Eine pralle Literaturlandschaft Spanien in einer leeren Landschaft – Literaturtage Zofingen – Rückblick

Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.

Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.

Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.

Ray Loriga mit «Kapitulation», Dolmetscherin Daniela Dias und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart
Ray Loriga «Kapitulation», Culturbooks, 2022, aus dem Spanischen von Alexander Dobler, 200 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-95988-155-5

Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.

José Ovejero mit «Aufstand», Moderatorin Monika Schärer
José Ovejero «Aufstand», Edition Nautilus, aus dem Spanischen von Patricia Hansel, 328 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-96054-296-4

Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation:
„…Papa, noch hast du Zeit:
Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst;
leg den Vampirumhang ab;
setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“
José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.

Elena Medel «Die Wunder», Suhrkamp, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 2022, 221 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43028-6

„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt.
Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere.
Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.

Elena Model mit «Die Wunder»
Vincente Valero «Krankenbesuche», Berenberg, 2022, aus dem Spanischen von Peter Kulten, 107 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-949203-39-8

Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza.
Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet.
Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute.
„Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.

Miqui Otero «Simón», Klett-Cotta, 2022, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 448 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98074-5

Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet.
Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist.
Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen.
„Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.

Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.

Rezension «Singe ich, tanzen die Berge» von Irene Solà

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis

Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.

Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.

Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.

„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5012-0

Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.

Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.

„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte. 

Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.

Interview

Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?

Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“ 

Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.

Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?

Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten. 

Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig. 

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?

32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker

Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder. 

Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.

So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?

Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück. 

Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal… 

In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?

6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker

Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte.
Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.

So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.

Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?

Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder. 

Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden. 

Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. 

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.

«Gesund genug» im Literarischen Quartett

Rezension von «Lügen von gestern und heute» auf literaturblatt.ch

Illustration © leafrei.com

Buchgeflüster 2 #SchweizerBuchpreis 22/9

Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt … 

Liebe Manu

Dein Optimismus ehrt Dich. Vielleicht hat meine Ernüchterung damit zu tun, dass das Lesen, die Lektüre für mich weit mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib ist. Ich messe ein Buch nicht an seiner Zersteuungswirkung. Ganz im Gegenteil. Ich messe ein Buch an dem, was es in mir auslöst; an Gedanken, Reflexion, Resonanz, Emotion, Konzentration.

In meinem Brotberuf bin ich in der Bildung tätig. Dort ist die Versuchung gross, Bücher bloss als Stoffträger einzubinden. Selbst Literatur wird degradiert zu fremd gewordener Auseinandersetzung, einem Frage-Antwortspiel, blutleer und seelenlos. Jüngeren Kindern muss das Buch gegen all die anderen „Unterhaltungen“ standhalten. Dabei ist Literatur ein Tor zu Dimensionen, die einem sonst verschlossen bleiben. Literatur ist Türöffner. Und manchmal reisst der Himmel auf und Sprache leuchtet durch mich hindurch, löst ein Schaudern aus.

Ich bin mir alles andere als sicher, ob der Schweizer Buchpreis jenes Buch auszeichnen wird, dessen Tiefenwirkung am grössten ist. Das ist auch gar nicht die Aufgabe dieses Preises. Der Preis will Aufmerksamkeit. Das ist alles. Ehrenhaft, dass die Jury „Pommfritz“ von Lioba Happel in die Endausscheidung aufgenommen hat. Aber „Pommfritz“ ist pure Auseinandersetzung. Keine Nachttischchen-, keine Strand- und schon gar keine Unterhaltungslektüre. Bücher wie „Pommfritz“ in der Shortlist sollen wohl der Ernsthaftigkeit dieses Preises dienen. Ob ich „Pommfritz“ weiterempfehlen würde? Nur mit einem Beipackzettel, der vor unerwarteten Nebenwirkungen (, die durchaus schwindlig machen können!) warnt – aber nicht zum Abtauchen – höchstens zum Aufschrecken. „Pommfritz“ ist kein Lesefutter, sondern Medizin.

Liebgruss
Gallus

 

Lieber Gallus,

ich habe dir so lange nicht geantwortet, weil ich deine Zeilen setzen lassen musste. Sie erzeugten im ersten Moment Groll in mir, Groll, der an meiner Berufsehre als Buchhändlerin entflammte und auch gegenüber dem Berufsstand der Lehrer. Literatur an den Schulen; ich ärgere mich zuweilen, wenn ich merke, wie an Schulen jedes Jahr erneut derselbe, meiner Meinung nach schon an Schwachsinn grenzende, gleiche «Klassiker» gelesen wird oder eben eher der Schülerschaft angetan wird. Da bin ich mir sicher, das wirkt nicht lesefördernd, öffnet kein Tor zur Literatur. Das richtet viel mehr Schaden an, denn nach dieser Lektüre ist klar, Lesen, Literatur ist nichts für die junge Generation. Zum grossen Glück gibt es aber doch Lehrkräfte, die da anders unterwegs sind und es verstehen, eine Klassenlektüre zu wählen, welche überzeugt. Den grossen Anspruch, welchen du da nennst, den erwarte ich da noch gar nicht, den sehe ich erst auf der gymnasialen Stufe. Aber die Freude am Lesen wecken, aufzeigen, dass ein Buch so vieles bewegen kann, helfen kann, anregen kann zum Nachdenken, neue Wege eröffnen … das funktioniert, ich habe es schon mehrmals erleben dürfen und appelliere an die Mündigkeit der Leserschaft, egal welchen Alters.

Das beginnt ja bereits beim Bilderbuch. Was mir gefällt, was ich kunstvoll und toll finde, gar noch eine wertvolle pädagogische Botschaft übermittelt sehe, das gefällt der vierjährigen Lilli allermeistens nicht die Bohne. Wenn die Patentante ein Jugendbuch für ihr Patenkind auswählt, geht es oft schief, das Buch bleibt ungelesen, was die Käuferin des Buches nicht erfahren wird. Als Buchhändlerin liebe ich an meinem Beruf am allermeisten; diese Fähigkeit zu erlernen, jeden Tag aufs Neue mein Gegenüber wahrzunehmen, nur dann kann ich versuchen, eine Buchempfehlung zu machen. Die Mündigkeit der Leserschaft ist für mich unantastbar, von daher rührte auch mein anfänglicher Groll deinen Zeilen gegenüber, denn die Überheblichkeit ist der Tod jeglicher Buchempfehlung.
Ich las als allererste Werke in meinem Dasein Comics, das galt damals als Schund oder dein schönes Wort, Stoffträger. Es ist und bleibt für mich weitaus mehr als das. Comics sind und waren immer schon ein höchst wertvoller Einstieg ins Lesen, hin zum Buch, zur Literatur.

Nun, ich schweife ab. Der Schweizer Buchpreis hat also die Aufgabe, Aufmerksamkeit für diese fünf nominierten Werke zu schaffen. Hier zweifle ich nun an, ob das erreicht wird. Hat schon jemals ein Verlag ein Buch verlegt, für welches er sich keine Aufmerksamkeit wünschte? Welchen Werken versucht man nun mit dem Schweizer Buchpreis diese Aufmerksamkeit zu verschaffen? Was möchte man damit erreichen? Ist der Schweizer Buchpreis der Leseförderung zuträglich? Hilft dieser Preis den Buchverkauf der nominierten Werke anzukurbeln?
Lieber hochgeschätzter Gallus, ich bin sehr gespannt, ob du dich diesen schlichten Fragen stellen magst. Ich danke dir für unseren Austausch, möge er noch ein paar Menschen erreichen, oder auch nicht, mir bereitet er jedenfalls Freude und Auseinandersetzung.

Herzlich grüsst dich

Manu

Klaus Merz und Sandro Zollinger «LOS»

Zusammen mit dem Bildkünstler Sandro Zollinger tourt Klaus Merz mit seiner 2005 erschienen Erzählung „Los“ durchs Land. „LOS“ wird zu einem mehrdimensionalen Sprach- und Bilderlebnis, das mit Hilfe von Virtual Reality, 3D-Brillen in ungewohnte Dimensionen führen will.

Erstaunlich genug, dass sich ein Dichter, der sich sonst so sicher und gewandt alt bewährter Kunstformen bedient, ein solches Wagnis auf dem Rücken digitaler Technik eingeht. Und weil ich dem sonst so besonnenen Dichter keine Experimente zutraue, die den Absturz mit einkalkulieren, freue ich mich auf einen akustisch-visuellen „Kunsttripp“ der Sonderklasse.

Spät im Herbst bricht Thaler auf eine Bergwanderung auf, von der er nicht wieder zurückkehrt. Es beginnt eine aufgeregte Suchaktion nach dem Verschwundenen. Aber selbst Hubschrauber, Passbilder im Fernseher oder Hellseher bringen ihn nicht zurück. Er bleibt verschollen, verschwunden – für die Zurückgebliebenen ohne Hoffnung – höchstens so wie jene Verstorbenen, denen man in leicht verschobener Perspektive mit einem Mal zu begegnen glaubt. Mit dem leisen Verdacht, dass sich da jemand aus dem Staub machte, der die Absicht lange mit sich getragen hatte, der nicht einfach verschwand, sondern verschwinden wollte.

„Los“ ist das knappe Erzählen eines Lebens, in dem der Protagonist gar nie richtig angekommen zu sein schien, von einem Mann, der sich noch in den letzten Monaten vor seinem eigenen Verschwinden mit dem Sterben seiner Mutter auseinandersetzte, einen eigentlichen Bericht verfasste, ein Protokoll einer zunehmenden Entfernung.
 Thaler spürte, dass in ihm etwas wuchs, das nicht zu stoppen war. Und als ihm ein Arzt bestätigt, was er in seinem Bauch querliegen spürt, als Zeichen ihm bestätigen, wird unumkehrbar, was enden wird, erst recht als ein Schwan vom Himmel fällt.


Mit Thalers Pensionierung ist nicht eingetroffen, vorauf viele hoffen, weder Freiheit noch ein Stück unverbaute Zukunft. Schon gar nicht nach einer misslungenen Reise mit einer Freundin in den Grand Canyon. Thaler ist sich nicht sicher, ob all die Sehnsucht nach Zweisamkeit nur Verzweiflungen, dem Zweifel entspringt. Weder in der Ehe seiner Eltern, noch in der Tatsache des frühen Todes seines ihm so nahen Bruders kann Thaler die Bestätigung finden, dass es jene tiefe Verbundenheit gibt, nach der er sich stets sehnte. War der Gang in die Berge letzte Konsequenz? Eine Herausforderung an das Schicksal?

Klaus Merz «Los», Haymon, 2005, 96 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-85218-466-1

Thaler hat sich verloren. Er geht nicht nur einfach „los“, er lässt „los“, bindet sich „los“. Selbst der Rückblick auf ein Leben als Lehrer für Kultur, Sprache, Philosophie gibt ihm nicht jenen Trost, jene Hoffnung, mit dem wirklichen Leben je verschmolzen zu sein. Alltag und Routine machten ihn stumpf. Kann ein Ultimatum an das Leben der Grund für jene Wanderung im November gewesen sein? Er geht auf eine Reise, weil Reisen das einzige ist, was ihm ein Zuhause gibt. Auf eine Reise an einen ungewissen Ort.

In nicht einmal hundert Seiten öffnet Klaus Merz eine Welt. Er leuchtet sie nicht aus. Er analysiert nicht, er ordnet nicht ein. „Los“ sind lose Bilder eines Lebens, die ich als Leser selbst zusammenfügen muss, Facetten eines Lebens, die nur erahnen lassen, was wirklich passierte. Wichtig in Klaus Merz Erzählung ist aber nicht das Warum, sondern das Wie. Das Wie seines Erzählens, wie er es schafft, mit wenigen Strichen, mit wenig Farbe jene Tiefe zu schaffen, die sein verdichtetes Schreiben auszeichnet. „Los“ ist ebenso poetisch wie lyrisch, ebenso verdichtet wie offen. „Los“ ist eine jener literarischen Perlen, für den man den stillen Dichter nicht genug würdigen kann!

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, zählt zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Preisen im gesamten deutschsprachigen Raum ausgezeichnet.

Sandro Zollinger, Buch & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte nach seiner Ausbildung als Treuhänder Film- und Medientheorie in Berlin. Seit 2004 arbeitet er als unabhängiger Filmschaffender und Zukunftsforscher. Er ist Mitinhaber von «Montezuma». In seinen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten beschäftigt er sich eindringlich mit der Suche nach innovativen Erzählformen und neuen Perspektiven.

Roman Vital, Montage & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Montage und Dokumentarfilm. Seit 2006 arbeitet er als freier Produzent, Regisseur und Filmeditor in Zürich. Er ist Inhaber von «Turaco Filmproduktion». Seine mehrfach preisgekrönten Arbeiten setzen sich nachdrücklich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer und «Sieben Tage Sommer» im Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.

Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.

Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler

30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.

Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.

Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!

«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer

Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?», Plattform Gegenzauber

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig?

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten?

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme?

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette?

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen.

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go.

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück.

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich.

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Simon Froehling «Dürrst», bilgerverlag #SchweizerBuchpreis 22/8

„Dürrst“ ist eine gnadenlose Achterbahnfahrt eines aufstrebenden Künstlers zwischen euphorischen Höhenflügen, ekstatischer Arbeit und trostloser Abstürze in die Tiefen psychischer Abgründe. Alles an diesem Leben ist Auseinandersetzung. Auch die Lektüre dieses Romans!

Je nach Lebenssituation ist der Blick in eine andere Richtung gerichtet. Bei den einen zurück, bei den andern in die Zukunft. Dürrsts Blick geht nur nach vorne, auch wenn es sich nur schwer erschliesst, was sich im Nebel der Zukunft abzeichnet. Was Vergangenheit ist und war, stösst er ab, wie die Eidechse ihren Schwanz. Was nachwächst, ist nur mehr rudimentär und hilft gerade noch so, um im Tempo des Lebens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Elternhaus, das nicht verstehen will, Mutter und Vater, die an die Macht des Geldes glauben, jene Macht, die sie selber stets auf der Welle des Erfolg reiten liess. Dürrst weiss, dass er nicht nach dem Rhythmus seiner Eltern tickt, dass er anders ist, dass sein Schwulsein keine Laune der Natur ist, dass sich sein Wunsch, als Künstler etwas erschaffen zu wollen, genauso wenig einer Laune der Natur zuordnen lässt. Dass sein Leben sich nicht nach Kompromissen richten soll. Dass alles Risiko ist.

Simon Froehling «Dürrst», Bilger, 266 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03762-100-4

Dürrst ist nicht zu fassen. Auch für seine Freunde nicht, seinen Freund. Ein permanent unter Druck stehendes Leben, dass sich kaum zwischen seinen Extremen einpendeln lässt. Einmal wird er als zukünftiger Star von seiner Galeristin gefeiert, ein andermal lässt er sich freiwillig von einem Mantel an Medikamenten zudecken, weil es die einzige Möglichkeit ist, zur Ruhe zu kommen. Manchmal bricht er aus, manchmal bricht er ein.

Einmal wirbelt er wie ein Derwisch durch die wilden Parties der Stadt, verliert sich im Arbeitswahn, in den Ideen zu seiner Kunst. Ein andermal sackt er ab in die Untiefen menschlichen Verlorenseins, vegetiert, ergibt sich der Maschinerie, die hinter verschlossenen Kliniktüren das Zepter in die Hand nimmt.

Eigentlich will Dürrst nur leben, will sein, was er ist, was er in hellen Zeiten seines Lebens als treibende Kraft in sich spürt. Aber weil sein Leben zu einer permanenten Demonstration gegen alles Biedere und „Bünzlihafte“ wird, ist alles Kampf. Ein Kampf der Abnützung, des Anrennens, des Verschleisses. Ich möchte Dürrst beim Lesen an der Hand nehmen, möchte ihn drosseln, weil ich die drohenden Katastrophen erahne.

Simon Froehlings zweiter Roman nach „Lange Nächte Tag“ ist eine buchgewordene Performance, der Schrei einer Generation, die alle Muster ablegen will, die nicht bereit ist, sich all jenen Zwängen zu beugen, die die Generationen zuvor als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Aber vielleicht ist „Dürrst“ auch das Manifest einer Generation, die angesichts der Fülle an Eingebrocktem einfach nur die Nase voll hat.

Simon Froehling macht es mir nicht einfach. Sein Roman ist keine Geschichte zur Erbauung, sondern der Schrei von Verlorenen. Auf dem Klappentext steht: „Froehling erzählt den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern stupender Schönheit.“ „Dürrst» ist nicht Selbstfindung, sondern das unendliche Suchen.

Simon Froehling wurde 1978 geboren, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger und lebt in Zürich. Anfang der Nullerjahre machte er sich hauptsächlich als Lyriker und Dramatiker einen Namen – mit über einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen, die in der Schweiz, Deutschland und Österreich uraufgeführt oder gesendet wurden. Sein erster Roman «Lange Nächte Tag» erschien 2010 im Bilgerverlag. Für sein Werk wurde er mit diversen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Publikumspreis der St. Galler Autorentage, dem Dramatikerpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft, einem Heinz-Weder-Anerkennungspreis für Lyrik und dem Network-Kulturpreis der schwulen Führungskräfte. Simon Froehling ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel/Bienne. Neben seiner Tätigkeit als freier Autor und Übersetzer arbeitet er am Tanzhaus Zürich als Dramaturg und Kommunikator.

Irene Solà «Singe ich, tanzen die Berge», Trabanten

Irene Solàs Roman „Singe ich, tanzen die Berge“ ist ein Werk, dass sich mit viel Feingefühl und Empathie über die Grenzen des scheinbar Erzählbaren hinauswagt. Die Lesung mit der Autorin, die am 30. Oktober Gast an den Literaturtagen Zofingen mit Schwerpunkt „Spanien“ ist, sollte man sich nicht entgehen lassen!

Dass die Zeit nicht an jedem Ort der Welt im gleichen Takt, im gleichen Tempo tickt, wissen wir aus Erfahrung sehr wohl, auch wenn die Uhr am Handgelenk etwas anderes bezeugt. Dass sich der Mensch allzu leicht als Mittelpunkt der Welt oder gar alles Existierenden sieht, relativiert sich meist erst, wenn er sich unter dem Sternenhimmel seiner tatsächlichen „Wichtigkeit“ bewusst wird. Zeit und Raum bleiben subjektiv, auch wenn das menschliche Bewusstsein alles versucht, Dimensionen in ein klares Geviert einzupacken.

Irene Solà gelingt mit ihrem Roman etwas, was genau diese räumliche und zeitliche Dimension sprengt. Obwohl sie erzählt, fügt sie sich nicht in eine stringente Chronologie ein. Obwohl sie schildert, legt sie sich in keinem ihrer Bilder fest. Obwohl ihre Perspektiven klar sind, ist es niemals nur die eine, die menschliche. Irene Solà schafft es, dass Leidenschaft, Leben, Lust und Bewegungen in vielfältigsten Formen zu einem vielfachen Choral an Stimmen, Stimmungen und Geschichten werden. Literatur wird zu einer Trägerin der Musik des Lebens, in der jene des Menschen nur eine einzige Stimme ist.

Das Buch erzählt von einem Dorf in den Pyrenäen, abgelegen, weit weg. Einem Dorf, in dem die Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten auf wenige Hundert geschrumpft ist. Einem Dorf, in dem alle alle kennen, nichts unkommentiert bleibt, das wenigste geheim.

Irene Solà «Singe ich, tanzen die Berge», Trabanten, aus dem Katalanischen von
Petra Zickmann, 2022, 207 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-98697-000-0

Das Buch erzählt in vielen Kapiteln vom Leben in und um dieses Dorf. Aber eben nicht nur aus der Sicht der Menschen, sondern auch aus jener der Tiere, der Pflanzen, der Bären und der Bäume, der Berge und des Waldes, des Windes und des Gewitters. Von einem Dorf im Wandel der Zeit, von Ereignissen, die es erschüttern und sich mit der Zeit Schicht für Schicht in der Erinnerung ablagern. 

Dreh und Angelpunkt des Romans ist die Familie des dichtenden Jungbauern Domènec und seiner schönen Frau Sió. Sie beide und ihre noch ganz jungen Kinder Mia und Hilari, die ihr Glück auf einem kleinen Hof in den Bergen gefunden haben, werden mit einem Mal während eines Gewitters aus ihrem Glück gerissen. Domènec wird auf dem Feld vom Blitz erschlagen. Und als ob das Schicksal damit in dieser Familie nicht schon genug Unheil angerichtet hätte, stirbt der Sohn zwei Jahrzehnte später bei einem tragischen Jagdunfall. Als ob es das Schicksal auf diese eine Familie abgesehen hätte. Nicht nur auf diese eine Familie, das ganze Dorf, den Gebirgszug selbst, denn eine der vielen Erzählstimmen in diesem Roman findet schon als Kind ganze Kisten volle Überreste aus der Francozeit; Waffen und Munition. Dinge, die fallengelassen werden, die verschüttet werden, sich ablagern, die aber doch noch immer bis in die Gegenwart wirken.

Im Film gibt es die Gattung „Episodenfilm“. In vielem erscheint der Roman von Irene Solà wie ein Episodenfilm erzählt, wenn auch die Zeitebenen von  fernster Vergangenheit bis in die Gegenwart verteilt sind. Aber Bilder in der einen Darstellung werden aus ganz anderer Perspektive wieder und wieder erzählt und machen aus dem Roman ein feines Gespinst aus Sprachkunst. Irene Solà scheint ein ganz besonderes Wahrnehmungsorgan zu besitzen. Es ist, als würde sie in dem Äther allen Seins jene Stimmen filtrieren, die nur einem ganz und gar emphatischen Sein zugänglich sind. 

Dass Irene Solà auch Lyrikerin, oder vielleicht in erster Linie Lyrikerin ist, verwundert nicht. Und die Tatsache, dass im Trabanten-Verlag noch diesen Herbst eine erste Gedichtsammlung in deutscher Sprache erscheinen wird, macht mehr als neugierig!

Irene Solà liest und diskutiert an den Zofinger Literaturtagen 2022. Weitere Gäste sind Pedro Lenz, Holger Ehling, Marc Arnold Wiederkehr, Vicente Valero, Miqui Otero, José Ovejero, Peter Kultzen, María Sánchez, Elena Medel, DuoCalva, María Castrejón, Sergio Del Molino und Ray Loriga.

Irene Solà wurde 1990 in Malla geboren, einem Dorf mit ein paar hundert Einwohnern in der Nähe der Stadt Vic, in der Provinz Barcelona. Sie studierte an der Akademie der Künste in Barcelona und hat einen Master-Abschluss in Literatur, Film und visueller Kultur. Im Jahr 2012 veröffentlichte sie den Gedichtband Bèstia, 2017 folgte ihr erster Roman «Els dics». Mit ihrem zweiten Roman, «Canto jo i la muntanya balla» («Singe ich, tanzen die Berge»), wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Literaturpreis 2020.

Beitragsbild © Oscar Holloway

Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche

Den Anstoss zum Schreiben verdanke ich meiner Lehrerin. Sie sagte den entscheidenden Satz: «Aus dir wird eine Schriftstellerin!“, schreibt Margrit Schriber in ihrer Roman-Biographie. „Was für Glück!“, ruft der Leser jener Lehrerin zu. Margrit Schriber gehört zu den Grossen der Schweizer Literatur. Eine, die für ihren Platz noch immer kämpfen muss.

1984, acht Jahre nach ihrem Debüt „Aussicht gerahmt“, begegnete ich der Autorin zum ersten Mal bei einer Lesung aus ihrem Roman „Muschelgarten“, der Geschichte zweier Frauen, die sich im gegenseitigen Kampf zu Verlierenden und Verlorenen machen. Schon damals machte mir die Autorin nicht nur Eindruck mit ihrem Schreiben, ihrer Sprache und der Kunst Innenlandschaften zu Poesie zu wandeln, sondern mit ihrer Präsenz, ihrer Begeisterung, ihrer Nähe. Seit „Muschelgarten“ bin ich ein steter Leser im Schriber-Kosmos und zusammen mit meinem Literaturzirkel schon bei manchem Anlass der Autorin stiller und machmal auch weniger stiller Teil ihres Fanclubs. Dass sich eine Autorin mit über achtzig Lebensjahren und über einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen und Hörspielen an ein Resümee macht, ist verständlich. Aber „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ setzt ihre Bücher viel mehr als Meilensteine in ein Leben, das stets ein Kampf war gegen Missachtung, Schubladisierung, Erniedrigung und eine überaus männliche Einordnung von Zuständen und scheinbaren Einsichten. Margrit Schriber, 1939 geboren, erzählt ihre Geschichte, die exemplarisch ist für eine Frauengeneration, die es nicht mehr hinnehmen will, dass in Politik, Gesellschaft und Kultur Frauen (oder Nicht-Männer) ein Eigenleben stets in den Dienst der Herrlichkeit zu stellen hatten. Vor 70 Jahren verwarf der rein männliche Souverän der Schweiz das Frauenstimmrecht mit einer Zweidrittelmehrheit. 1971 sollte es klappen, 1990 sogar im Kanton Appenzell Innerrhoden, während in Neuseeland Frauen schon 100 Jahre aktiv mitbestimmen konnten.

„Schreiben war meine Art der Emanzipation.“

Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche, 2022, 240 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-312-01258-9

Margrit Schriber wuchs in einer Heilerfamilie auf. Für eine Bibel und ein Heilkräuterbuch brauchte es dort kein Bücherregal. Selbst diese Bücher öffnete man erst, wenn es nicht zu vermeiden war. Man hatte einen Mund zum Reden, Augen zum Schauen, Ohren zum Zuhören, einen Kopf zum Denken und Herz und Verstand für Entscheidungen. Das musste reichen. Bücher lenken ab. Margrit Schriber aber wollte schreiben, Welten auftun. Nach der Schule begann sie eine kaufmännische Ausbildung auf einer Bank. Nicht weil es sie gezogen hätte, sondern weil sie nicht wusste, wie sie aus ihrer Sehnsucht einen Beruf machen sollte. Sie heiratete einen adretten Mann, schien sich den geltenden Normen der Gesellschaft zu beugen. Aber im Stillen schrieb sie, auch gegen die verletzenden Kommentare ihres Gemahls. Und als sie eine erste Erzählung der Literaturzeitschrift „Drehpunkt“ einsandte und Hansjörg Schneider urteilte „Die beste Geschichte seit Jahren“, begann eine der erstaunlichsten Schriftstellerinnenkarrieren der Schweizer Literaturgeschichte.

Es gibt zwei Kategorien von Romanen im Schreiben der Autorin: jene, die aus ihrem eigenen Leben, ihrer Biographie entspringen, aber immer nur als Stoff wirken und jene, die sich einer historischen Person, einem Frauenschicksal aus der Vergangenheit annehmen. Was allen Geschichten gemein ist; es sind immer Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen oder es zumindest tapfer versuchten. In allen Romanen gibt Margrit Schriber der Frau jene Stimme, die ihr in ihrer Zeit verwehrt blieb. Margrit Schribers Romane nun aber als Frauenliteratur zu schubladisieren, wird ihrem Schaffen nicht gerecht. So wie all die Frauen in ihren Romanen den Kampf aufnahmen, so nahm die Autorin selbst den Kampf auf, sei es der gegen Vorteile, gegen die Arroganz einer männlich dominierten Kultur- und Literaturlandschaft, sei es der gegen Oberflächlichkeit und Sturheit.

In „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt Margrit Schriber aber auch von ihren Freundschaften, ihren Reisen, ihren Begegnungen und ihrer grossen Liebe, dem Schreiben. Margrit Schriber nimmt mich mit in ein Leben, das sich in ihren Büchern vielfach spiegelt, in ihr Schreiben, das zum Motor ihres Lebens wurde. „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt vom nie versiegenden Mut einer Frau, die wahrhaft ihre Stimme im Schreiben fand!

Möge „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ auch jene erreichen, denen der Schriber-Kosmos bisher verwehrt blieb.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Schwestern wie Tag und Nacht» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont #SchweizerBuchpreis 22/7

„Blutbuch“ ist ein Buch über das Woher und Wohin. Die Stimme im Buch sucht nach ihrer Herkunft, schreibt Briefe an die Grossmutter, weil sie weiss, dass alle alle Generationen mit sich tragen, aus denen die eigene Existenz gewachsen ist. „Blutbuch“ ist die Suche nach den Säften, die das Leben ausmachen.

Die Erzählstimme definiert sich weder männlich noch weiblich, was sich non-binär nennt. Sie forscht in einer Zeit, in der Vergangenheit, als es ausschliesslich das Weibliche und Männliche gab und sich alles dieser Zweiteilung zu unterwerfen hatte, mit allen Konsequenzen. Wenn die Erzählstimme in den Schichten des eigenen Daseins wühlt, wenn sie schwärmt, leidet, schreit, erklärt und forscht, vermeidet sie jede Zuordnung, schreibt „jemensch“ statt jemand, was zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, den Lesefluss aber kaum hemmt und für Kim de l’Horizon eine der unausweichlichen Konsequenzen einer nicht nur für das Schreiben getroffenen Entscheidung ist.

«Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.»

„Blutbuch“ ist die Zwiesprache mit der Grossmutter, mit seiner Grossmeer, einer alt gewordenen Frau, die zu verstummen droht, die in ihrer Demenz ihre Geschichte Stück für Stück verliert, die er nicht mehr fragen kann, deren Antworten versiegen. Mit einer Frau, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, die in ihr grosses Vergessen Stücke seiner eigenen Geschichte mit in diese eine nicht zu korrigierende Leere reisst.

„Blutbuch“ ist die Suche nach der eigenen Herkunft, ein erschriebener Stammbaum. Kim de l’Horizon kostet in diesem Buch vom Blut seiner Familie, schmeckt das Verborgene, Vergessene, Verschwiegene. Jene Blutbuche im Hof ist Sinnbild für das Buch, das jede Familie schreibt, die Geschichten, von denen man sich emanzipieren kann oder die einem auf ewig im Griff behalten, nicht loslassen, ketten.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont, 2022, 336 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-8321-8208-3

Die Grossmutter des Erzählenden, die Grossmeer, ist Kim näher als die Mutter, seine – ihre Meer, von der Kim sich sein ganzes Leben lang seltsam distanziert fühlt, mit der Kim nicht redet, schon gar nicht über das Anderssein, dieses „Es“, das immer aussen vor bleibt. „Blutbuch“ ist die Liebeserklärung an eine Grossmutter, das Nachspüren an eine Nähe, die der Erzähler zur Mutter nie hatte. „Blutbuch“ ist sanfte Berührung, leises Streicheln, aber auch verzweifeltes Schreien, grelle Demonstration.
„Blutbuch“ ist die Erkundung eines Körpers, einer Selbstverständlichkeit für viele, einer schmerzhaften Konfrontation für Kim. Kim spürt sich dann, wenn der Schmerz am grössten ist. In „Blutbuch“ steckt der Kampf ebenso wie der Versuch einer permanenten Versöhnung. Warum bin ich so, wie ich bin? „Blutbuch“ ist der Literatur gewordene Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, dem eigenen Sein eine Gestalt zu geben, Kraft dort zu finden, wo andere sich der Verzweiflung ergeben. Kim de L’Horzon gibt dem Suchen eine Sprache.

«Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichen Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut.»

Ich las „Blutbuch“ mit angehaltenem Atem. Der Roman ist keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass einem Bilder bis in Träume begleiten, ist gross. Kim de l’Horizons Debüt ist ein vielstimmiges Konvolut, sich aus den Zwängen einer Gesellschaft zu befreien, die alles und jedes in Schubladen pressen muss, die all dem keinen Platz lässt, was Normen widerspricht. „Blutbuch“ liest sich wie ein Drehbuch zu einem langen Akt der Befreiung. Erstaunlich, wie viel Reife in diesem Buch liegt, wie viel Sprachkunst, wie viel Mut und Kompromisslosigkeit.

Weniger erstaunlich, dass sowohl der Deutsche wie der Schweizer Buchpreis das Buch in die Shortlist, in die Endausscheidung aufgenommen haben, weil das Buch all das zur Sprache bringt, was in der aufgeladenen Atmosphäre unserer Gesellschaft wabert. Aber „Blutbuch“ ist keine Unterhaltung. Dieses Buch will Auseinandersetzung. Wer sich als Lesende dieser Auseinandersetzung stellt, wird belohnt. „Blutbuch“ ist eine Wucht.

Kim de l’Horizon gewann mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022. Hier die Kurzfassung der Jurybegründung:
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Grossmutter, die „Grossmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.
Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt «Blutbuch» versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. «Blutbuch» wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.