Zora del Buono – Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024 #SchweizerBuchpreis 24/11

Sie hat ihn. Obwohl sie noch eine Stunde zuvor auf einem Sofa gleich neben der Garderobe des Stadttheaters Basel noch meinte, sie würde die Spannung kaum mehr aushalten und sei froh, wenn das Prozedere, das mit der Nomination zum Deutschen Buchpreis begonnen habe, endlich vorbei sei.

Weit gefehlt! Zumindest bricht für sie eine neue Welle über diese Sehnsucht nach Entspannung. Auch wenn der Traum, mit einem Teil des Preisgeldes den Garten in Ordnung bringen zu können, einer Erfüllung nicht mehr quersteht: Interview an Interview, Veranstalter*innen, die sich um sie reissen werden, Fernsehen, Radio. Entwicklungen, die ihr Hund nicht goutieren wird, war es doch schon erstaunlich genug, sie bei der Preisverleihung für einmal nicht mit ihrem treuen Begleiter anzutreffen.

Sie hat ihn. Mit 30000 Franken lässt‘s sich lange frei atmen. Und für alle noch folgenden Bücher wird das Etikett „Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024“ nur hilfreich sein. Neben ihr auf dem Sofa sass Jonathan Michael Beck, ihr Verleger aus einem Haus, das seit einem Vierteljahrtausend im Dienste des gedruckten Buches steht und in dessen Ahnengalerie sich die Grossen der Deutschen Literatur reihen. Mit Zora del Buono gesellt  sich eine Autorin mit besonderer Auszeichnung dazu, die nicht nur den Preis redlich verdient, sondern mit ihrer Literatur stets grosse Fragen an das Leben stellt. Fragen, mit denen man sich unweigerlich auseinandersetzt, wenn man es nicht scheut, sich für die Antwort zu bewegen.

„Seinetwegen“ ist Vatersuche, Selbstsuche und gesellschaftliche Auseinandersetzung zugleich. Und „Seinetwegen“ schert sich formal wenig um gängige Muster, ist Notwendigkeit, Leidenschaft und Konfrontation. Keine Streicheleinheit, kein Nachttischenbuch, sondern die Aufforderung, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, nachzufragen, zuzuhören.

Zora del Buono hat erst spät zu schreiben begonnen, erst mit 45, nachdem sie mit dem Meeresbiologen Nikolaus Gelpke die Kultur- und Reisezeitschrift Mare gegründet hatte, ein Heft, das sich bis heute grosser Beliebtheit erfreut, eine Art des Schreibens, die ihr auch bei „Seinetwegen“ zugute kam. Unvergessen ist ihr Buch «Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen», ein Buch über die Begegnung mit den ältesten Bäumen rund um die Welt, ein Buch, das bewies, dass Zora del Buono selbst den Bäumen zuhören kann.

Sie hat ihn verdient. So wie ihn alle Nominierten verdient hätten, einhellige Meinung bei allen Befragten an der diesjährigen Preisverleihung. Ein Kompliment an die Jury, die kein einziges Buch in die Shortlist setzte, das für Kopfschütteln und Unverständnis sorgte.

Ich gratuliere Zora del Buono von ganzem Herzen!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

 

 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

Vera beginnt nach dem Studium ihre Arbeit in ihrer eigenen Praxis. Sie freut sich. Endlich. Veras Anfang als Hausärztin in einem Dorf in der Provinz ist mehr als ein Anfang. Es ist die Erfüllung eines Traums, der Start in ein Leben, auf das bisher alles hinzielte. Wenn da nur die Realität nicht wäre. „Kaltfront“ legt sich wie eine klamme Decke über mich. Ein literarischer Leckerbissen, an dem man kauen muss.

Als Vera zum ersten Mal in den Räumen ihrer zukünftigen Praxis die Tür hinter sich schliesst, legt sie sich irgendwann auf den Boden der noch leeren Räume. Sie liegt auf dem Rücken und ist angekommen. Hier wird beginnen, was sich aus ihrem Sein kristallisierte. Hier will sie tun, wonach ihr schon so lange dürstet. Hier will sie ihre Aufgabe als Hausärztin zu ihrem Leben machen. Ein Beginn voller Enthusiasmus, ein Beginn, der sie entlöhnen soll für all das, was sie in der Vergangenheit auf sich genommen hatte.

Es dauert auch nicht lange, bis sich ihr Kalender mit Terminen füllt. Am meisten freut sie sich auf die Fahrten ins Land, wenn sie nach den Terminen in der Praxis mit Auto und Koffer Hausbesuche macht, weil sie spürt, mit wie viel Dankbarkeit und Herzlichkeit sie empfangen wird. Bei diesen Fahrten setzt sie sich zwischendurch auf einen Stein oder eine Bank, ergibt sich dem Moment, schreibt in ihr Tagebuch, um sich danach bis in späte Abendstunden weiter jenen Menschen zu widmen, die sie ganz brauchen, so wie sie es auch selbst gerne hätte, wäre sie an ihrer Stelle. 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese, 2024, 100 Seiten, CHF ca. 24.00, ISBN 978-3-906907-99-4

Bist du glücklich?, fragt sie Luca, ihr Freund, der zwischendurch immer wieder für ein paar Tage zu ihr fährt. Luca ist Grafiker in der Stadt, lebt in einer virtuellen Welt, in einer ganz anderen als Vera. Vera stellt sich diese Frage nicht, denn sie fühlt sich einfach dort, wo sie glaubt hinzugehören. Sie misst das Glück an den Gesichtern ihrer Patienten. Selbst in jenen Tagen, wo im Wartzimmer das Getuschel beginnt. Als man in den Medien liest und hört, dass in der Ferne ein Virus zu wüten beginnt. Als man ihr Fragen stellt, ob das Virus auch bis nach Wolfach kommen werde.

Vera lässt sich nicht abschrecken, besucht weiterhin ihre Patienten im Spital, im Pflegeheim und in den Häusern weitherum. Und als sie sich von einem ehemaligen Studienkollegen als Helferin bei Impfkampagnen anheuern lässt, ist es nicht nur Luca, ihr Freund, der ihr Leichtsinn vorwirft. Als sich das Virus wie ein Heuschreckenschwarm über das Land legt und sie zusehen muss, wie Leben dahingerafft wird, das Leben jener Patienten, die ihr ans Herz wuchsen, sind jene, die mit Transparenten und Hassparolen vor dem Spitaleingang stehen, ihrem Zorn gegen die Medizin und den Staat Luft machen, mehr als nur Stiche in ihr Herz. Boris, ein Arzt im Ruhestand, ein alter Mann, der Vera mehr und mehr zu einem Vertrauten wird, sagt: Du musst nicht nur für die Gesundheit der Patienten, du musst auch gegen die bösen Geister kämpfen, die mit dem Virus gekommen sind. Sie heissen Ungewissheit, Fatalismus und Empörung.

Als der Eingang zu ihrer Praxis verwüstet wird und grosse Steine durch die Fenster geworfen werden, als man sie auf allen möglichen Kanälen anonym zu beschimpfen und diffamieren versucht, wird die Frage Wie weiter? zur Existenzfrage. Aber für Vera gibt es nur den einen Weg; sie will helfen. Sie will alles in ihrer Macht Stehende tun. Sie will weitermachen, womit sie begonnen hat. Auch wenn sich die direkte Konfrontation immer deutlicher abzeichnet.

Als ich ganz zu Beginn der Pandemie auf der Strasse mit einem befreundeten Autor darüber sprach, was da auf uns zurollt und ob das einen Einfluss auf sein Schreiben hätte, meinte dieser: „Worüber soll man den angesichts dessen, was genau jetzt passiert, noch schreiben?“ Coronaromane wollte niemand lesen, denn alles was man las und sah, war eingetaucht in die Ratlosigkeit jener Gegenwart und in den Schrecken der Nachrichten. „Kaltfront“ ist kein Coronaroman. „Kaltfront» erzählt von einer jungen Ärzten, die trotz allen guten Willens zerrieben wird zwischen Angst, Zorn und Hass. Peter Weibel begleitet eine junge Ärztin, deren Kampf zur Lebensaufgabe (Man verstehe dieses Wort zweideutig!) wird. Ein Erzählen gespickt mit Tagebuchaufzeichnungen und den Verlautbarungen von Behörden, die um Erklärungen ringen. Das Protokoll einer Katastrophe, die wie ein unabwendbarer Sturm auf Vera zurollt.

Peter Weibel wertet nicht, urteilt nicht. Aber hinter seinen Schilderungen wabbert die Frage, wie es dazu kommen konnte. Nicht medizinisch, aber menschlich. Er tut das mit dem Wissen eines Arztes und der Empathie eines Freundes, eines Menschenfreundes. Wie kann es sein, dass sich Menschen derart entzweien, so unvereinbar in verschiedenen Welten Leben, dass alles Gemeinsame nichtig wird? Schon angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten ein wichtiges Buch!

Peter Weibel liest an der Hauslesung vom 26. Oktober 2024 zum ersten Mal vor Publikum aus seinem neuen Buch.

Peter Weibel (1947) schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel im Gespräch mit Gallus Frei

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Für drei Tage war Kufstein das Salz in der trüben Wettersuppe! – Sprachsalz 2024

Vor mehr als zwei Jahrzehnten wagte sich eine kleine Gruppe Schreibender an das Abenteuer, ein Festival für Schreibende im Tirol zu organisieren. Inspiration dafür fanden sie in Leukerbad, in den Schweizer Bergen, wo der Verleger Ricco Bilger in seinem Heimatkanton ein Festival ins Leben rief, das mittlerweile zu den grossen, traditionellen und internationalen zählt.

John M. Coetzee, einer der ganz Grossen der Weltliteratur und Literaturnobelpreisträger, Valerie Fritsch, Meisterin kraftvoller, lyrischer Bilder und Metaphern und Nominierte für den Österreichischen Buchpreis 2024, Vigdis Hjorth aus Norwegen, unübertroffen im Sezieren von Familienstrukturen, Abhängigkeiten und Traumata, Barbi Marković, Trägerin des Leipziger Buchpreises 2024, Hiroko Oyamada aus Japan, die in «Das Loch» eine Anderswelt entdeckt, die alles auf den Kopf stellt, Vladimir Sorokin, einer der bekanntesten russischen Autoren, der seit dem Ukrainekrieg im Exil in Deutschland lebt, Michael Stavarič, ein Sprachkünstler zwischen den Genres, Douglas Stuart, der mit zwei Bestsellern über Kindheit, Jugend, Leben und Lieben im harten Glasgow für Furore sorgte.… um nur einige der grossen Namen zu nennen.

Seit seinem literarischen Durchbruch mit dem Roman «Schande», mit dem er mit dem Booker Price, einem der renommiertesten Literaturpreise, den er schon zum zweiten Mal zugesprochen bekam, zählt der südafrikanische Autor, der mittlerweile in Australien lebt, zu den ganz Grossen, erst recht nachdem er 2003 den Literaturnobelpreis erhielt und 2008 «Schande» mit John Malkovich in die Kinos kam, die Geschichte eines Collegeprofessors, der im von Apartheid zerrissenen Südafrika den Boden unter den Füssen verliert. Wer den Autor erleben will, muss die Gelegenheit nutzen. Sprachsalz schafft es immer wieder, die ganz Grossen für ein Engagement zu gewinnen und damit auch die Gelegenheit, nicht nur den Stimmen der ganz Grossen zu lauschen, sie hautnah zu erleben.

John M. Coetzee © D. Jarosch

Nachdem die Stadt Hall im Tirol, zwei Jahrzehnte lang Austragungsort des Literaturfestivals, das weit über Grenzen hinaus für Aufmerksamkeit sorgt und seit Jahren fix in meinem Kalender steht, sich gezwungen sah, sämtliche Kulturausgaben um die Hälfte zu kürzen, war ein Neubeginn gefragt. Mit Kufstein bot sich ein neuer Austragungsort an und damit wohl auch die Gelegenheit, das eine oder andere zu überdenken. Ob das gelungen ist, wird sich 2025 zeigen, wenn jene wiederkommen sollen, die sich heuer auf zum Sprachsalz machten.

Vladimir Sorokin, der bis zum Ukrainekrieg noch in seinem Heimatland Russland lebte, musste fliehen, weil die Art und Weise seines Erzählens, seine Themen und sein ungeschminktes Fabulieren im totalitären Russland unter Putin keinen Platz mehr hat. Russischen Verlagshäusern wurde unmissverständlich klargemacht, dass regimekritische Literatur nicht geduldet wird. Bibliotheken bekamen die Order, Bücher wie solche von Vladimir Sorokin aus den Regalen zu nehmen. Buchhandlungen führen schwarze Listen von Titeln, die nur noch dem Schredder zugeführt werden. Sorokins neuster Roman „Doktor Garin“ ist eine bitterböse Satire, die die Mächtigen der Welt bis auf ihren Hintern mit Armen und Gesicht reduziert. Ein schillernder und urkomischer Roman, der unzweifelhaft abrechnet mit seiner Gegenwart und einer fiktiven Zukunft, die längst begonnen hat. Dass Sprachsalz dem Autor eine Stimme gibt, ist löblich, auch wenn es ein Versäumnis war, ihn nicht über seine ganz eigene Gegenwart diskutieren und sprechen zu lassen.

Vladimir Sorokin mit der der deutschen Stimme Ernst Gossner © D. Jarosch

Ebenso eindrücklich die beiden bisher erschienenen Romane des Schotten Douglas Stuart, der sich bei seinen Lesungen auf seinen mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Shuggie Bain“ konzentrierte. Ein schonungsloses Sittenbild der schottischen Stadt Glasgow, die in der Wirtschaftskrise der 80er-Jahre zu kollabieren drohte. Ein düsteres Porträt der kleinen Leute, denen die Zukunft genommen wurde, die sich nach allem streckten, was Leben versprach.

Douglas Stuart im Gespräch mit seiner deutschen Stimme am Festival Ernst Gessner © D. Jarosch

Beeindruckend war aber auch österreichisches Schaffen mit den Autorinnen Valerie Fritsch («Zitronen») Eva Maria Gintsberg («Schichtgedichte») und dem Sprachkünstler Michael Stavarič. Sie alle sind Meisterinnen und Meister der Sprache, Schreibende, denen es um weit mehr geht, als bloss Geschichten zu erzählen. Ihr Schreiben ist Musik, mehrschichtig komponiert, nicht für den schnellen Genuss. Literatur, die erst dann seine Wirkung entfaltet, wenn man sich ganz auf sie einlässt. Das zeigte sich vor allem beim Sprachkünstler Michael Stavarič, der ursprünglich beabsichtigte, seinen Roman „Das Phantom“ in einem Satz zu erzählen. Eine Absicht, die der Verlag durchkreuzte. Geblieben ist ein kunstvolles Werk von thomasbernhard‘scher Wucht. Ein Roman, der seinen Glanz erst dann zur Gänze entfaltet, wenn Stavarič selbst zum Instrument wird.

Michael Stavarić, auch Autor von Bilder- und Sachbücher für Kinder (und Erwachsene). Die Reihe über Meeresbewohner wie Kraken, Quallen oder zuletzt «Faszination Haie» hat aus dem Stand die Herzen seiner Leser*innen erobert. © D. Jarosch

Wer öfter an solche Festivals reist, will überrascht werden, reist in der Hoffnung an, Entdeckungen, bisher Unbekanntes mit nach Hause zu nehmen, ein Buch im Koffer, auf das man sich freut und viel verspricht. Ein solches ist „Unterholz. Auszüge aus einem Langgedicht“. Der Beweis dafür, dass Lyrik weder sperrig noch verschlüsselt sein muss, dass genau der Lyrik keine Grenzen gesetzt sind, dass Gedichte schmeicheln und umgarnen können. Eine Performance der Dichterin Romina Nikolić am Sprachsalz, die zu meinem ganz persönlichen Highlight wurde.

Romina Nikolić © D, Jarosch

Sprachsalz war ein Erfolg, der Zuspruch des Publikums trotz der garstigen Witterung beeindruckend. Zu hoffen ist, dass in der Zukunft Gespräche und Auseinandersetzungen mehr Platz erhalten. Wenn Sprachsalz seine Exklusivität nicht nur über die Gästeliste beweisen will, muss am Formalen geschliffen werden. Einzig das sonntägliche Gespräch zwischen dem Nobelpreisträger John M. Coetzee und der Autorin und Übersetzerin Mariana Dimópulos über Fragen zwischen „Muttersprache“ und „Vaterland“ war erhellende Ausnahme.

Grossen Dank an das Sprachsalz-Team. Ich bin im kommenden Jahr wieder dabei!

Beitragsbild © D. Jarosch

Lesekreis „Gegenwartsliteratur“ im Literaturhaus St. Gallen – Rückblick und vielversprechender Ausblick

Überall gibt es sie – Lesekreise. Aber dieser eine in St. Gallen soll sich von allen anderen unterscheiden. Ein Begegnung mit Autorinnen und Autoren auf Tuchfühlung, im vergangenen Halbjahr mit Karl Rühmann und Mireille Zindel, im kommenden mit Rebekka Salm und Jens Steiner.

Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.

«Dienstagabend, sieben Uhr. Wir treffen uns im Bürgerratssaal des Stadthauses zur Abschlussdiskussion meines neuen Romans «Fest». Das heisst, Gallus holt mich am Bahnhof ab und spaziert mit mir durch die Innenstadt dorthin. Und so geht der Abend weiter: wärmend, nährend. Zwölf Teilnehmende des Lesezirkels, die sich in insgesamt drei Sitzungen eingehend mit «Fest» befasst haben, stossen in der Abschlussrunde auf mich. Ich erfahre, wie die Lektüre auf sie gewirkt hat, beantworte ihre Fragen und höre Dinge, die mich riesig freuen. Zum Beispiel, dass Ueli drei Monate lang kein anderes Buch lesen konnte, weil «Fest» ihn so sehr anging. Oder Dieter, der nach zwei Stunden ein Zitat aus dem Roman vorliest und das Gespräch so zu einem perfekten Abschluss bringt. Die direkte Begegnung mit Lesenden und das Gespräch mit ihnen ist äusserst wertvoll, nochmals ganz anders als bei Lesungen, intensiver, weil näher. Und es ist schön zu beobachten, wie sie das Buch – so scheint es – beinahe besser kennen als ich.» Mireille Zindel

Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!

Zwischen September 2024 und Januar 2025 werden dies an fünf weiteren Abenden Jens Steiner («Die Ränder der Welt«, Hoffmann & Campe) und Rebekka Salm («Wie der Hase läuft«, Knapp) sein.

Anmeldungen sind noch immer möglich. ➜ literaturhaus@wyborada.ch.

»Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe.« Gallus Frei, literaturblatt

«Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.» Elke Heidenreich

Leukerbad – 3 Tage Hauptort der Literatur – 3 Rosinen – ein Rückblick

Ob Terézia Mora, Ronya Othmann oder Joanna Bator, von Frauen erduldete und erlittene Gewalt ist immer wieder Thema in der Literatur, als wäre die Literatur die Waffe, um sich mit Sprache gegen diese Gewalt zu wehren.

Nicht ganz einfach für mich als Mann, zumal mich die Lektüre dieser Bücher und die Gespräche darüber immer und immer wieder mit Selbstreflexion konfrontieren; Wie weit bin ich selbst Teil dieser Mechanismen? Wie viel davon ist mir bewusst, wie viel ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen? Was hat sich in meine Sprache eingeschlichen? Warum scheint sich in Büchern leichte Unterhaltung mit den Sonnenseiten der Liebe zu beschäftigen und „ernste“ Literatur mit den Schattenseiten? Warum beschleicht mich beim Lesen immer wieder das Gefühl, „auf der falschen Seite“ zu sein.

Weder Gewalt an Frauen, oder all die unauffälligen, verborgenen männlichen Verhaltensweisen, die sich bewusst oder unterbewusst gegen Frauen richten bis hin zu offensichtlicher Misogynie, waren Thema am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Aber selbst der ofenfrische Roman der jungen Michelle Steinbeck widmet sich dem Thema, lässt Männer oder zumindest Männlichkeit schlecht aussehen.

Michaela Wendt, Joanna Bator und Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, nicht zum ersten Mal Gast (Man kündigt in Leukerbad weibliche Gäste als Gästinnen an. Etwas was mir weder über die Lippen noch in die Tasten geht, zumindest vorläufig.) in Leukerbad, brachte einen monumentalen Roman ins Wallis. Auf 800 Seiten erzählt Joanna Bator virtuos, verschachtelt und leidenschaftlich von vier Generationen Frauen, einem Jahrhundert deutsch-polnischer Geschichte. Eine Geschichte, in der die Männer einzig und allein da sind, Schwierigkeiten zu machen, abwesend zu sein oder sich ganz offensichtlich gegen die weibliche Kraft zu wenden, bis hin zu schreiender Gewalt.

Ronya Othmann © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Noch offensichtlicher wird es bei Ronya Othmann, die sich mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ auf beklemmende Weise mit ihrer jesidischen Herkunft, ihren Wurzeln beschäftigt. 2014 verübte der IS einen Genozid an den Jesiden im Sindschar-Gebirge. Weitab von der medialen Aufmerksamkeit wurden im Norden des Iraks Tausende von Jesiden umgebracht, hauptsächlich Männer, während man Frauen als Sexsklavinnen verkauft und Kinder zu Selbstmordsoldaten macht. Ein Massaker in einer langen Reihe, das vierundsiebzigste, ein Genozid über Jahrhunderte, ein genetisch verankertes Trauma einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit immer und immer wieder zwischen die Fronten gerät. Ein massenhaftes Töten fanatischer Männer. „Vierundsiebzig“ ist ein langer Erklärungsversuch einer jungen Autorin, die nicht nur in ihrem Roman um eine Stimme ringt. Selbst während des Gesprächs am Festival über ihr Buch rang sie nach Fassung. Ein Buch, dem ich möglichst viel Publikum wünsche!

Terézia Mora zusammen mit ihrer Moderatorin Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Viel abgeklärter die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora, die in ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erstmals aus der Sicht einer Frau erzählt. Muna liebt Magnus. Es könnte eine Liebesgeschichte sein, ist aber viel mehr die Leidensgeschichte einer Frau, die sich nicht aus dem Dunstkreis eines Mannes befreien kann, der sie fesselt und erniedrigt. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Das sind nur ein paar wenige Eindrücke aus dem vielfältigen Programm des diesjährigen Festivals, das trotz prominenter Absagen, reiste ich doch mit vollständiger Svenja-Leiber-Bibliothek an, äusserst dicht und kurzweilig war. Selbst mit den Unmengen an Wasser, die dem Wallis in diesen Tagen arg zu schaffen machten. Ein grossartiges Geschenk!

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Unten Getöse oben «Wie der Hase läuft» von Rebekka Salm am Literarischen Spaziergang am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad

Der Spaziergang in die Dalaschlucht zusammen mit der Schriftstellerin Rebekka Salm und einer Gruppe Unerschrockener versprach angesichts der Wassermassen, die das Wallis zudeckten, abenteuerlich zu werden.

Man versicherte uns einen gefahrlosen Ausflug in die Schlucht mit hängenden Stahlkonstruktionen, die einem einen spektakulären Blick ins tobende Wasser ermöglichen. Die grossen Wasser seien in den südlicheren Tälern übers Wallis hineingebrochen. Bilder von Zermatt schienen mit einem Mal etwas in die Ferne zu rücken.

Rebekka Salm las während des Spaziergangs zweimal aus ihrem zweiten Roman „Wie der Hase läuft“ und begeisterte dabei nicht nur mit ihrer Geschichte um Familiengeheimnisse, sondern auch mit dem Witz in ihrer Sprache und der Souveränität ihres Auftretens. Rebekka Salm spickte ihre Lesungen mit Anekdoten und der Frage in die Runde, ob wir denn alle sicher seien, dass das uns Erzählte in unseren Familien denn wirklich der Wahrheit entspreche. Dass Alex Capus, als er Rebekka Salms Erstling „Die Dinge beim Namen“ gelesen hatte, meinte „Die Schweiz hat eine neue Erzählerin“ ist mehr als bloss Feststellung.

Wie sehr Leukerbad nicht nur von landschaftlichen oder architektonischen Gegensätzen dominiert wird, sondern in diesen Tagen auch von literarischen, sprachlichen, schien bei diesem Spaziergang für einmal ausgeblendet. Ein Spaziergang vorbei an blühenden Alpwiesen, gemächlich wiederkäuenden, schwarzen Eringer-Kühen, die bloss mit ihren ausgeprägten Hörnen daran erinnern, dass man sie jedes Frühjahr in fünf Gewichtsklassen gegeneinander kämpfen lässt, hoch über die schäumende Dala, die seit Jahrtausenden die Felswände in dieser Talenge ausschleift.

Noch am gleichen Tag begegnen mir auf den betonierten Wegen im vom Geschäft mit Touristen kaputtgebauten Dorf eine blondierte Spaziergängerin mit Regenschirm und Hund. Das Tier ist bis auf die Pfoten in eine Pellerine eingepackt und schaut mich durch einen plastivizierten Seeschlitz an, als würde er um Befreiung betteln. Einige Meter weiter schiesst ein paar Armlängen vor mir ein Rehbock aus der Baubrache eines seit Jahren abgesperrten Geländes über den Weg, springt in eleganten Sätzen über den Weg hinein in eine andere Brache, auf der sich mitten im Dorf das Dickicht eines Jungwäldchens ausbreitet.

Das Internationale Literaturfestival Leukerbad ist für mich deshalb ein Fixpunkt in meinem Terminkalender, weil ich hier Autorinnen und Autoren antreffe, die längst zu Fixsternen des Literaturbetriebs geworden sind, wie Anne Weber, Frank Witzel, Teju Cole, Marlene Streeruwitz oder Thomas Hettche neben Geheimtipps wie Douna Loup oder Rebecca Gisler. Leukerbad wird während dieser Tage zu einem Mekka des Wortes, zu einer Stätte, an der man angesichts der globalen Ungeheuerlichkeiten nach Sprache ringt.

Vielleicht verändern wir uns nur in der Bewegung – eine literarische Wanderung mit Anne Weber und Lorena Simmel

Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.

Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.

Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.

Lorena Simmel liest aus «Ferymont», Verbrecher Verlag

In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der  «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!

Anne Weber mit «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.

Zum 46. Mal Literatur total!

So sehr sich engagierte LeserInnen auf diese Tage in Solothurn freuen, so sehr ist ihr Stellenwert in der Literaturszene Schweiz eine übersteigerte. Die Solothurner Literaturtage, das Highlight für die einen, die marktiefe Enttäuschung für die anderen.

Kein literarisches Ereignis in der Schweiz kann und will den Solothurner Literaturtagen das Wasser reichen. Nirgends ist der Publikumsanmarsch grösser, auch dieses Jahr mit Rekordzahlen. Kein Literaturfestival in der Schweiz generiert mehr Aufmerksamkeit. Nur die Solothurner Literaturtage schaffen es, selbst Radio SRF mit einem eigentlichen Begleitprogramm an ihre Seite zu binden. Das ist gut so und tut der Literatur gut, erst recht jenen ausgesuchten AutorInnen, die in der kleinen, zum Radiostudio umgestalteten Weinbar an der Aare mit einem grossen Publikum beglückt werden. Umso grösser die Enttäuschung jener, die von der Programmkommission nicht eingeladen werden. Eine Enttäuschung, die bis zur Frustration auswachsen, nie versiegenden Schmerz auslösen kann.

Die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata auf der grossen Bühne

Was für Lesende, Bücherbegeisterte und FeinschmeckerInnen zum tagelangen Festmal wird, zu einem Tempel der Offenbarungen, einem Schnittpunkt vieler Begegnungen, einem Hort neuer Hoffnungen, ist für andere der Beweis für Ignoranz und unverständliche Verirrung. Sie waren da, die grossen Namen und enttäuschten nicht, Anne Weber, die den Solothurner Literaturpreis erhielt, Klaus Merz, den man mit dem Schweizer Literaturpreis auszeichnete oder die grosse japanische Schriftstellerin Sayaka Murata, die mit ihrem Erzählband „Zeremonie des Lebens“ gleichermassen entzückt wie verunsichert. Und auch die Namen, die überraschten, die zu entdecken waren, wie Elvira Dones, die in ihren Romanen mit starken Bildern tief ins Mark brennt oder Levin Westermann, der mit seinem Prosadebüt auf langen, räumlichen und literarischen Spaziergängen den menschgemachten Veränderungen nachgeht.

Klaus März lässt sich im Stadttheater Solothurn feiern.

Ich war drei Tage in einem Rausch und danke all den nicht Beklatschten für ihren grossen Einsatz und den Hochgenuss an Wortkunst. Perfekt organisiert, mit erneutem Wetterglück und gestärkter Hoffnung auf eine Zukunft mit gedrucktem Buch, waren die Literaturtage, bei denen grosse Experimente ausblieben, ein Abbild dessen, was die Welt bewegen muss. Erstaunlicherweise ohne Demonstration, mit einer einzigen Ausnahme. Erstaunlicherweise aber auch ohne Repräsentanten der nationalen Politik. Erstaunlicherweise auch ohne ernstzunehmende Konfrontationen auf der Bühne.

Ariane Koch, Theres Roth-Hunkeler mit Miderator Lucas Marco Gisi im Gespräch

Einmal sass ich für eine Pause vor dem Restaurant Kreuz, dem Geburtsort der Solothurner Literaturtage. Bei einem Glas Weisswein sah ich so viel junge BesucherInnen wie noch nie. Zumindest war das mein Eindruck, ist doch die Frage, wie man junges Publikum lockt, bei literarischen Veranstaltungen allgegenwärtig. Sie sind da. Sie mischen sich ein, ob im Publikum oder im Rampenlicht. Das macht Hoffnung! Zumal sich das Urgestein der Schweizer Literatur, Peter Bichsel, nur noch punktuell am Festival zeigt. Solothurn lebt! Die Literatur gedeiht! Auch wenn da die eine oder der andere sich schwertut, die bittere Pille zu verdauen.

Pedro Lenz füllt an der „offenen Bühne“ die Treppe zur Kathedrale bis zum letzten Platz.

Die nächsten Solothurner Literaturtage finden vom 30. Mai bis 1. Juni 2025 statt. Keine Frage, ich komm wieder!

Beitragsbilder @ fotomtina

53. Rauriser Literaturtage April 2024 – ein Bücherfest der Extraklasse!

Das Rauristal, eine Bahnstunde südlich von Salzburg, ist zwischen Ski- und Wandersaison ein stilles Tal. Und manch eine Lokalität ist für immer verrammelt, es wächst Gras aus den Parkplätzen, weil man einst von Grossem träumte. Das Rauristal ist ein geschlossenes Tal, ein Tal ohne Durchgangsverkehr, ein Sackgasstal. Aber ganz bestimmt nicht in jener Vorfrühlingswoche, in der jeweils die Rauriser Literaturtage stattfinden, in denen Winde aus nah und fern durchs Tal wehen, in denen sich das Tal auftut, der Horizont selbst dann aufbricht, wenn man sich in geschlossenen Räumen aufhält.

Als die Rauriser Literaturtage vor 53 Jahren gegründet wurden, waren Festivals wie dieses alles andere als selbstverständlich. Aber das Publikum schien begierig darauf gewartet zu haben. Und weil bei seiner ersten Durchführung 1971 schon Thomas Bernhard Gast an den Rauriser Literaturtagen war, im Jahr zuvor als Georg-Büchner-Preisträger gekürt, begann ein Festival zu strahlen, das bis heute nichts von seinem Glanz eingebüst hat, ganz im Gegenteil. Rauris ist mit seinen Literaturtagen gewachsen und das Festival im Rauristal.

Seit ein paar Jahren geben sich die Literaturtage ein Thema, heuer „Geschichten vom Zusammenleben“. Ein Thema, das sich angesichts der Probleme und Miseren, die sich uns stellen, mehr als aufdrängt. Ein Thema, das von der Literatur vielfach intensiv beackert wird. Ein Thema, mit dem die Literatur in Tiefen zu leuchten vermag, die sich den Überdrüssigen verschliessen. Texte stellen sich einem Publikum und stellen das Publikum. Sie beantworten keine Fragen, offenbaren keine Lösungen. Aber Literatur stellt präzise Fragen, deckt auf, entschlüsselt, sucht Form, wo sonst pure Sprachlosigkeit grassiert.

Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschliesst: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“ Jurybegründung zum Rauriser Literaturpreis 2024 für Matthias Grubers Debüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“.

Mobilmachung“ von Margit Schreiner: Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Amir Gudarzi auf der Heimalm in Zusammenarbeit mit dem Literaturforum Leselampe, Moderation: Magdalena Stieb

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A., mit Sicherheit seine Geschichte, aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Vertriebener und Verlorener. Die Geschichten jener, denen man überall begegnet; auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen.

Gianna Molinari im Gespräch mit StudentInnen der Universität Klagenfurt

Gianna Molinaris Roman „Hinter der Hecke die Welt“ erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist die Autorin nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei den LeserInnen. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt. Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Sabine Gruber beschreibt in «Die Dauer der Liebe» eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Jan Wagner zusammen mit StudentInnen der Universität Wien

Jan Wagner las aus seinem Gedichtband „Steine & Erden“ über das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere. Jan Wagner greift auf, verfremdet und erzählt dadurch Grosses über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form.

Robert Prosser zusammen mit Lan Sticker bei einer Rauriser Hauslesung

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ ist viel mehr als ein Lawinenroman. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als der Protagonist bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer
Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer

Milena Michiko Flašar reisst in „Oben Erde, unten Himmel“ eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin beschreibt mit grosser Nähe und aller verfügbaren Liebe für menschliche Eigenheiten, derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfrontiert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Das sind nur einige wenige Höhepunkte. Ich danke den OrganisatorInnen, dem grossen Team für ein äusserst gelungenes Festival!

Beitragsbilder © David Sailer IMAGES

20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

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Fotos © Samuel Bramley