Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau

am 22. April Gast im Literaturhaus Thurgau

Was und wie Bettina Scheiflinger schreibt und erzählt, beeindruckt sehr. Ihr Debüt „Erbgut“ überzeugt durch aussergewöhnliche Reife, durch Mut und hätte es in den vergangenen Monaten verdient, einiges an Beachtung mehr zu bekommen. Mit der Einladung der Autorin ins Literaturhaus Thurgau verneigt sich der Schreibende vor der Autorin.

Ernstzunehmende Untersuchungen erklären, dass jedes Leben genetisch vorbelastet ist durch die Generationen davor. Auch wenn man solchen Aussagen gegenüber kritisch bleibt, wird es einleuchtend, wenn man zugestehen muss, dass traumatisierte Menschen, die eine Familie gründen, ihre Erlebnisse bei der Erziehung nicht einfach ausblenden können. Es ist nicht möglich, in einem neuen Leben einfach bei Null zu beginnen. All das, was sich in die Jahrringe eines Menschenlebens einfrisst, was sich als dunkle Schatten in den Seelen ablagert, was im Untergrund modert, wirkt im Tun – oder auch im Unterlassen. Dass sich Bettina Scheiflinger schon mit dem Titel ihres Erstlings unzweifelhaft in dieses Thema hineinzuwagen versucht und dabei alles andere als scheitert, ist beeindruckend. Schon der Titel selbst – „Erbgut“ – offenbart die Vielschichtigkeit des Wortes selbst. Was sich als Erbe von Generation zu Generation weitergibt, ist nicht immer ein Gut, aus dem die nächste Generation schöpfen kann. Beispiele aus der Geschichte gibt es viele. Was heute in Israel passiert, ist in vielem mit Sicherheit mit dem kollektiven Traumata mehrerer Generationen zu erklären, die in der Folge von Judenverfolgung und -vernichtung millionenfach Leben zerstörte.

Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-218-01329-1

Bettina Scheiflingers Roman erzählt aber keine grossen geschichtlichen Zusammenhänge, auch wenn die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Roman spielen. Die Erzählstimme ist eine junge Frau, zwischen einer schweizerischen Kleinstadt, Wien und einem Dorf, einem Haus in Kärnten. Die junge Frau löst sich gegen den Willen der Eltern aus der fürsorglichen Umklammerung ihrer Familie und zieht nach Wien. Sie ist allein, hat Arbeit, bleibt länger, hadert mit sich und ihrer Vergangenheit. Sie weiss, dass in der Familie Sperrzonen eingerichtet wurden, dass es Dinge gibt, die ausgeschwiegen werden, sei es in der Geschichte ihrer Mutter oder in der ihres Vaters. Selbst die gemeinsame Geschichte ihrer Eltern ist nicht jene, die an der Fassade präsentiert wird. Die junge Frau stolpert, schwankt und taumelt, selbst als sie schwanger wird und in einer Klinik ein Kind zur Welt bringt.

Ein weiteres Qualitätszeichen des Romans ist, dass sich Bettina Scheiflinger keines billigen Erzähltricks bedient. Da sind keine Briefe im Dachboden, kein Geständnis einer Grossmutter, kein Tagebuch. Bettina Scheiflinger erzählt in einzelnen Bildern, die sich erst während der Lektüre zu einem ungefähren Ganzen zusammenfügen. Aber schon diese einzelnen Bilder haben es in sich. Sie sind von einer derartigen Intensität, dass sie wie Selbsterlebtes in der Erinnerung bleiben. Da sitzt Arno, der Vater der Erzählerin, als Halbwüchsiger auf einem Baum und weigert sich selbst in der Nacht herunterzukommen. Sein Vater hat ihn wegen einer Nichtigkeit windelweich geschlagen. Die Mutter droht, die Schwester fleht. Aber Arno bleibt. Am nächsten Tag ringt er seiner Mutter das Versprechen ab, dass es nie wieder soweit kommen darf. Ein anderes Beispiel: Johanna, die Grossmutter der Erzählerin, die auf einem Hof mit Wirtshaus in Kärnten lebt, muss während des Krieges miterleben, wie Partisanen ihre Eltern aus dem Haus zerren und verschleppen. Franz, ihr Vater, ist Nationalsozialist. (Vielleicht ist mir diese Binnengeschichte auch deshalb so in die Kniekehlen gefahren, weil sich das immer Gleiche in der Geschichte wiederholt.)

Bettina Scheiflinger wollte kein chronologisch, stringentes Erzählen. So wie Ablagerungen, sich das Erbgut toxisch auffüllt, so erzählt Bettina Scheiflinger. Sie erzählt vom grossen Schweigen in der Familie, all den Auslassungen, die alles andere als klären. Von den Ängsten, nicht zu genügen, den Traumatas einer Kindheit, wenn Gewalt und Einsamkeit, das Gefühl von Verlassenheit, die Angst vor Verlust das eigene Tun dominieren. Wenn man sich nicht befreien kann. Wenn man im Niemandsland hängen bleibt.

Ich bin mir sicher; Da beginnt Vielversprechendes!

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 

Webseite der Autorin

Fünf Fragen an Gallus Frei, Intendant Literaturhaus Thurgau

Schreibwerk Ost: Lieber Gallus, die für unsere Leser:innen wichtigste Frage zuerst: Wie kommt man als Neuling im Betrieb zu einer Lesung in einem Literaturhaus – welche Wege empfehlen sich aus deiner Sicht?

Gallus Frei: Es gibt bei mir nur zwei Wege. Irgendwann liegt das Buch auf meinem Tisch. Ich beginne aus irgendeinem Grund gerade dieses zu lesen und weiss schon während der Lektüre, dass genau dieses für eine Veranstaltung auf der Bühne des Literaturhauses perfekt wäre. Die Geschichte, das Thema, die Konstruktion, die Sprache, das literarische Abenteuer. Letztlich alles ziemlich subjektive Gründe, warum ich genau jene Personen anspreche.

Zudem kenne ich von meinen Erfahrungen als Besucher aller möglichen Veranstaltungen auch die „Wirksamkeit“ vieler Schreibenden, ihre Authentizität, ihre Begeisterungsfähigkeit. So kenne ich einige, die ich niemals mit mir auf der Bühne haben möchte. (Beispiele nenne ich keine!)

Der zweiter Weg: langjährige „Treue“. Ein Beispiel: Ich lese schon lange und mit grosser Freude Prosa und Lyrik von Lisa Elsässer. Somit war es mir wichtig, sie irgendwann nach Gottlieben zu bringen, ob man sie nun kennt oder nicht. Im Sommer 2023 wird es soweit sein. Ich freue mich schon jetzt. Es wird ein Fest!

Du bist ein bekennender Fan der Schweizer Literatur, kaum jemand, der so viele und so systematisch Schweizer Autor:innen liest wie du. Wie kam es zu dieser Liebe?

Ich war als Kind kein Leser, bekam wohl immer wieder mal zu Weihnachten ein Buch geschenkt, das dann aber meist im Regal ungelesen verstaubte. Erst während meiner Lehrerausbildung mahnte mich mein Deutschlehrer und Seminardirektor, Lesen gehöre zur Welt eines Lehrers. Da ich ihm in meiner Hilflosigkeit entgegnete, ich hätte keine Ahnung, womit ich beginnen sollte, nahm er ein A3-Papier, zeichnete mit seinem Füller die Umrisse der Schweiz und die wichtigsten Seen und schrieb in diese rudimentäre Karte 5 Namen. In meiner Erinnerung waren es Kurt Guggenheim, Robert Walser, C. F. Ramuz, Jacques Chessex und Ruth Blum. „Wenn du von jedem dieser fünf eines gelesen hast, dann komm zu mir und berichte.“

Da die meisten Bücher dieser Autor:innen nur in Antiquariaten für einen Studenten bezahlbar waren, wurde schon die Beschaffung zum Abenteuer.

Aber: Ich tat es, hatte viel mehr als nur fünf gelesen und bekam wieder fünf neue Namen für meine Reise in ein unbekanntes Land. Mit der Leidenschaft kam die Liebe.

Seit 2020 zeichnest du für das Programm des Literaturhauses des Kantons Thurgau verantwortlich. Dabei fällt auf, dass du ganz unterschiedliche Formate aufnimmst und nicht mehr nur reine «Wasserglas-Lesungen» auf die Bühne holst. Ist das deiner persönlichen Neugier geschuldet – oder wie kommt es zu dieser neuen Vielfalt?

Das ist eine Entwicklung, die an Festivals schon lange begonnen hat. Lesen kann man doch eigentlich selber. Und von vielen Autor:innen gibt es Hörbücher. Warum also macht man sich auf den Weg, verlässt die geheizte Stube, setzt sich in den Zug?
Weil man sich von einer Lesung etwas verspricht, was nur die persönliche Begegnung schenken kann. Zumindest geht es mir so. Und ich bezeichne mich als den idealen Besucher jeglicher literarischer Experimente.
Noch immer geistert die Meinung in vielen Köpfen, Lesungen seien verkopft, elitär, vergeistigt, trocken, langweilig und einschläfernd. Das geschieht zuweilen, nicht anders bei Musik oder im Kino.

Ich liebe „Wasserglaslesungen“, wenn sie das Gespräch nicht ausschliessen, wenn sich die Moderation nicht zu wichtig nimmt. Aber ich liebe auch das Experimentelle, die Überraschung, das Zusammenführen verschiedener Kunstsparten.

Noch viel wichtiger ist für mich der Fokus auf jene Literatur, die nicht zuvorderst auf den Bestsellerlisten fungiert. Nicht, dass ich jenen Namen aus dem Weg gehen müsste. Aber das grösste Kompliment für mich als Veranstalter ist das Echo der Besucherin, die mir für eine Neuentdeckung dankt.

Ab 2023 arbeitest du neu zusammen mit Monika Fischer – wie stellt man sich so eine Zusammenarbeit vor? Was läuft da alles hinter den Kulissen eines Literaturhauses?

Brigitte Conrad war über zwei Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt im Literaturhaus. Sie kannte alles und jede:n, war absolut zuverlässig, ein Fels in der Brandung. Ich bin der Überzeugung, dass kaum jemand weiss, wie viel Brigitte Conrad für dieses Haus geleistet hat. Und damit nicht nur für das Haus, sondern für die Literatur eines ganzen Sprachraums.

Intendanzen im Literaturhaus Thurgau dauerten in der Regel drei Jahre. In 22 Jahren ein Kommen und Gehen. Die Arbeit des Sekretariats bedeutete Konstanz. Dafür gebührt Brigitte Conrad grosser Dank.
Dass mit Monika Fischer nun eine neue, initiative Kraft ins kleine Bötchen genommen wird, ist gut und vielversprechend, denn Monika Fischer bringt einiges an Erfahrung mit.
Die Aufgabenteilung zwischen Intendanz und Sekretariat ist genau geregelt. Folglich bin ich äusserst zuversichtlich. Es wird viel gearbeitet hinter den Kulissen des Literaturhauses, sehr viel. Und wie überall in der Kultur nicht des Geldes wegen! Literatur ist Leidenschaft.

Gottlieben am Seerhein ist geografisch betrachtet nicht gerade am Weg – wieso lohnt es sich, ausgerechnet in dieses Literaturhaus zu pilgern? Bitte nenne uns genau drei Gründe.

1. Stolz: Dass der Kanton Thurgau mit einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal 4 Prozent ein eigenes Literaturhaus führt, ist schon Sensation genug. Fast gleichzeitig gegründet wie jene in Zürich und Basel. 2004 kam das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg dazu, 2012 das Maison de Rousseau et de la Littérature (MRL) in Genf, 2014 das Zentralschweizer Literaturhaus in Stans und seit 2019 im Aufbau das Literaturhaus Wyborada in St. Gallen.

2. Liebe: Ich kenne viele Literaturhäuser im In- und Ausland. Keines versprüht derart viel Charme und Liebreiz wie das Literaturhaus Thurgau. Dazu gehört nicht nur das Haus. Auch der Ort Gottlieben am Seerhein. Ein Geburtstagswunsch des Dichters Klaus Merz zum 20jährigen Jubiläum bringt es auf den Punkt:

Frommer Wunsch (Haiku)
Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!

3. Leidenschaft: Literaturhäuser sind Begegnungsorte, literarische Brutstätten. Unverständlich genug, wie selten Schreibende bei den Lauschenden sind! (Michèle Minelli, Peter Höner und Zsuzsanna Gahse ausgenommen!)
Neben der Vielfalt an Veranstaltungen laden solche zum Austausch, zu Gesprächen ein. Im Literaturhaus wird aber auch geschrieben, Neues geschaffen. Ich weiss von einem Autor, der in den drei Nächten, die er dort in der Gästewohnung verbrachte, einen neuen Roman zu schreiben begann. Ich weiss von anderen Autoren, die regelmässig im Haus schreiben und eben diese Mauern brauchen, um dem Geschriebenen den letzten Schliff zu geben. Und im Erdgeschoss führt Sandra Merten eine Buchbinderei, die jedem Büchermenschen das Herz höher schlagen lässt.

Das 61. Literaturblatt entsteht.

„Das Blatt macht mich platt.“ Christian Futscher

„Es ist ganz ausserordentlich, was Gallus Frei seit Jahr und Tag in Bezug auf die Literatur leistet! Ihm haftet dabei nichts Dünkelhaftes an, es geht ihm weder um die „verwöhnten“, vom Kulturbetrieb gehätschelte Namen, noch schliesst er sich den gängigen „Nachschreibgepflogenheiten“ an, die heute die Feuilletons auszeichnen! Unerschütterlich folgt er seiner persönlichen Wahrnehmung, seinem klugen Literaturwissen, dem subtilsten Empfinden, das auch die ansonsten leider öfters übergangenen „Perlen“ in den Fokus zu rücken weiss! Mit Hochachtung und Dankbarkeit für diesen doch sehr rar gewordenen Mut!“ Lisa Elsässer

Wer das analoge Literaturblatt abonniert, unterstützt die Literatur. Die Einnahmen durch die Beiträge der AbonnentInnen sind meine einzige «regelmässige» Einnahmequelle, Einnahmen, die die Kosten für meinen Aufwand wenigstens etwas abfedern und mit jenes Engagement erlauben, das ich im Dienst der Literatur mit aller zur Verfügung stehender Leidenschaft aufwende.

Herzlichen Dank all jenen, die mit zum Teil schon seit einem Jahrzehnt ihre Treue halten!

„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben: (neu)
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH05 8080 8002 7947 0833 6
ID (BC-Nr.): 80808
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar prominenter Abonnement des Literaturblatts!

Urs Mannhart «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh», Matthes & Seitz

Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.

Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.

Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.

Urs Mannhart „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“, Matthes & Seitz, Reportagen, 2022, 151 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-7518-0809-5

„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“

Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.

Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds. 

Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.

„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gina Folly

Das 60. Literaturblatt zum 60.!

«So etwas habe ich noch nie aus einem Kuvert geschält – handgeschrieben, handgezeichnet, wunderschön. Am Anfang stehen vier Bücher und ein weisses A4-Blatt. Wo andere in die Tasten hauen, greift er zum Kugelschreiber. Anstelle von Fotos setzt er auf zarte Zeichnungen. Jede Ausgabe ein Kunstwerk: Gallus Frei-Tomics Literaturblätter. Abonnieren, lesen, staunen – Unbedingt!» Rebekka Salm

«Seit langem ist das Literaturblatt mein Favorit unter den Abos und den mit Mitgliedschaften einhergehenden Printprodukten. Während papier-, bild- und werbelastige Vereins- und Verbandspost kontinuierlich auf einen Stapel wandert, der nicht immer Freude bereitet, viel eher ein schlechtes Gewissen verursacht, weil er schon fast chronisch zum Brachliegen verurteilt ist, ergeht es dem Literaturblatt anders. Ich will das gefaltete, von Hand beschriebene und sorgfältig illustrierte A4-Blatt sofort anschauen, will wissen, welche vier Bücher Literaturblatt-Redaktor Gallus Frei-Tomic letzthin weshalb ans Herz gewachsen sind. Ob er die Besprechungen von Hand schreibt aus Respekt vor der zeitaufwändigen schriftstellerischen Arbeit und damit quasi bewusst einen Kontrapunkt zur Schnelllebigkeit im Literaturbetrieb setzt? Ich interpretiere es so – und fühle mich deshalb umso mehr geehrt, in der jüngsten Ausgabe mein neues Buch besprochen zu sehen.» Marianne Künzle

„In Zeiten, in denen die Feuilletons immer dünner, die Kulturseiten immer weniger und Rezensionen immer seltener werden, ist das von Gallus Frei mit viel Herz, Wissen und Leidenschaft bespielte Literaturblatt.ch eine wunderbare Quelle für lesebegeisterte Menschen, die in Sachen Literatur (gerade auch der Schweizer Literatur!) auf den neusten Stand gebracht werden möchten.“ Frank Heer

„ Ganz herzlichen Dank einmal mehr für dieses einzigartige analoge Kunstwerk – Dein Literaturblatt!“ Claudia Wüest

Neue AbonnentInnen begrüsse ich ganz herzlich. Ihr Beitrag ist ein Beitrag für die Literatur! Hier abonnieren!

Richard Wright «Der Mann im Untergrund», Kein & Aber

Die Welt besteht aus vielen Welten. Manchmal sind diese Welten nur durch hauchdünne Membranen voneinander getrennt. Welten, die sich in allem unterscheiden; in ihren Wahrheiten, ihrem Licht, den Trennungen zwischen Gut und Böse. „Der Mann im Untergrund“ von Richard Wright, in den 40er Jahren entstanden und bisher nur in gekürzter Form als Erzählung erschienen, ist erstmals als Roman in Deutsch zu lesen. Eine Offenbarung!

Stellen Sie sich vor: Sie sind von der Arbeit zu Fuss auf dem Weg nach Hause. Nicht weit. Den Wochenlohn in Scheinen in der Tasche werden sie von zwei Polizisten angehalten. Das Scheinwerferlicht des Polizeiautos blendet sie. Man gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, ins Auto einsteigen zu müssen. Obwohl sie eindringlich zu erklären versuchen, dass es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln muss, nimmt man sie mit, wird schon im Auto nicht nur verbal grob und unverschämt. Und nachdem man ihnen mit der Frage nach dem Geld ganz beiläufig sagt, ob sie es genommen, gestohlen hätten, nachdem sie getötet hatten, bricht die Welt weg. 

Richard Wright «Der Mann im Untergrund», Kein & Aber, Original: «The Man Who Lived Underground», aus dem Englischen (USA) von Werner Löcher-Lawrence, 2022, 240 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-0369-5873-6

Fred Daniels wird des zweifachen Mordes beschuldigt, in Handschellen gefesselt in einen Verhörraum gesperrt, gefoltert und misshandelt, bis man ihm seine schlaffe Hand nimmt und einen Wisch unterschreiben lässt, den die Polizisten Geständnis nennen. Um die Folter noch zu verfeinern, führt man ihn nach Hause zu seiner hochschwangeren Frau, die mit dem misshandelten Mann vor Augen ihr Kind zu gebären beginnt. Man fährt ins Spital. Fred sitzt einen Moment unbeobachtet im Flur, nur durch eine Mauer von seiner Frau entfernt und setzt sich ab, schlüpft durch Türen und auf der regennassen Strasse durch einen Gully in die Kanalisation. Weg von der Oberfläche in den Untergrund. Ins Dunkle, Schlammige, Stinkende.

Was Richard Wright dann schildert, ist die Odyssee durch eine Gegenwelt, ganz nah an der realen Welt vorbei, nur durch Mauern getrennt. Fred hört Stimmen singen, einen Gottesdienst. Fred ist gottesfürchtig. Er schlüpft durch Löcher, bricht durch Mauern, wird in seiner Ausweglosigkeit, seiner Hoffnungslosigkeit zum Dieb, zum Verbrecher, hungrig nicht nur nach Essen, hungrig zu überleben, hungrig nach der Welt, die in ausgespuckt hatte. Mit gefundenen Werkzeugen bricht er sich gar in den Kellerraum eines Geldinstituts, klaut ganze Bündel mit Scheinen, steigt in die Werkstatt eines Juweliers, nimmt Goldschmuck mit, Diamanten.

Irgendwann hockt er in einer Mischung aus Wahn, Verzweiflung und Euphorie in seinem Loch und tapeziert die Backsteinwände mit Geldscheinen, stampft Diamanten in den Dreck, hängt goldenes Gehänge an Nägel. Ein Rausch des Sinnlosen, von einem Mann im Sinnlosen.

Richard Wrights düsterer Roman erzählt die Geschichte von unrettbarer Verdammnis. Fred ist schwarz, nicht nur seine Hautfarbe. Alles an ihm wird schwarz, auch seine Seele. Und in der Erkenntnis des unendlichen Verlorenseins steigt Fred aus der Unterwelt, geht durch das Licht an der Oberfläche zurück an den Ort, an dem ihn die drei weissen Polizisten geständnisreif schlugen. „Der Mann im Untergrund“ ist eine einzige Metapher für die grenzenlose Missachtung aller Menschenwürde. Man stösst Fred in eine Existenz, die eigentlich diametral von seiner bisherigen Wirklichkeit entfernt ist. Man macht ihn zum Mörder, zum Verbrecher, ohne Zukunft, ohne Chance, beraubt ihn seiner Würde, seines aufrechten Gangs.

„Der Mann im Untergrund“ liest sich auch als blosse Geschichte atemlos. Der Roman ist die Geschichte der Rechtlosen überall, die Geschichte der institutionalisierten Willkür, in die die Gegenwart zu versinken droht. Wer diesen Roman liest, sieht grenzenloser Verzweiflung ins Gesicht. Jener Verzweiflung, die all jenen ins Gesicht gedrückt wird, denen das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden genommen wird!

Was für ein Buch!

Richard Wright wurde 1908 auf einer Plantage bei Natchez, Mississippi, geboren. Mit neunzehn Jahren verliess er den Süden und ging nach Chicago, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Strassenfeger, Tellerwäscher und Postangestellter verdiente. Er schrieb zunächst vor allem Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, bekannt wurde er mit seinem Roman «Native Son», der mehrfach verfilmt und 1941 als Bühnenversion am Broadway unter der Regie von Orson Welles aufgeführt wurde. Bis heute gilt Richard Wright als einer der bedeutendsten afro-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er starb 1960 in Paris.

Werner Löcher-Lawrence studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, danach Lehre und Forschung am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten lange Jahre in verschiedenen Verlagen, als Lektor und Programmleiter, bei Bertelsmann, Hoffmann und Campe und der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbstständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer.

Beitragsbild © Hulton Archive

Das 59. Literaturblatt: 4 literarische Perlen!

«Ein kleines Kunstwerk für sich, wirkt die reine Existenz dieses handgemachten, detailversessenen Blattes wie ein stiller Widerstand gegen das brutale Tempo unserer Zeit.»
Constantin Schwab

«Gallus Frei-Tomic hat ein Literaturblatt fürs Auge, für die Hände und für den Kopf geschaffen, das man in der Schweizerischen Literaturlandschaft nicht mehr missen möchte.»
Yael Inokai

«Die Literaturblätter sind wunderschön. Ich habe RIESENFREUDE!»
Eva Bröckelmann

«Das Literaturblatt April verdanke ich, lese mit grossem Interesse die Beschreibungen. Welch reiches Innenleben kann ich da miterleben.»
Marianne D.

„literaturblatt.ch ist eine wohltuend und erfrischend von Mainstream und Moden unabhängige Zeitung, ganz der Neugier und der Begeisterung ihres Herausgebers verpflichtet. Im Fokus steht, was heute leider immer mehr aus dem Blickfeld gerät: die Sprache selbst in ihrer individuellen und inneren Verführungskraft.“
Jürg Beeler

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH05 8080 8002 7947 0833 6
ID (BC-Nr.): 80808
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar prominenter Abonnement des Literaturblatts!

„Das Blatt macht mich platt.“ Christian Futscher

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Tell revisited

In seinem neuen Roman Tell kreiert Joachim B. Schmidt eine alternative Erzählung des Tellmythos, die mit dem Altbekannten nur wenig zu tun hat. 

Gastbeitrag von Sophie Waldner
Sophie Waldner studiert an der Universität Basel Deutsche Philologie und Mathematik. Literatur und was man mit ihr machen kann, fasziniert sie schon immer. Dieses Seminar war ihre erste Berührung mit Literaturkritik, aber bestimmt nicht ihre letzte.

Düster, eigensinnig, einzelgängerisch, so wirkt Joachim B. Schmidts Wilhelm Tell. Tatsächlich hat seine Version kaum Gemeinsamkeiten mit Friedrich Schillers Werk. Während bei Schiller die Befreiung der Schweiz eine essenzielle Rolle spielt, konzentriert sich Schmidt in seiner Erzählung vielmehr auf die Schicksale der einzelnen Charaktere.

Schiller und Schmidt stimmen bei den Hauptfiguren und der Erzählung des traditionellen Mythos überein. So finden sich bei Schmidt natürlich auch Hedwig, Tells Frau, Walter, ihr Sohn, und Gessler, der Landvogt, wieder. Auch muss Tell einen Apfel von Walters Kopf schiessen, weil er sich nicht vor Gesslers Hut verbeugt und wird anschliessend verhaftet. Er kann sich mitten im Sturm vom Boot retten und rächt sich schliesslich an den Habsburgern.

Doch die Dynamik ist eine neue. Ganz anders als Schillers Helden, meiden die Leute Schmidts Tell. Selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, beobachtet der kleine Walter. Die Menschen fürchten ihn: Es jagt mir jedes Mal einen Schauder über den Rücken, wenn ich diesen Burschen zu Gesicht bekomme.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Episodenweise beschreibt Schmidt die Gedanken und Motivationen aus der Perspektive verschiedener Figuren. Nach und nach setzt sich ein Bild von Wilhelm Tell zusammen, das wahrlich tragisch ist. Von insgesamt 87 solcher Unterkapitel sind nur drei aus Tells Sicht verfasst, alle seine Gedanken richtet er an Peter, seinen Bruder. Dieser ist auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen verunglückt. Danach hat Willhelm die Aufgaben seines Bruders übernommen, ist in dessen viel zu grosse Fussstapfen getreten. Dabei geht es in erster Linie um die Arbeit auf dem Tellhof. Zudem kümmert er sich um die bereits schwangere Hedwig und heiratet sie noch vor der Entbindung.

Auch Gessler gleicht kaum dem herrischen, boshaften Landvogt aus Schillers Drama. Die Brutalität meiner Männer stösst mich ab. Er sehnt sich viel mehr nach seiner Frau und seiner Tochter, welche erst nach seiner Abreise auf die Welt gekommen ist.

Der legendäre Apfelschuss ist einzig darin zu begründen, dass Gessler unglücklicherweise gerade anwesend ist, als Tell vor dem Hut stehen bleibt, ohne sich zu verbeugen – also muss Gessler sein Gesicht vor den Soldaten wahren. Nur weil zwei Männer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende.

Die Sprache ist einfach und unverblümt. So denkt einer der Soldaten bei sich: Er glaubt wohl, der Allvater dieser dreckigen Meute zu sein. So ein Mondkalb!. Schmidt tabuisiert auch nichts. Vergewaltigung und Kindsmissbrauch sowie deren Folgen sind genauso Thema wie der brutale Kampf zwischen Tell und einem von Gesslers Männern.

Die unterschiedlichen Perspektiven erinnern durchaus an Szenenwechsel in einem Blockbuster, mit dem Tell auf dem Einband verglichen wird. Ob dies jedoch tatsächlich ein Gewinn ist, ist fragwürdig.

Zwar lassen die Episodenhaftigkeit und deren Kürze nicht zu, dass während der Lektüre Langeweile aufkommt. Doch die Häufigkeit der Wechsel und die Anzahl der Protagonisten nehmen dem Buch wieder einiges an Schwung. 20 Figuren erzählen aus ihrer Sicht, wobei die Hälfte völlig ausgereicht hätte. Sie alle brauchen eine Hintergrundgeschichte, um ihren Auftritt zu rechtfertigen. Dass die Perspektive alle zwei bis drei Seiten wechselt, macht es des Weiteren etwas schwierig, im Blick zu behalten, welche Sicht gerade eingenommen wird.

Dennoch ist Schmidts Grundidee, Tell als einen von Schicksalsschlägen geprägten Charakter darzustellen, erfrischend. Sie passt hervorragend zum Puls der Zeit: Männer, insbesondere Helden, auch einmal von einer verletzlichen Seite zu zeigen. Tell ist eine geeignete Lektüre für alle, die offen für einen Bruch mit der traditionellen Tellerzählung sind und am Abend mal ein paar Stunden freihaben. Denn das Buch aus der Hand zu legen ist schier unmöglich.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane «Tell» und «Kalmann» waren Bestseller; mit «Kalmann» erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. «Tell» war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Eva Schram

Anna Jagdmann «Itzhoe», Plattform Gegenzauber

Zum wiederholten Mal hat das Literaturfestival Literaare Thun den länderübergreifenden Wettbewerb für Lyrik und Spoken Word TEXTSTREICH ausgeschrieben. Dieses Jahr in Kooperation mit dem Literaturmagazin Manuskripte aus Graz und dem Haus für Poesie in Berlin. 

«Itzhoe» ist nicht der Wettbewerbstext, der exklusiv in der Literaturmagazin Manuskripte erscheint, aber ein freundlicherweise an literaturblatt.ch freigegebener Text, der auch auf ihrer Webseite gelesen werden kann.

Jugend

Ich zockele zum Schwimmbad.
Die Sonne prickelt wie die Brausetabletten,
die meine Zunge bunt färben.
Dann blenden Wolken den Nachmittag ab.
Selbst die Wespen summen leiser.
Am Preisplakat pappen mit Paprikapulver panierte Pommes.


Langeweile

Center-Nachmittag.
Grässliche Blusen,
groß oder klein gemustert.
Kauf niemals sowas!
Und auch keine Übertöpfe,
Fototassen, Kaffeemaschinen, Motivkissen, Duschhauben, Wasserverdunster, Gesichtsbürsten, Toilettensteine.


Nachts

Die Taschenlampe wandert über die Landkarte.
Der Strahl bleibt bei Libyen hängen.
Rosa Pünktchen bedeuten den Sand.
Ich rolle mich ein wie ein Fennek.
Später treibt mich nächtlicher Durst in die Küche.
Vielleicht ist das Glas aus Wüstensand gemacht.

Anna Jagdmann, Geburt im Jahr des Eisvogels, Kindheit in einer deutschen Kleinstadt nördlich der Elbe, Geistes- und sozialwissenschaftliches Studium in Berlin, diverse Aufenthalte in Lateinamerika. Promotion an der FU mit einer Arbeit über Nation Building und Geografie in Kolumbien, seitdem Tätigkeit als Übersetzerin, Schreiberin und Papierwerkerin.

Literaare 2022 Thun

Webseite der Autorin

Das 58. Literaturblatt entsteht.

«Wie ungewöhnlich, und was für eine Ehre, in diesem feinen handschriftlichen Blatt eine kurze, dafür bemerkenswert durchdachte und sensible Rezension meines Romans «Kreisläufe» zu finden. Danke, Gallus, und ja, es ist auch eine Befreiungsgeschichte. Du hast es auf den Punkt gebracht. Danke dafür.» Andrea Scrima

«Bin beeindruckt, wie viel Arbeit und liebevolle Mühe Sie da reinstecken. Sehr toll!» Didi Drobna

«Sie wissen, wie aufrichtig ich Ihre grafischen Literaturblätter bewundere! Nicht allein der klugen Kurzrezensionen wegen – denen mein Buch ja die allerschönsten Kommentare verdankt – sondern auch als Einübung ins Langsamlesen, das unsereinem durch Internetkonsum systematisch abtrainiert wird (ich weiss: selber Schuld!).» Beatrix Langner

«Die von Hand geschriebenen und gezeichneten Literaturblätter von Gallus Frei-Tomic sind etwas ganz Besonderes. Eine grosse Bereicherung, die ich nicht missen möchte.» Ruth Geiger, Diogenes

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben: (neu)
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH05 8080 8002 7947 0833 6
ID (BC-Nr.): 80808
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar prominenter Abonnement des Literaturblatts!

„Das Blatt macht mich platt.“ Christian Futscher