Sprachsalz: Vladimir Sorokin » Manaraga Tagebuch eines Meisterkochs», Kiepenheuer & Witsch

2037: Das Weltgefüge hat sich nach globalen Kriegen verändert, der Kampf für Gottesstaaten ohne Ende, die Lust nach Zerstreuung ohne Ende und Bücher bloss noch Brennmaterial für ausgefallene Gastronomie der Superreichen und ewig Gelangweilten. Vladimir Sorokin schrieb eine Mischung aus Dystopie und Satire, einen Roman, der vor Witz und Seitenhieben sprüht, das Tagebuch eines von sich selbst Gefangenen.

Vladimir Sorokin erschien nicht – krank. Aber weil ich mich als Leser seiner Bücher lesend auf den Abend an den Sprachsalz Literaturtagen in Hall vorbereitete, veröffentliche ich meine Leseeindrücke als Referenz an den Abwesenden, nur schon als Respektbezeugung davor, dass da einer im Sprachenkampf gegen einen totalitär-autoritären Herrscher respektlos ehrlich bleibt.

Chefkoch Géza hetzt mit seinem Koffer von kulinarischem Hotspot zu Hotspot. Schaschlik vom Stör auf dem Idioten, Hammelschulter auf Don Quichotte oder Thunfischsteak auf Moby Dick. Géza ist Meisterkoch für Book ’n’ Grill, jettet von Kontinent zu Kontinent, kassiert für ein Kunststück, eine „Lesung“ auf einem Grill gerne 10000 Pfund. Wirklich gelesen wird schon lange nicht mehr. Ist auch gar nicht notwendig, denn wer die nötigen flüssigen Mittel zur Verfügung hat, leistet sich elektronische Flöhe, die in den Ohren eingelassen flüstern, was wissenswert ist, selbstredend auch das, was in Büchern steckt. Mit der weltweiten Cloud vernetzt scannen die kleinen Dinger im Kopf alles ab, antworten auf Gedanken, kommunizieren gar. Géza braucht daher auch keine Freunde mehr, allerhöchstens die eine oder andere weibliche Haut, wenn nicht real, so doch zumindest per Order als Traum in seinen Kopf. 

Bücher werden keine mehr gedruckt, höchstens Banknoten. Und weil man dem illegalen Genuss der Reichen einen Riegel schieben will, weil die Bibliotheken auf der ganzen Welt gerupft werden, steigen die Preise für Nachtigallen auf Puschkin, Pferdenüsse auf Majakowski oder Kalbsnüstern auf Pasternak ins Unermessliche, nicht zuletzt für die Kosten derer, die auch nicht vor Blut zurückschrecken, um an die Erstausgaben zu kommen. Géza ist stolz und selbstbewusst, schimpft jene Naiven, die glauben für seine Kunst brauche es keine besonderen Fähigkeiten, „jeder halbwegs versierte Koch könne ein Steak auf den Nackten und den Toten braten“.

Aber seine Welt wankt, als er durch einen verschlüsselten Code zu einer Sondersitzung der obersten Gilde der Edelköche gerufen wird, an irgend einen verborgenen Ort der Welt, geschützt von bis an die Zähne bewaffneten Securityleuten. Die Gilde ist bedroht, den kopierte Massenware bedroht das millionenschwere Geschäft, den sicheren Platz in der Welt der Uperclass. Am Berg Manaraga baut ein Abtrünniger eine gigantische Maschine, mit der sich hunderte absolut identische Einzelstücke unbegrenzt vervielfältigen lassen. Und weil der Gilde alle erdenklichen Mittel zur Verfügung stehen, soll Géza als Auserwählter zusammen mit einem Sonderkommando zum grossen Schlag ausholen.

Vladimir Sorokin spielt mit Sprache, Geschichte, Zukunftsängsten und all dem, was schon in der Gegenwart schräge Züge entwickelt. Genuss ist alles, das Leben ein Spielplatz. Kunst ist Spektakel, die Literatur nur noch die Glut für Fleischeslust. Da taucht im Roman auch mehrfach Tolstoi auf, der dem Original zum Verwechseln ähnlich sieht, einmal riesengross mit einem kleinen Mammut in seinem Gepäck oder in Originalgrösse auf einem Schloss mit Frau, Tochter und einem eben erst fertig geschriebenen Manuskript, das für Möhrenfrikadellen herhalten muss. Überhaupt ist der Roman ein Schaulaufen verquerer Figuren und Szenerien, voller Anspielungen, Metaphern und Seitenhieben, nicht zuletzt gegen die postsowjetische Literatur.

Ein grossartiges Literaturspektakel über Literaturspektakel der besonderen Art. Aber kein Buch für „Geschichtenverliebte“- eben ein Tagebuch.

© Maria Sorokina

Vladimir Sorokin, geboren 1955, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie «Die Schlange», «Marinas dreißigste Liebe», «Der himmelblaue Speck» und zuletzt «Der Tag des Opritschniks», «Der Zuckerkreml» und «Der Schneesturm». Zuletzt erschien von ihm der große polyphone Roman «Telluria». Sorokin ist einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands und sieht sich regelmäßig heftigen Angriffen regimetreuer Gruppen ausgesetzt.

«Sprachsalz» Internationale Literaturtage Hall im Tirol mit literaturblatt.ch

Die AutorInnen der 17. Auflage der Internationalen Literaturtage Sprachsalz (6. – 8. September 2019) erzählen von monströsen Realitäten, über das leise Unglück, aussergewöhnliche Freundschaften und zeigen ein berauschendes Panoptikum unserer Wirklichkeit: Neben Vladimir Sorokin, Elke Heidenreich, Zoltán Danyi, Philipp Weiss, Durian Sukegawa, Lorenz Langenegger und Marie Modiano kann man sich auf viele weitere internationale literarische Stimmen freuen.

Zu Gast ist in diesem Jahr Vladimir Sorokin, der seine Kritik am politischen System Russlands mit den Mitteln der Satire in Erzählungen über irrwitzige und oft dystopische Welten übersetzt. Sein aktueller Roman „Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs» (Kiepenheuer & Witsch) ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, dessen Angriffen der russische Schriftsteller und Dramatiker selbst bereits ausgesetzt war. (Eine Rezension auf literaturblatt.ch folgt.)

Dass Krieg für die Betroffenen nie enden kann, stellt der Autor Zoltán Danyi, Angehöriger der ungarischen Minderheit in Serbien, in seinem zorniger Romanerstling „Der Kadaverräumer“ (Suhrkamp) eindrucksvoll unter Beweis.
Wer ist dieser Erzähler, der in einem reißenden Redestrom zwischen den traumatischen Schauplätzen seines Lebens hin und her taumelt? Ist er Opfer, Täter? Oder einfach Überlebender des Jugoslawienkrieges?

Philipp Weiss – Rauriser Literaturpreisträger 2019 – macht in seinem umjubelten fünfbändigen Romandebüt über Fortschritt und die drohende Selbstzerstörung der Menschheit die Komplexität der Welt, in der wir leben, erzählbar. Fünf Bücher, eine Enzyklopädie, eine Erzählung, ein Notizheft, eine Audiotranskription und ein Comic (jener gezeichnet von Raffaela Schöbitz). Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (Suhrkamp) heisst das Panoptikum, das Konvolut an Texten, Illustrationen, Berichten, Zeichnungen. 1000 Seiten, von denen der Autor Philipp Weiss meint, es gäbe keinen Anfang, an dem man mit der Lektüre beginnen müsse, weder eine chronologische, oder sonst logische Linie, der man folgen müsse. „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ ist eine literarische Welt, in die man abtauchen kann, die übersprudelt von Ideen, Querverweisen, sprachlicher Vielfalt, Überraschungen und optischem Genuss.

Die literarischen Miniaturen „Alles kein Zufall“ (Hanser) der Schriftstellerin, Literaturkritikerin, Kabarettistin und Journalistin Elke Heidenreich sind eine Liebeserklärung an das Leben mit all seiner Tragik und Schönheit und amüsante und kluge, traurige und komische Geschichten, in denen man sich wiedererkennen kann – und die dann zusammenwachsen zu einem einzigen Roman jedes unwiederholbaren Lebens

In seinem küchenphilosophischen Roman „Kirschblüten und rote Bohnen“ (Dumont) erzählt der japanische Schriftsteller, Schauspieler, Punkmusiker und Moderator Durian Sukegawa die Geschichte einer besonderen Freundschaft und über den Glauben an die kleinen Dinge des Lebens – melancholisch, ohne sentimental zu werden, berührend, ohne kitschig zu sein. In Kooperation mit dem Leokino Innsbruck ist die gleichnamige preisgekrönte Verfilmung von Naomi Kawase im Rahmen des Festivals zu sehen.

In seinem im August erscheinenden „Jahr ohne Winter“ (Jung und Jung) begleitet der in Wien lebende Schweizer Autor Lorenz Langenegger seinen liebenswerten Alltagshelden Jakob Walter erneut bei einem Abenteuer wider Willen, das ihn diesmal nach Australien führt: Einmal mehr ein feinsinniger Roman mit präzisem Blick für kleine Risse im zwischenmenschlichen Glück.

Die französische Singer-Songwriterin und Autorin Marie Modiano liest aus ihrem bildgewaltigen Reisebuch „Ende der Spielzeit“ (Edition Blau, Rotpunkt) über ein Leben, das aus den Fugen geriet: Sie verwebt in ihrem autofiktionalen Roman das unbehauste Dasein einer jungen Künstlerin, die erstmals die Härten des Theaterbetriebs zu spüren bekommt, mit dem Widerhall einer frühen, tiefen Liebe. (Rezension auf literaturblatt.ch)

21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch