im Roman fiktionalisiert ist, aber im vergangenen Jahrhundert nicht bloss einmal Realität und Skandal war.
Emma trifft sich im Tessin manchmal mit Karin, auch einer, die sich im Kanton auf der anderen Seite der Berge ein Stück Paradies zu bauen scheint. Emma hilft Karin beim Erstellen eines Mosaiks vor dem Eingang zu ihrem Grotto. Ein Labyrinth, das von innen nach aussen gelegt wird, in entgegengesetzter Richtung zum eigentlichen Weg durch ein Labyrinth. Sandra Hughes bedient sich noch anderer starker Bilder; wenn die Tote dort gefunden wird, wo Hartweizengries und Wasser zu einer klebrigen Masse verrührt werden, einem Teig, der sich zu einem Genussmittel verwandelt.
Sandra Hughes erster Krimi ist ein gelungenes Stück Literatur, das weit mehr ist als Strandfutter oder buchgewordener Fastfood. Hintergründig und faszinierend konstruiert mit einer Ermittlerin, die für einmal nicht den gängigen Klischees entspricht, die KimiautorInnen gerne anzapfen, wenn es darum geht, einen neuen „Schnüffler“ zu kreieren.
Die Lesung von Sandra Hughes anlässlich der 2. Kulturnacht Amriswil entstand in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Thurgau.
Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Bisher schrieb sie Romane für Erwachsene und eine Geschichte für Kinder: «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009, Limmat Verlag), «Zimmer 307» (2012, Dörlemann Verlag) und «Fallen» (2016, Dörlemann Verlag), «Das Dach» (2019, SJW). 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.
Sandra Hughes «Das Dach», sjw, 2019, 34 Seiten, ISBN 978-3-7269-0206-3
PS: «Das Dach» von Sandra Hughes ist ein wunderbares SJW-Heft für Kinder, die schon gut lesen können und Erwachsene, die gerne mit der Fantasie einer Schriftstellerin durchbrennen. Paul ist 11 und wohnt ganz oben im 8. Stock. Durch Zufall zeigt ihm der Fahrstuhl im Haus, dass es einen Weg aufs Dach gibt, in eine Welt, die den Erwachsenen verborgen bleibt!
Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Dem kleinen Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht.
Wer bei «Literatur am Tisch» mit Jens Steiner bereits um 18 Uhr dabei sein will, sollte das Buch gelesen haben und sich unter sekretariat@bodmanhaus.ch anmelden. Die Platzzahl ist beschränkt!
Ob es die Autoposer sind in Hamburg oder Rorschach; vielleicht manifestiert sich auch in ihrem Verhalten die Lust nach Allmacht, nach unbegrenzter Kraft. Vielleicht auch ein bisschen bei all jenen, die sich eine Drohne anschaffen und irgendwo am Stadtrand mit zaghaften Flugversuchen beginnen; Verborgenes sehen, grenzenlosen Ein- und Durchblick. Bei all jenen, die sich ihr Brenn- und Vergrösserungsglas mit YouTube zu Nutze machen, denen man nichts mehr zu erklären braucht, weil sie die Allmacht ihres Wissens wie einen schwarzen Sack über die Welt stülpen.
Toni Manfredi wohnt in der 18. Etage in einem Hochhaus in Bethlehem. Dieses Bethlehem liegt nicht im Westjordanland, sondern im Westen Berns, eine Beton gewordene Ausgeburt der Nachkriegszeit. Toni lebt allein, seit seine Mutter gestorben ist. Und obwohl er schon eine ganze Weile in Rente ist und seine Mutter nicht mehr da, ist alles so geblieben, auch wenn das eine oder andere liegen bleiben darf. So wie die Holzspäne seiner Schnitzereien. Wenn er sich ein weiteres Mal an die heilige Familie macht, mit Ochs und Esel begonnen und final auf den Höhepunkt zusteuernd, wenn er sich an Maria mit dem Kindlein macht. Aufregen ist nicht seine Art. Aber er spürt sehr gut, dass sich da etwas zusammenbraut. Toni spürt das kommende Verderben. Auch wenn sein verkorktes Leben eines voller Fehltritte und Versäumnisse war. Ihm macht niemand mehr etwas vor. Nicht nach dem Banküberfall in Romanshorn, der Schiesserei in der Autobahnraststätte Würenlos und dem Verkehrschaos auf der Autobahn, nachdem bündelweise Banknoten auf die Fahrbahn flogen und der Verkehrsfluss zum Erliegen kam.
Auch Raffi spürt das, der Junge, der abhaut und den Weg der beiden kreuzt, die die Banknoten auf die Fahrbahn streuten. Er hat eine Mission. Er ist ein Abenteuerbeobachter, ein Nichtvergesser. Der Waldläufer und die Indianerin, bei denen er mit einem Mal auf der Rückbank des gestohlenen Autos sitzt, werden zu Figuren dessen, was ihm endlich die Welt erklären soll. Regina taugt dazu nicht. Regina ist seine Mutter, eine, die nie Zeit hat, sich überall engagiert und nirgends richtig dabei ist. Nicht einmal als Mutter. Denn sie merkt erst nach zwei Tagen, dass der Inhalt des Kühlschranks unberührt bleibt und Raffis Bett kalt. Die Suche beginnt erst, als Raffi sich im Schweif des Waldläufers und der Indianerin eingerichtet hat.
„Die Gegenwart hat sich darauf spezialisiert, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn sie dann merkt, dass der Elefant alles zertrampelt, ist es längst zu spät.“
Auch Jacques Rance spürt es, der alte Mann in seiner Villa über dem Genfersee, von den eigenen Kindern ebenso vergessen wie von der Geschichte. An den einen Tagen schafft er es noch von einem ins andere Zimmer, an anderen nicht einmal aus dem Bett. Einzig seine Haushälterin ist noch da. Die letzte in einer ganzen Reihe. Er hasst sie. So wie das Leben, das sich nicht mehr in Ordnung organisieren lässt. Trotz der Versuche, trotz seines Geldes, trotz aller Zahlungen. Er hat vor einer Weile einen Brief geschrieben. Aber weil ihn auch seine Erinnerung verlässt, weiss er nicht einmal mehr an wen und worum es ging. Er weiss einfach nur, dass es sein letzter Versuch war, Ordnung in sein Leben zu bringen.
So wie Martin versucht, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zum Beispiel mit einer Einkaufstour ins nahe Ausland. Nach Konstanz. Shoppen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Weg vom Chaos, das sich in seinem Leben auszubreiten beginnt. Bei der Arbeit, den Blicken auf den gespannten Stoff der Neuen im Büro. In der Familie, in der er seinen Sohn in einem ungewollten Moment in Frauenkleidern erwischt. In dem Moment, als sein Chef ein unerwartetes Mitarbeitergespräch einfordert. Und erst recht seit sich eine Blase in sein Gesichtsfeld drängt, ein undefinierbares Etwas, das ihm die Klarsicht raubt. Etwas ganz links, das immer zerspringt, wenn er danach sehen will.
Jens Steiner beginnt seinen Teppich von den Rändern her zu knüpfen. Vieles fügt sich erst mit fortschreitender Lektüre zusammen, Entscheidendes erst auf den letzten Seiten. Alles hängt mit allem zusammen. Zerrt man am einen Strang, wickelt sich die Schlaufe um einen andern. Und wie schon in seinen vorangegangenen Romanen webt Jens Steiner subtile Gesellschaftskritik und beissenden Witz in sein Erzählen. Ich liebe Jens Steiners Art zu erzählen. Er fordert mich heraus und nimmt mich gleichzeitig mit. Er spiegelt das Leben, aber spielt nicht mit mir als Leser. Und wenn er seinen Roman dann auch noch im meiner unmittelbaren Umgebung spielen lässt, von Romanshorn über Weinfelden in der Ostschweiz, am Würenloser Fressbalken und den Wohntempeln in Bethlehem vorbei bis in die nach Wohlstand stinkenden Hänge über dem Genfersee durch die ganze Schweiz zieht, bekommt die Lektüre noch eine Würze mehr.
Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Arche Literatur Verlag erschien 2017 sein Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» sowie 2018 der Kurzgeschichtenband «Weihnachten könnte so schön sein».