Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv

Im Sommer 2009 gingen im Iran Millionen wütender DemonstrantInnen auf die Strassen. Dutzende Menschen kamen um, die Bilder in den Sozialen Netzwerken erschütterten die ganze Welt. «Die grüne Welle» nannte sich jenes laute Aufbegehren, dass das iranische Mullahregime ins Wanken brachte. Das Debüt «Das Ende ist nah» von Amir Gudarzi ist eine literarische Auseinandersetzung.

Als im Nachgang zu den iranischen Präsidentsschaftswahlen, bei der der amtierende Mahmud Ahmadineschād zum Sieger erklärt wurde, eine Welle des Aufruhrs durch das Land schwappte und man sich durch grüne Stirn- oder Armbänder als GegenerIn einer Diktatur solidarisierte, war Amir Gudarzi ein junger Student. Diese grüne Bewegung gipfelte in riesigen Demonstrationen, gegen die die bedrohte Zentralmacht nur mit äusserster Härte und Brutaltät zu reagieren wusste. Unzählige Menschen verschwanden für Jahre in den überfüllten Gefängnissen des Landes, viele starben, wurden während der Proteste getötet oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt. An Kränen baumelnde Hingerichtete sollten zur abschreckenden Normalität werden.

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A. Dass er seinen eigenen Namen, seine eigene Fluchtgeschichte durch einen einzigen Buchstaben mit Punkt verallgemeinert, ist verständlich und erleichterte wahrscheinlich schon den Schreibprozess. Amir Gudarzi wollte mit Sicherheit seine Geschichte erzählen. Aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Verlorener. Die Geschichter jener, denen ich überall begegne, auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt.

Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv, 2023, 416 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-423-29034-0

Klar braucht es diese Bücher, auch wenn sie nicht von jenen gelesen werden, die den Geflohenen wie einer ansteckenden Krankheit begegnen, mit Angst, Ekel und maximaler Ablehnung. Es braucht diese Bücher als Zeugnis, auch wenn Menschen wie Amir Gudarzi die Ausnahme bleiben, weil sie es irgendwann irgendwie doch schaffen, Amir Gudarzi als Theaterautor und nun auch als Schriftsteller. Weil Menschen wie er, die nach all den Strapazen der Flucht, der Anfeindungen, des Misstrauens, der Willkür und des Unverständnisses, schaffen, einen Schuh Glück herauszuziehen. Neben all jenen, die schon auf der Flucht liegenbleiben, die in ihrer Verzweiflung untergehen, die nie die Chance haben, aus dem einst mit Hoffnung begonnenen Leben das zu machen, was möglich gewesen wäre, die weitergeschoben, zurückgeschafft, gnadenlos ausgenützt oder in all den Ungerechtigkeiten zerrieben werden.

Ich las das Buch nicht seiner Sprache wegen, auch wenn ich dem Autor viel Können zugestehe. Ich las das Buch, um mir vor Augen zu führen, was sonst nur im Verborgenen bleibt. A. flieht über die Türkei nach Österreich, wo er hängen bleibt, in ein keines Kaff abgeschoben wird, zusammen mit Afganen und Kurden, lauter Männern, die sich in ihrem Kampf ums Überleben, in ihren gestauten Emotionen und der Hoffnungslosigkeit einer Existenz, die sich ganz aufs Warten reduziert und kaum von dem unterscheidet, was sie in ihren Ursprungsländern zurückgelassen hatten. Amir aus einem Elternhaus mit streng patriarchalischen Strukturen, eine Gesellschaft in Traditionen und zementierten Wertvorstellungen gefangen, einer Politik, die einem den Atem nimmt, einer gestohlenen Zukunft. Was ihn in Österreich empfängt, ist endlose Bürokratie, offener Fremdenhass, maximale Abgrenzung und grenzenloses Misstrauen. 

„Das Ende ist nah“ ist als Titel vieldeutig. Amir Gudarzi erzählt vielperspektivisch, nicht zuletzt aus der Warte von Sarah, einer jungen Frau, die sich in A. verliebt, eigentlich nur helfen will, sich aber verliert. Eine Beziehung, die von rauschhafter Leidenschaft bis selbstzerstörerischer Verirrung alles in sich birgt. Amir Gudarzi schont mich als Leser mit nichts. Es legt sich ein Schauer aus Betroffenheit und Peinlichkeit über mich. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen. Wie viel schwerer muss es für Amir Gudarzi selber sein, auch wenn man ihm an Lesungen freundlich applaudiert.

„Das Ende ist nah“ ist Zeugnis, Klage und Anklage gleichermassen.

Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging auf die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. Seit 2009 lebt er im Exil in Wien, wo er als vielfach ausgezeichneter (inzwischen) österreichischer Dramatiker und Autor arbeitet. 2021 war er Stipendiat im Literarischen Colloquium in Berlin und erhielt den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, 2022 wurden ihm der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen und der Christian-Dietrich-Grabbe-Preis verliehen, in der Spielzeit 2023/24 ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim. «Das Ende ist nah» ist sein erster Roman.

Beitragsbild © Jürgen Pletterbauer