Kaum ein Segment in Buchhandlungen ist derart prominent vertreten wie der Sektor Gesundheit/Ratgeber. Kaum ein Thema treibt die Schriftstellerei so sehr um wie die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Beides vereint der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker. Kein Wunder trifft er den Nerv!
2004 erschien Ursula Frickers Debüt „Fliehende Wasser“, schon damals ein Roman über die klaustrophobische Enge einer kompromisslosen Erziehung und ihrer katastrophalen Folgen. 2009 der Roman „Das letzte Bild“, in dem sich ein Mann mittleren Alters mit einem Mal mit seiner 15jährigen Tochter konfrontiert sieht. 2012 der Roman „Ausser sich“, die Geschichte eines Paares, dessen gemeinsame Geschichte an einem Sonntag wortwörtlich schlagartig die Richtung ändert. Katja geleitet Sebastian, der einen Schlaganfall erleidet, im Helikopter ins Spital. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis. 2016 „Lügen von gestern und heute“ über drei Leben, die gänzlich aus den Fugen geraten. Und nun 2022 „Gesund genug“, ein Roman, der an den Erstling anschliesst.
Hanne wird ans Sterbebett ihres Vaters gerufen. Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wird zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen können. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften werden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael können ausbrechen. Die Mutter bleibt.
Eine letzte Gelegenheit zur Annäherung zwischen Tochter und Vater vor der ultimativen Entfernung. Der Versuch, etwas zu verstehen, die verschlüsselte Liebesgeschichte einer Tochter zu ihrem unter Idealen begrabenen Erzeuger, die Sehnsucht nach jenem letzten Schimmer eines Vaterbildes, das sich alle wünschen; Geborgenheit, Sicherheit, Stütze und Kraft. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinem Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon.
Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann? Hanne findet Zeichnungen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? Am Sterbebett liest Hanne ihrem Vater aus Robert Falcon Scotts Tagebüchern. Auch für Scott gab es damals auf seiner Reise zum Südpol kein Zurück. Lieber heldenhaft in den Tod als ein frühzeitiges Eingeständnis, dass Ponys in der Antarktis nicht die richtige Entscheidung waren.
Hannes Vater sah sich stets in der Rolle des Opfers. Eine Haltung, die einen perfekten Nährboden für ein messianisches, selbstloses Engagement ohne Wenn und Aber bieten kann. Hat uns nicht die moderne Psychologie dazu gebracht, uns immer bloss als Opfer zu sehen? Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers.
«Ich habe mich besonders auf den Besuch im Literaturhaus Thurgau gefreut. Danke Monika und danke Gallus für diesen in mancher Hinsicht prächtigen Abend in Gottlieben!» Ursula Fricker
«Doppelleben» ist ein Doppelroman. Zum einen über das Brüderpaar Edmond und Jules Goncourt, die im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Kulturmetropole Paris spielten, aber auch ein Roman über ihre Magd Rose, der sie nach ihrem Tod mit dem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal setzten.
Wer liest, kennt den Prix Goncourt. Ein Preis, der seit 1903 vergeben wird und trotz des nur noch symbolischen Preisgeldes als Preis mit grosser Wirkung entgegengenommen wird. Edmond de Goncourt, der ältere der beiden Goncourt-Brüder initiierte den Preis in seinem Testament durch die Gründung einer Akademie und einer Stiftung. Edmond und sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules verfassten als Brüderpaar Romane und Biographien und waren schon zu Lebzeiten Dreh- und Angelpunkt französischer Kultur. Sie hätten wohl durchaus auch das Zeug gehabt, sich der Malerei zuzuwenden. Aber irgendwann, noch im Elternhaus und wohlbehütet in wirtschaftlicher Sicherheit, von Bediensteten umsorgt, wendeten sich die beiden als Tandem der Literatur zu.
Alain Claude Sulzer erzählt vom damals sehr urbanen und selbstbewussten Leben eines Bruderpaars, dass sich mit grossem Selbstverständnis nicht nur in der damaligen Kulturszene, sondern auch in der politischen Upper Class bewegte. Aber das Paar, das sich wie ein Zwillingspaar gebärdete, stets gemeinsam unter dem gleichen Dach lebte und auch gegen aussen als „Einheit“ auftrat, dass sehr gut vernetzt war, hatte gegen Feinde zu kämpfen, die unsichtbar blieben.
Eine der grossen Plagen der damaligen Zeit war Syphilis, eine ansteckende Geschlechtskrankheit, die bis zur Entdeckung von Penizillin unheilbar war. Jules, der jüngere der beiden Goncourt-Brüder, litt an dieser Krankheit, ohne dass sich die beiden Brüder den immer schlimmer werdenden Symptomen entgegenstellen wollten. Ein Wesenszug, der im Roman von Alain Claude Sulzer symptomatisch für die Zeit, die Gesellschaftsschicht und das moralische Verständnis jener Zeit war. Leben war das Resultat einer Idee. Schriftstellerei „göttliche“ Berufung und Selbstverständlichkeit. Dass das Unternehmen Goncourt nicht ohne Beihilfe funktionieren könnte, übersah man geflissentlich. Auch die Tatsache, dass jene, die unter dem Dach der Schriftstellerbrüder das Schiff auf Kurs hielten als blosses Mobiliar wahrgenommen wurden.
Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani, 2022, 304 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-86971-249-9
Alain Claude Sulzer spiegelt die Geschichte der Brüder Goncourt mit dem stillen Leben ihrer Bediensteten. Während die Brüder ihr Dasein als Künstler zelebrieren, sich mit den Wichtigen ihrer Zeit treffen, rauschende Feste feiern und die Exklusivität ihres Daseins als Normalität und Notwendigkeit hinnehmen, arbeiten Bedienstete fast rund um die Uhr im Dienst der Reichen und Privilegierten. Eine dieser Stillen war ihre Magd Rose, die unbemerkt von den Brüdern ein „Doppelleben“ führte.
Rose, die Haushälterin, die zwar eine schlechte Köchin ist, was man angesichts ihrer Ergebenheit, Diskretion und Zuverlässigkeit über all die Jahre in Kauf nimmt, führt im Haus der Brüder ein unauffälliges Leben, scheinbar ohne Wünsche. Aber dem ist nicht so. Sie verzehrt sich nach Liebe, nach Wärme, will nichts mehr als eine Familie. Von der Liebe immer wieder enttäuscht lernt sie in ihrer Nachbarschaft einen jungen Schuster kennen, verliebt sich und stürzt sich in ein gnadenloses Abhängigkeitsverhältnis, das die Unglückliche an den Rand des Ruins bringt. Ein Unglück allein scheint nicht genug. Rose wird mehrfach schwanger. Aber keines dieser Kinder überlebt. Das, wovon Rose träumt, bleibt ihr verwehrt. Nicht einmal die Schwangerschaften bemerken Edmond und Jules. Die beiden sind zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Aber als Rose sich immer weiter in einer Spirale aus Schulden, Krankheit, Alkohol verliert und stirbt, reiben sich die beiden die Augen und versuchen sich durch einen Roman über eine junge Frau wie Rose ihrer Schuld freizuschreiben.
Dieser Roman „Germinie Lacerteux“ erschien 1865, 5 Jahre vor dem Tod des jüngeren Bruders Jules. Ein Roman, der in der Literaturgeschichte als Schlüsselroman bezeichnet werden kann, weil zum ersten Mal eine Frau aus unteren Gesellschaftsschichten zur tragenden Protagonisten wird.
„Doppelleben“ ist ein packend geschriebenes Sittengemälde, nicht zuletzt über das Leben in der absoluten Kulturmetropole Europas. Die Spiegelung zweier Existenzen, jener der Brüder Goncourt und der Magd Rose. Letztlich müssen sich beide dem Leben geschlagen geben. Man lebt auf engstem Raum zusammen und berührt sich nie. Alain Claude Sulzer zeichnet genau und mit grosser Geste, hält sich nahe an die Tagebüchern der Brüder Goncourt und schreibt doch in seinem ganz eigenen Stil das erschütternde Doppelporträt zweier völlig gegensätzlich eingebetteter Existenzen. „Doppelleben“ beschreibt einen kurzen Moment des Erwachens einer Gesellschaft, die fast ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution die Privilegien einer Oberklasse noch immer als absolute und unumstössliche Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ein Erwachen, das bis in die Gegenwart reicht.
Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Unhaltbare Zustände». Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Im grossen Geplapper und Getwitter weltweiter Info-Inkontinenz sollte mal die Mitteilung an die Zeit gemacht werden, dass kurze Mitteilungen auch höchste Verdichtung geistiger Prägnanz sein können. Schon seit ein paar hundert Jahren: Als Aphorismen.
Gastbeitrag von Burkhard Jahn, Schauspieler und Autor, Zürich
Verweisen wir auf Google, um über die Meister der kleinen Kunstform zwischen Haiku-ähnlicher Dichtung und philosophischer Kurzmitteilung mehr zu erfahren. Und dann soll ein gleissender Scheinwerfer auf das vermeintliche Schattendasein heutiger Aphorismen gerichtet werden, dem die Beleuchtung zusteht. Wo die kleine literarische Form doch so viel Erleuchtung bedeuten kann.
Kurzum – Aphorismen und Notate“ von Martin Liechti, 168 Seiten, 2022, Bucher Verlag, ISBN 978-3-99018-645-9
Einer der produktivsten Meister der Gattung ist der Schweizer Martin Liechti, der nun wieder mit einem Buch voller Luzidität die grösste Aufmerksamkeit verdient. Heute im Zeitalter der Kurzmitteilungen, deren Gehalt sich oft genug in den Namen erschöpft, die sie bezeichnen – SMS, Tweet, Posting – könnte vielleicht ja das Griffige der pointierten Gedanken in Form des Aphorismus zu neuer Blüte gelangen. Hier haben wir es mit einer Kurzmitteilung höchsten philosophischen, didaktischen oder poetischen Nährwerts zu tun. Und das Geistreiche steht – Gott sei es gedankt! – hier weiterhin über dem Zeitgeist, dem Liechti immer wieder den Fehdehandschuh zuwirft: „Sünderlatein“ steht als Titel über der Sentenz: „Jede Freude ist ein Affront gegenüber dem Leiden in der Welt und ihrem leidigen Zustand.“ Und der Titel brandmarkt die lebensfeindliche Phrase als Ausbund des frömmelnden Pharisäertums. Desselben Pharisäertums übrigens, dem die beklemmend aktuelle und so geschliffene Parade gilt: „Kritisieren als vorausgenommene Ablehnung ist gang und gäbe und schliesst die zustimmende Wertung praktisch aus.“ Doch der Klage an der Welt, dem Spott über Welt und Wahnsinn stehen zur Seite die Besonnenheit und der gelassene Blick. Und so empfiehlt sich das Buch als Brevier, als Stundenbuch für Besonnene, für Trostsuchende im Irrsinn des Alltags. Lebenshilfe, Denkgenuss, Amusement und Frappanz liefern Scharfsinn und Esprit der rund 160 Seiten. Immer wieder verblüffend.
„Kurzum“ ist folgerichtig der Titel des Buches, das jetzt im österreichischen Bucher Verlag erschienen ist. Und das ist bereits Liechtis elftes Werk grosser Gedanken in kleiner Form. Ein einfacher Trick, das Buch zu lieben: Es lesen! Ganz einfach!
Martin Liechti, geb. in Jegenstorf (Bern/Schweiz), lebt als Autor in Zürich. Neben Romanen (u.a. «ICH WILL», «Die Schärfe der Unschärfe», «Noch sind wir allein» und «Hic salta») veröffentlichte er vor allem Aphorismen. So «Sätze und Ansätze» (2002), «Vor- und Nachgedachtes» (2005), «Wortund Kopfsprünge» (2008), «Im Fluss …» (2010), «Sage mir …» (2012), »»Geflügeltes» (2014), «Randwärts» (2016), «Keiner weiss, warum (2018) und «Leicht daneben» (2020). Mit über zehn Aphorismenbänden gehört Liechti zu den namhaften Autoren der Gattung.
Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.
Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.
Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.
„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“
Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.
Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.
„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte.
Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.
Interview
Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?
Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“
Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.
Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?
Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten.
Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig.
Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?
32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker
Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder.
Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.
So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?
Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück.
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal…
In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?
6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker
Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte. Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.
So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.
Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?
Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder.
Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden.
Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen.
Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.
Der Physiker Lew Mischenko wird während der Stalin-Ära für 14 Jahre in einensowjetrussischen Gulag verbannt, ein Straf- und Arbeitslager im kalten Norden Russlands, weg von seiner Frau, weg von seinem Leben. Jahrzehnte später fährt Lew zusammen mit dem Historiker Alexander noch einmal mit dem Zug an den Ort verlorenen Lebens.
In sowjetrussischen Gulags starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Bereits in den 70ern machte Alexander Solschenizyn mit Büchern auf das permanente Massaker in diesen Lagern aufmerksam. Was Stalin als Notwendigkeit in seinem Machtapparat zur Waffe gegen das eigene Volk machte, ist bis heute eine offene Wunde in der gemarterten russischen Seele. Obwohl „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und später „Archipel Gulag“ vom Alexander Solschenizyn millionenfach gelesen wurden und der Autor nicht zuletzt für seinen Kampf gegen Unrecht 1970 den Nobelpreis bekam, ist die Tatsache, dass ein ganzes Volk im tödlichen Würgegriff eines totalitären Machtapparats war, fast vergessen. Was in der Gegenwart passiert, müsste deutlich genug sein, dass Staaten, die sich eine einzig richtige Farbe auf ihr Banner schreiben, noch immer alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Folge davon war nicht zuletzt die faktische Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021. Das Nicht-Erinnern-Wollen wird zur staatlichen Maxime. Und wenn man sich erinnern will, dann an ein geschöntes, verklärtes Zerrbild der Vergangenheit. Nicht nur in Russland, auch in vielen anderen Staaten, nimmt man Menschen wegen Nichtigkeiten ihre Freiheit, reagiert man mit aller Härte gegen nicht uniformiertes Tun und Denken.
Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)
Der Schriftsteller Viktor Funk ist Historiker mit sowjetrussischen Wurzeln. In „Wir verstehen nicht, was geschieht“ erzählt der Autor die Geschichte des Physikers Lew Mischenko, den er in Moskau besucht. Lew ist alt und wohnt mit seinem ebenfalls alt gewordenen Hund allein in einer kleinen Wohnung. Seine Frau Swetlana, mit der er fast sein ganzes Leben teilte, wenn auch über ein Jahrzehnt unfreiwillig über tausende von Kilometern voneinander getrennt, musste Lew zu Grabe tragen. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen, Swetlanas Briefe, ein paar zerfledderte Bücher aus seiner Zeit im Lager – und der Hund. Im Roman heisst der Historiker Alexander. Wohl darum, um dem Erzählen jene Distanz geben zu können, um sich nicht in Emotionen zu verlieren.
Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was passiert», Verbrecher, 2022, 156 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95732-536-5
Alexander will jene Menschen interviewen, die den Gulag überlebten. Was gab jenen Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in diesen Lagern aller Menschenwürde beraubt wurden, Hoffnung? Was gab ihnen Kraft, den inneren Kampf aufzunehmen? Wie konnte eine Liebe wie jene zwischen Lew im Lager und seiner Frau Swetlana in Moskau die Zeit der ungewissen Trennung überstehen? Wie kann ein Leben danach funktionieren? Lew empfängt den Historiker in seiner Wohnung, beginnt zu erzählen, etwas, das vielen mit einer Gulag-Vergangenheit auch nach Jahrzehnten schwer fällt.
Doch während der Tage in Moskau bittet Lew den jungen Historiker, ihn nach Petschora zu begleiten, eine Reise zu unternehmen an jenen Ort, der ihm ein grosses Stück seines Lebens nahm, auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Gleichsam überrumpelt wie neugierig geworden treten die beiden die lange Reise in den Norden mit dem Zug an, eine Reise weit weg und ganz nah, eine Reise durch die Gegenwart in die Vergangenheit, eine Reise an einen Ort, von dem Lew gar nie richtig weggekommen ist, eine Reise an einen Ort, an dem viele einen langsamen Tod erleiden mussten und der Physiker Lew nur deshalb überlebte, weil seine Fähigkeiten gefragt waren und Freundschaften hinter den Stacheldrähten ihn am Leben hielten.
„Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Reisebericht eines Historikers in eine eisig kalte Vergangenheit. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Liebesgeschichte zwischen Swetlana und Lew, die allem trotzte. Und „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Geschichte einer zarten Freundschaft zwischen einem jungen suchenden Historiker und einem alten Physiker, der in seinem Leben gefunden hat, wonach andere ewig suchen. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist unsäglich zärtlich geschrieben und von erschütternder Aktualität. Da versucht jemand zu verstehen, was geschieht, im Kleinen und im Grossen.
Das ehemalige Lagergefängnis des Petschor-Lager (Bild: Viktor Funk).
Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman «Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich» erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.
Wie weit hat sich der Mensch von seiner Welt entfremdet? Ist das, was wir Leben nennen, das, was der Bestimmung jener entspricht, die immer mehr das Gefühl haben, es sei Kampf und Abmühen gegen Einsamkeit und dem Gefühl des Verlassenseins? Britta Boerdner fühlt dem „modernen“ Menschen auf den Zahn, schreibt sich in Sphären, die weh tun.
Elena ist umgezogen. Aber sie ist mehr aus ihrem alten Leben ausgezogen, als in einem neuen Zuhause angekommen. Sie ahnt, dass sich die neue Ordnung in ihrem Leben nur dann einrichten lässt, wenn sie sich dem stellt, was sich in Mehrfachschlingen in den vergangenen Monaten um sie festzurrte. Elena ist aus dem alten Leben geflohen, einem Leben, das ihr lange Zeit alles bedeutete, dass sie auszufüllen schien, über das sie sich definierte, das sich ganz selbstverständlich vor ihr auszubreiten schien.
Aber sie musste die Reissleine ziehen, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Es war der Zwang in den freien Fall, ein Schritt ohne Alternative, hinaus aus der Sicherheit, bei der sie sich an ihre Kompetenz, ihre Position, ihren Erfolg zu halten wusste.
«Es gibt keine Ziele, die zu erreichen sind, damit die Beziehung funktioniert – weil wir keine Beziehung haben. Wir können uns frei fühlen.»
Elena arbeitete in einer mittelgrossen IT-Firma in einer Kaderposition, einer Branche, die sich permanenten Umwälzungen ausgesetzt weiss, was sich auch in einer permanenten Anspannung in der Firma ablesen lässt. Für ein besonders heikles Geschäft stellt man ihr einen Consulant, einen Berater zur Seite, den sie sich selbst aus einem Meer von Bewerbern aussuchen kann. Einen um einige Jahre jüngeren Mann, mit dem sie sich aber auf viel mehr einlässt, als das, was beruflich im Büro oder auch einmal in einem Lokal stattfindet. Man trifft sich nach der Arbeit im Hotel, in scheinbar sicherer Distanz zur Welt, die die beiden erkennen könnte. Er ist sportlich, dynamisch, kommt zur Sache, schenkt ihr das, was sie glauben lässt, es gehöre dazu, mache ein Teil des Lebens aus, das ihr zusteht. Er ist verheiratet.
«Manchmal frage ich mich, ob ich mir die Liebe überhaupt noch zutraue.»
Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 256 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-627-00299-2
Damals glaubte Elena, ihrer selbst entsprechend eingerichtet zu haben. Eine Wohnung in einem schmucken Stadthaus, eine Arbeit, eine Stelle mit Perspektive und entsprechender finanzieller Sicherheit. Elena glaubte an dieses Leben, auch wenn sie in stillen Momenten spürte, wie filigran, wie zerbrechlich das Gefüge zu werden drohte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich immer mehr in ihrer Einsamkeit verlor, weil etwas in ihr ahnte, dass das nicht alles sein konnte.
Bis zu jenen Tagen im November, als man sie zu ihrem Chef rief und sich mit einem Mal abzeichnete, dass nichts so bleiben würde, wie sie es sich eingerichtet hatte. Elena wird aus ihrem Leben hinauskatapultiert, rettet sich in ein neues Leben, einen anderen Stadtteil, weit weg von der alten Kulisse, in eine Neubauwohnung, ein Leben, von dem sie hofft, sie würde die Kontrolle zurückgewinnen.
«Manchmal denke ich, wir wollen nichts von der Traurigkeit wissen, die in uns allen steckt.»
„Es geht um eine Frau“ ist die Geschichte der Einsamkeit. Die Geschichte einer Entfremdung. Die Geschichte einer Gesellschaft, die sich an einer künstlichen Welt orientiert, einer Welt, die mit einem Mal abreissen, wegkippen kann. Elena ist die erfolgreiche, dynamische, permanent aktive Frau, die mit einem Mal feststellen muss, dass nichts von dem bleibt, was ihr einstiges Leben ausmachte. Es leben zwar 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Aber nie in der Geschichte der Menschheit zuvor muss „Einsamkeit“ zu einem eigentlichen Krankheitsbild der Gesellschaft erklärt werden. Britta Boerdner schreibt ganz nah an eine Existenz heran, die sich verliert, die zusehen muss, wie man ihr den Boden unter den Füssen wegreisst, wie das Leben sie hinabkippt. Elena fehlt all das, was ihr helfen würde, eine Krise durchzustehen. In ihrem Leben war nie Zeit und Raum für Beziehungen, Freundschaften, ein Zuhause, Bindung.
„Es geht um eine Frau“ ist eine fein gestrickte Gesellschaftsanalyse. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, der mich zur Selbstanalyse zwingt. Ja, es geht um eine Frau. Aber es geht um uns, um mich!
Interview
Ja, tatsächlich „Es geht um eine Frau“. Aber es geht um uns alle, die wir nicht merken, wie sehr wir in einem Hamsterrad rennen, wie sehr wir gefangen sind, wie weit weg wir vom Leben entfernt sind, wie sehr wir uns mit Schein begnügen. Hofft man beim Schreiben eines Romans auf „Bewusstseinserweiterung“, sei es bei sich selbst oder bei jenen, die das Buch lesen? Natürlich mache ich mir beim Schreiben Gedanken darüber, wie dieses oder jenes aufgefasst werden könnte. Aber ich gehe dabei nicht programmatisch vor im Sinn von Effekt, von Aha-Erlebnissen, die ich bei den Leser*innen hervorrufen will. Wenn der Stoff berührt und zu einer gedanklichen Auseinandersetzung führt oder zu einem emotionalen Erkennen – dann ist das natürlich perfekt, das wünscht sich wahrscheinlich jede Autorin, jeder Autor. Dann stößt der Text auf Resonanzräume oder er öffnet sie. Vielleicht könnte man das auch ganz klassisch als Leerstellen im besten Iser’schen Sinn bezeichnen: Textsegmente, die aneinanderstossen und von den Leser*innen gefüllt und in Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Wenn man diese Arbeit der Leser*innen Bewusstseinserweiterung nennen mag, bin ich dabei, und diese Räume zu schaffen ist auch Teil meiner Arbeit. Allerdings ist dabei nicht meine Absicht, zu lehren oder zu belehren. Andererseits ist es so, dass ich vieles noch nicht weiss, wenn ich mit dem Schreiben beginne. Natürlich weiss ich, was mein Thema ist. Aber ich stosse erst nach und nach dazu vor, alles zu erfassen. Dabei fügen sich Dinge zueinander oder ergänzen einander, von deren Verbindung ich zuvor noch nichts wusste. Daher lege ich auch keinen Plot fest, an dem ich mich ausrichte, denn das würde mir etliche Entwicklungen nehmen, ich müsste ihn zu oft umschreiben. Generell ist es so, dass sich manche Passagen wie von selbst schreiben, ich weiss dann, das stimmt so, das ist gut, da braucht es kaum noch Änderungen. In diesen Zuständen – die bei mir leider meist nicht sehr lange dauern – ist das Bewusstsein tatsächlich auf eine Weise erweitert. Ich würde es auch als Bewusstseinsverschiebung bezeichnen: Ich habe dann eine absolute Gewissheit darüber, dass es stimmig ist, was ich gerade schreibe, aber ich bin mir während des Schreibens meiner selbst nicht bewusst. Ich bin nur noch Werkzeug, Hebel, ausführende Kraft. Das alles geschieht sehr schnell und muss ausgenutzt werden, solange es geht. Ein wirklich bemerkenswerter Zustand, auf den ich natürlich immer hoffe. Manche nennen es Flow, ich benutze diesen Ausdruck aber nicht gerne. Für mich klingt das oft so, als müsse man sich nur hinsetzen und dann passiert es irgendwie und alles Weitere ist ein Kinderspiel. Das ist nicht so. Eine unablässige Beschäftigung mit dem Personal und dem, was passieren könnte, ist die Voraussetzung dafür. Einerseits Kontrolle also, Anstauen, andererseits dann völliges Loslassen. Erst dann kann etwas fliessen.
Ihr Roman ist ein Buch über die Einsamkeit. Elena hat sich verloren. Mag sein, dass zwischendurch etwas Einsicht aufblitzt. Abe vor einer wirklichen Richtungsänderung scheint sie sich zu fürchten, denn ein „Neubeginn“ setzt Einsicht nicht unbedingt voraus. Oder täusche ich mich? Nein, keine Täuschung, das stimmt schon so. Elena vermeidet. Sie ist getrieben von dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen und es dadurch auflösen zu können. Den Schock, in dem sie sich durch das vorangegangene verheerende Geschehen befand, hat sie durch eine beinahe obsessive Suche nach einer neuen Wohnung verdrängt. Auch das Sentenzenhafte, mit dem sie ihre frühere Arbeitswelt und ihre Haltung darin reflektiert, ist reine Kopfsache, es führt nicht zu einer inneren Erkenntnis. Sie befindet sich in einem Schwebezustand, in einer Unsicherheit, die sie durch Alkohol und Beschäftigung zu übergehen versucht. Sie fotografiert, sie schaut Filme und Serien. Das ist ihr als Gegenpol zum früheren Leistungsprinzip genug Neubeginn. Man könnte auch sagen, es geht ihr noch nicht schlecht genug für eine wirkliche Richtungsänderung. Sie könnte sich ja auch professionelle Hilfe suchen. Da sie aber gewohnt ist, sich permanent zu übergehen und damit zumindest beruflich erfolgreich war, kommt sie nicht auf diese Idee. Ihre Furcht vor der Konfrontation ist die Furcht vor Kontrollverlust. Die Idee zu „Es geht um eine Frau“ kam mir, als ich zum ersten Mal durch das Europaviertel gestreift bin, ein grossteils sehr luxuriöses neues Quartier in Frankfurt am Main, der Stadt, in der ich lebe. In seiner blendend weissen Symmetrie und Sterilität, mit seinen unbelebten Strassen strahlt es eine unglaubliche Leere aus. Mit dieser Leere und diesem Blendwerk wollte ich etwas machen. Ich habe mich gefragt, wie jemand gestimmt sein könnte, der dort hinzieht. Und ich wusste, es müsste jemand sein, der ebenfalls leer ist, bezugs- und beziehungslos. Das Innen sollte also wie das Aussen sein. Ja, es ist ein Buch über die Einsamkeit, aber auch ein Buch über die Frage der Verantwortung für das eigene Leben und das Leben anderer.
Da ist die Welt, die Blase, in der sich ihre Firma bewegt. Eine Welt ausserhalb scheint es nicht zu geben. Sie nimmt zwar die Hitze des Sommers wahr. Aber alles bleibt Kulisse, selbst die Beziehung zu M., die nicht wirklich eine Beziehung ist, mehr ein Instrument zur Befriedigung entsprechender Bedürfnisse. Elena hat sich verloren. Aber eigentlich haben wir uns in einer künstlichen Realität verloren.
Ganz zu Beginn Ihres Romans schreiben sie „Schlafen wollte ich und aufwachen wie neu geboren“. Mit tatsächlicher Auseinandersetzung, mit Konfrontation hat das nichts zu tun. Obwohl das angesichts der tragischen Ereignisse an ihrem Arbeitsplatz mehr als angemessen wäre. Elena flieht. Wie ein Kind, das die Decke übers Gesicht zieht und „Du siehst mich nicht“ ruft. Spiegelt der Roman Pessimismus? In gewisser Weise ja. Elena flieht auch ganz zum Schluss wieder. Da wechselt sogar der Tonfall, da blitzen in ihren Gedanken banale Ausdrucksweisen auf, Selbstberuhigung durch Lachhaftes und eine stichworthafte Nennung möglicher Reiseziele. Alles zusammen eine Oberflächlichkeit, die fast hysterisch zu nennen ist. Mir schien es einfach nicht richtig und auch zu scheinheilig, ein gutes Ende zu schreiben, eines, das von Innehalten, Selbstwahrnehmung, Mut und einer bewusst daraus entstehenden Veränderung handelt. Hört sich wunderbar an, ein solch möglicher Schluss, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, sich neu zu definieren, wie es in diversen Ratgebern oder Magazinen empfohlen wird. Ändere deinen Style und entdecke dein wahres Ich, Tu endlich das, was du schon immer wolltest, Lerne, Grenzen zu setzen und es wird dir besser gehen und solche Sachen. Vielleicht fügt sich manchmal ein inneres Bild zu einer Erkenntnis, und man denkt, ah, so ist das also mit mir, jetzt verstehe ich. Doch dieses Verstehen muss auch behalten werden und geht doch allzu oft wieder verloren, weil die alten Mechanismen einsetzen. Weil der Alltag alles wieder schluckt, die Anforderungen zu mächtig sind. Tatsächlich etwas Zusammenhängendes von sich zu erfahren ist ein langer Prozess, da ist es mit einem Aha-Moment hie und da nicht getan. Die eigenen Anfälligkeiten, Verführbarkeiten und Schwächen zu erkennen ist schmerzhaft. Nicht jede*r lässt das zu. Und auch, weil jemand, der sich rauszieht und sagt, ich schaff das nicht, ich kann da nicht mehr mitmachen, auch immer noch als Angriff auf die Verhältnisse oder einfach als schwacher Mensch gesehen wird.
Ich hatte im Oktober eine Lesung im Goethe-Institut in Rom, dabei entspann sich ein lebhaftes Gespräch auf meine Frage hin, ob Burnout und Depression in Italien ein gesellschaftliches Thema ist. Die Antwort war ein klares Nein. Burnout sei zwar im Zusammenhang mit Covid im Bereich der Pflegekräfte auch in den Medien diskutiert worden, aber im allgemeineren und auch im privaten Bereich sei es kein Thema. Auf meine weitere Frage, ob man darüber einfach nicht spräche oder ob es wirklich nicht vorkomme, waren die Antworten so schwammig, dass ich mir kein klares Bild davon machen konnte. Ich liess es mal dahingestellt.
Ihr Roman liest sich auch als Kritik an einer Leistungsgesellschaft, die kaum mehr Energie und Freiräume zulässt, um sein Leben für einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ist Schreiben eine Art der Entschleunigung? Ja und nein. Schreiben zwingt mich einerseits dazu, genau hinzuschauen und gleichzeitig den Dingen ihre Eigenzeit und Entwicklung zuzugestehen. Wenn ich schreibe, beschäftige ich mich unablässig mit dem Stoff, dann laufe ich durch die Stadt oder suche mir etwas, das Impulse setzt, Besuche von Ausstellungen etwa oder Musik und Filme. Meistens kann ich durch diese Anregungen einen Bezug zu meinem Thema herstellen, dann blitzt in den besten Momenten etwas auf, woran ich vorher noch nicht dachte. Das ist tatsächlich eine Art Entschleunigung durch eine andere Art der Wahrnehmung, die in einem eng getakteten Alltag nicht möglich ist. Durch das Schreiben gebe ich die normale Gangart auf und bin doch gleichzeitig viel enger mit meiner Umgebung verknüpft. Nichts mehr mit Entschleunigung zu tun hat allerdings das Editieren. Das ist das „andererseits», die beinharte Arbeit, die viel Kraft kostet, und zwar ganz zeitgebunden.
Britta Boerdner, geboren in Fulda, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und Historische Ethnologie. Ihr Debütroman «Was verborgen bleibt» erschien 2012 bei der FVA. Für «Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam» (FVA 2017) erhielt sie das Inselschreiber-Stipendium der Sylt Foundation und das Stipendium des Hessischen Literaturrates in der Emilia Romagna. Britta Boerdner lebt in Frankfurt am Main.
Sonnenaufgang. Das Zicklein nähert sich der Stadt über die A9 und bricht sich schließlich selbst eine Ausfahrt durch Leitplanken und Birkenschonung. Mit Vorbedacht schweift es in weitläufigen Mäandern, um den Grad seiner Verheer-ungen noch großflächiger zu gestalten. Von den Laubenkolonien zwischen A9 und dem Bahndamm bleibt so nur Schreberschredder übrig. Dabei absolviert es all das nur zum Warmwerden. Sein Ziel ist ein anderes. Punkt dreizehn Uhr wird das klar. Da bewegt es sich in gerader Linie auf den größten städtischen Uhrmacher zu und verwandelt auf dem Weg Schlachthof und Käserei in staubquirlenden Schutt. Der Uhrmacher hört keinen Ton davon. Er hält seinen Mittagsschlaf.
Die ganze Uhrmacherfamilie wird nicht wach vom herannahenden Dröhnen, obwohl ihr die Unruhen aus allen Weckern springen und die Kuckucke aus ihren Kuckucksuhren das Haus aus allen Fenstern verlassen. Dabei schnarcht jeder einzeln nicht einmal besonders laut. Je einzeln flappen ihnen lediglich die Lippen ein wenig beim Ausatmen. Gemeinsam allerdings schnarchen sie ohrenbetäubend: der Uhrmacher auf der Schlafcouch, der Großvater am Katheder und seine sieben Enkel auf den Schulbänken. Das Zicklein blinzelt nun zum Fenster dieses Klassenraumes hinein und überfliegt des Großvaters archimedisches Gekritzel: eine Inspiration. Sodann dreht es sich angelegentlich um, steckt sein Köpfchen in den Fluss und fängt gewaltig an zu saufen. Zugleich aber hebt es das Schwänzchen und füllt das Haus der Schlafenden vom Keller an durch seinen Schornstein auf.
Ein druckvoller Pumpstrahl. Bald schon sieht man die Uhrmacherfamilie vor den Fenstern aller Stockwerke treiben und unter den großen Augen her die Lippen stimmlos zu einem entsetzten: „Helft uns!“ formen, zu einem „Aber so helft uns doch!“ Die Nachbarn aber sind beschäftigt. Sie haben, als sie sehen, dass auch nicht ein Tröpfchen Flusswasser in ihre Richtung sickert, die Fernsehsessel vors Fenster gerückt und nehmen ihr Abendbrot ruhig vor den hilflosen Zuckungen der Uhrmacher-Familie ein. Nur der Großvater hat sich genug Geistesgegenwart bewahrt. Er arbeitet sich durch die umhertreibenden Möbel zu seiner Schiefer-tafel vor, wischt alles Archimedische mit einem Strich seines Jackett-Ärmels aus und schreibt in großen Buchstaben: „Eine Million Belohnung. Randalierendes Zicklein zum Abschuss freigegeben.“ Kaum ist das erledigt, schwimmt er zu seinem Katheder zurück, macht es sich dort wieder bequem und atmet, nach einem allerletzten Bleistiftspitzen, tief ein, um sich das Sterben einfacher zu machen.
Der Einzige, der sich von dieser Bekanntmachung angesprochen fühlt, ist ein Bäckerjunge aus der Nachbarschaft, der hin und wieder mit den Söhnen des Optikers in den Fluss gepinkelt hat. Er klemmt sich in der Backstube eine Packung feinen Mehls und ein Nudelholz unter den Arm und läuft hinunter zum Fluss. Hier hat das Zicklein das Haus des Uhrmachers eben bis zum Schornstein angefüllt und hebt den Kopf, um einmal tief einzuatmen. Im gleichen Augenblick wirft der Bäckerjunge die Packung Mehl in die Luft und stäubt es mit einem beidhändigen Schlag mit dem Nudelholz dem Zicklein gerade vor die Nüstern. Fast erstickt es daran, meckert jedoch zwischen den Niesattacken: „Hilf mir! Aber so hilf mir doch!“ Statt einer Antwort zeigt der Bäckerjunge in Richtung des Glasportals, hinter dem der Optiker und seine Familie inzwischen in Embryonalstellung treiben. Keuchend kriecht das Zicklein darauf zu, niest die Lichtschranke auf und kühlt das Mehl in Mund und Nase mit dem Fluss, der ihm nun wieder entgegenströmt. Diesmal aber ersäuft es daran, weil ihm der Bäckerjunge auf den Schwanz getreten ist. Die Nachbarn sehen im Frühstücksfernsehen, wie die Kuckucke in den Laden des Uhrmachers zurückkehren, wo der Bäckerjunge im Wasserschaden steht und etwas auf die Tafel des Großvaters kritzelt. Es dauert aber das ganze Frühstück über, bis die Kreide in der Morgensonne getrocknet ist. Erst jetzt können sie entziffern: „Die Uhren sind umgestellt worden!“ Zu spät begreifen sie, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. So hat das Zicklein noch im Tod alle sieben Söhne des Uhrmachers wiedergeboren und diese Sieben haben bis zum Morgengrauen nicht allein ihre Bäckerlehre absolviert, sondern ihnen außerdem all ihre verlorenen und gesprungenen Unruhen in die Frühstücksbrötchen gebacken.
DER SPÄTE ZWIST
Die hundertjährigen Zimmermädchen waren für die ganze Bettenburg zuständig. Aber ihre Enkelin, die Hotelfachfrau, hatte sie nicht richtig eingeteilt. Denn die eine schüttelte ihre Plumeaus nun schon seit neunundneunzig Jahren mit Seeblick aus, während die andere sich dabei mit einem Blick ins Binnenland begnügen musste. So begannen die Zwillinginnen einander zu hassen und nahmen ohne Absprache mit ihrer Enkelin am Animationsprogramm teil. Die eine als Krustenbrot-, die andere als Granny-Smith-Granny, weil die eine Backwaren, die andere Obst aus ihren Decken schüttelte. Auf beiden Gebäudeseiten kamen so Hotelgäste zu Schaden. Doch obwohl nur die Tochter eines Straßenbauers und die eines Grobschmiedes ernsthafte Verletzungen davontrugen, wurden die Hotelfachfrau und ihre Großmütter fristlos entlassen. Vergeblich suchten sie an der Küste eine neue Anstellung. Doch auch im Binnenland hat es keine der Alten mehr geschafft, einen Baum oder einen Backofen erneut zum Sprechen zu bewegen.
GEFRIERBRAND
Schon in der Berufsschule genoss sie den ganzen Respekt ihrer Klassenkameraden. Vom Augenblick ihres ersten Erscheinens an. Ihrer sargförmigen Brille wegen, die sie selbst geschreinert hatte. Noch nie hatte ein Mädchen mit so geschickten Händen Bestatterin werden wollen. Ihr Meister hatte ihr zu Anfang nicht viel zugetraut. Doch gleich im ersten Lehrjahr zeigte sie so viel Kunstfertigkeit und Ausdauer als Leichenwäscherin, dass er schon im zweiten persönlich ihre Unterweisung übernahm. Ein Jahr, das sie mit dieser Brille abschloss. Die brachte ihre eisgrauen Augen nun derart vorteilhaft zur Geltung, dass es bald keinen Kunden mehr gab, der davon nicht zum lebenslangen Thanato-Erotiker geworden wäre.
Es hieß, sie habe das Talent von ihrer Mutter geerbt. Einer Frau von so grandioser Hässlichkeit, dass jeder Galan, den sie mit sich zu beglücken suchte, bei ihren unanständigen Anstandsbesuchen mit einem männlich-kühnen Sprung aus dem Fenster floh. Ganz gleich, um welches Stockwerk es sich handelte. Der Vater der Bestatterin hatte dem Himmel sei Dank jedoch nur in der dritten Etage gewohnt und war aus diesem Grund nicht vollständig zerschmettert worden. Die dritte Etage ist bekanntlich die der Querschnittslähmungen. Es wird für immer das Geheimnis ihrer Mutter bleiben, wie sie ihren Traummann steif bekam, als sie sich noch in dem Maulbeerbaum, der ihn abgefangen hatte, isishaft auf ihn setzte.
Das Kind wurde von der Alten verwöhnt wie weiland Aschenputtel. Dies war das Ideal ihrer Erziehung: Das Mädchen schlief in einem Taubenschlag. Sein erster vollständiger Satz war folglich: „Ruckedigu!“ So war ihre Kindheit akustisch eingefasst in dies halb daunene, halb quietschende Geflatter. Neun Jahre lang hatten die Tauben versucht, sie in ein ausgiebigeres Gespräch zu verwickeln, doch das Mädchen blieb verstockt. „Ruckedigu!“ Neun Jahre war sie alt, als der Mann vom Jugendamt sie fand: von Taubendreck geteert, von Daunen gefedert und in ein so gründliches Schweigen eingefasst, dass von einer regulären Einschulung nicht mehr die Rede sein konnte. So kaufte man ihr von Staats wegen die Lehrstelle bei diesem Bestatter, der selbst als ebenso rechtschaffen wie wortkarg galt.
Wie schon erwähnt, stellte sich die Kleine bereits mit zwölf Jahren derart verständig an, dass ihr Meister bald Vertrauen zu ihr fasste. Und das so sehr, dass er schließlich nur noch mit ihr die lockere Erde über den Särgen festtrampelte, während die Gemeinde den Kirchhof verließ. Wer sich von den Nachzüglern, durch das dumpfe, rhythmische Tönen aufmerksam gemacht, noch einmal umwandte und die beiden, bis zu den Nasenspitzen aus dem neuen Grab ragend, in dieser merkwürdigen Polka begriffen sah, drehte sich sofort wieder um, wurde jedoch bis ins hohe Alter hinein von dem Traum heimgesucht, selbst in diesem trampolinierten Sarg zu liegen. Der Traum wurde zum Gesellenbrief des Mädchens.
Um diese Zeit herum fand man auch ihre Mutter. Sie hatte, vollständig ausgeweidet und perfekt geschminkt, seit drei Jahren vorm Spiegel einer Eisdiele gesessen und sich, über einen nie endenden Maulbeer-Shake hinweg, selbst fortwährend ins hohle Auge geblickt. Wie immer hatten alle an ihr vorbeigeschaut: die Gäste, die Bedienungen, selbst die Putzfrauen. Erst, als die Matriarchin des Familienbetriebs höchstselbst aus Neapel anreiste, weil der Verzehr von Tisch neun nun schon so lange zu wünschen übrigließ und die Mumifizierte, kurzsichtig wie sie war, ohne viel Federlesens anstibbte, zerfiel die prompt zu Staub. Die Zugluft durch die Gäste, die zu allen Ausgängen hinausdrängten, ließ sie so restlos verwehen, dass nicht einmal das kleinste Körnchen für einen DNA-Test übrigblieb.
REISE NACH JERUSALEM
Seit der Fuhrpark der Bundeswehr zur Deckung der Flugschulden des Verteidigungsministers versteigert worden ist, finden die Truppentransporte ausschließlich per Bahn statt. Ich bedaure das sehr, denn ich schätze dieses Fortbewegungsmittel außerordentlich. Besonders durch die Hooligans, die ihre Sozialstunden seit Neuestem bei den Pionieren ableisten dürfen, ist an die ruhige, distinguierte Art des Reisens, wie ich sie gewohnt war, nicht mehr zu denken. Nicht einmal meiner Anregung, die Eingänge zur Ersten Klasse durch Wachen abzuriegeln, oblag das Management der Bahn. So brachen denn auch vor dreizehn Tagen wieder Horden von Randalierern durch den nächtlichen Zug, verschütteten Sambuca und hörten selbst dann nicht auf, ihn vom Boden zu lecken, als dieser glatzköpfige Fettwanst … Ich bitte um Verzeihung: Als dieser übergewichtige Kahlkopf auf die Idee kam, ihn anzuzünden. Anna war dieser Geruch nach Grill selbstverständlich nicht zuzumuten, deshalb wies ich den Diener an, unsere Abteiltür zu schließen. Bedauerlicherweise machte das den Kahlkopf auf uns aufmerksam. Besonders auf Anna. Dumpf stierend ließ er sich auf einen der Klappsitze im Gang fallen und versank, ebenso somnambul wie impertinent, wie entrückt in ihrem Anblick. Es half nur wenig, dass der Diener sich zwischen die beiden schob. Sein Gesicht an der Scheibe platt drückend, fand der Dicke immer wieder einen Winkel, um hereinzugaffen. Nicht einmal, als ich Anna anbot, den Platz mit ihr zu tauschen, gab er Ruhe. Ebenfalls nicht, als wir mehrmals hin und her tauschten. Im Gegenteil: Mit einem Mal fanden wir den übergewichtigen Herrn sogar im Abteil vor, wo er versuchte, seine erstaunlich großen Hände in Annas Muff unterzubringen.
Ich erhob mich, um Protest anzumelden, doch das hochgerissene Knie des Kahlkopfes ließ mich in Embryonalstellung zusammenfahren. So hatte ich kein Ohr für die beiden Schläge. Nicht für den klingenden. Und nicht für den dumpfen. Doch als sich meine edleren Teile wieder erholt hatten, sah ich den schweren Herrn zu meinem Erstaunen reglos zu meinen Füßen liegen und Anna in lebhaftem, wenn auch flüsterndem Gespräch mit dem Diener. Ihr Haar war ein wenig in Unordnung geraten. Gerade öffnete ich den Mund, um sie darauf aufmerksam zu machen, als sie mich in einem Ton, der zu meinem Bedauern keinerlei Notiz von meinen zahlreichen Blessuren nahm, aufforderte: „Komm jetzt! Pack an!“
Ein wenig konsterniert, aber doch hilfsbereit, bemühte ich mich nun mit den beiden, den unhandlichen Körper durch das geöffnete Fenster zu bugsieren. Allein: Unsere Anstrengungen waren vergeblich. Der vorspringende Bauch des auskühlenden Kahlkopfes ließ ihn immer wieder zu uns hereinprallen. Im Gang brachen inzwischen, nun immer stärker vom Sambuca belebt, erneut die Hooligans vorbei, scheinbar auf der Suche nach ihrem Anführer. Zum Glück hatte der Diener, wenn auch ohne jede Aufforderung, die Vorhänge unseres Abteils geschlossen.
Anna überzeugte uns nun mit dürren Worten davon, den Dicken in einem unserer frisch aufgeschüttelten Betten zu deponieren und uns selbst aufs Dach des Zuges zu verfügen. Gesagt, getan. Kaum hatten wir Anna an ihren unvergleichlichen Fesseln in die Höhe geschoben, als sie den Diener auch schon mit beherztem Griff zu sich heraufzog. Dann diese kleine Ungeschicklichkeit meinerseits, die sich jedoch bald als sehr vorteilhaft erweisen sollte: Während die beiden mich aus dem Fenster zogen, verhakte sich mein linker Fuß an dessen Griff, sodass ich es, freilich ohne dies beabsichtigt zu haben, fast zur Gänze schloss. Zudem stellte mein Schuh, der mir, als mich die beiden mit einem kräftigen Ruck aufs Dach beförderten, entglitt und zur Abteiltür kollerte, die Hooligans, die ihren Anführer schließlich in Annas Bett wiederfanden, vor ein schier unlösbares Rätsel. Den ganzen Zug durchsuchten sie nach dem Besitzer dieses Schuhs. Der Gedanke, einen Blick aufs Dach zu werfen, kam ihnen, aufgrund der Lage des Schuhs, nicht.
Dem Diener, der die Geistesgegenwart besessen hatte, sich beim Angriff auf Annas Muff der leeren Sambuca-Flasche zu bemächtigen und damit einen so glücklichen Schlag gegen das Genick des Glatzkopfes zu tun, dass er dort irgendetwas Lebenswichtiges verschob oder durchtrennte, ohne dass auch nur eine Wunde zu sehen war, sagte ich auf der Stelle eine angemessene Gehaltsaufbesserung zu. Unser Plan war, uns beim Halt im nächsten Bahnhof in die Arme des frisch privatisierten (also motivierten) Bundesgrenzschutzes zu werfen und ihn um Beistand gegen die trunkene Horde anzurufen. Ein ausgesprochen aussichtsreicher Plan, wenn wir ihn auch bedauerlicherweise noch nicht haben ausführen können.
Seit dreizehn Tagen hat der Zug nämlich nun nicht mehr angehalten. Ein Truppentransport eben. Wir hätten es wissen müssen. Gut, dass Anna vorgestern auf den Gedanken kam, unsere regennassen Kleider gegen den Durst auszuwringen. Ich selbst beobachte trotz meines furchtbar frierenden Fußes – über den mir den beiden gegenüber selbstverständlich auch nicht ein einziges Wort über die Lippen kommt – noch immer aufmerksam den nächtlichen Himmel. Ich schweige eisern. Obwohl das Ziel unserer Reise inzwischen, besonders in sternenklaren Nächten, deutlich auszumachen ist. Denn inzwischen bewegen sich bereits in der neunten Nacht Teile des Hindukusch als frische Asteroiden in Richtung Hardthöhe.
Andreas H. Drescher, 1962 in Griesborn/Saar geboren, studiert Germanistik, Politik und Philosophie in Köln und lebt als freier Autor und Künstler in Saarlouis. 2016 erscheint sein erster Erzählungsband „Die Rückkehr meines linken Armes“ in der EDITION ABEL. Der Roman „Kohlenhund“ erscheint 2018. Mit „Schaumschwimmerin“ legt Drescher den Nachfolge-Roman zu „Kohlenhund“ vor.
Heike Puderbach, 1966 geboren in Saarlouis, 1985 Abitur,1986-91 Auslandsaufenthalte in Paris und Norwich, 1991 Studium der Bildhauerei, Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken, 1992-97 Studium Produktdesign, HBK Saarbrücken, seit 1998 Freiberuflerin in den Bereichen Bildende Kunst, Design, Grafik, Inneneinrichtung, 1999 saarländischer Staatspreis für Produktdesign, 1999 Atelier in Paris, Ausstellungen in Montparnasse, 2017 Designerin bei Villeroy und Boch
Es gibt in der Literatur Namen, die versprechen. Namen, die mich selten oder nie enttäuschen. Denen ich deshalb treu bleibe. Namen wie Ralf Rothmann, der mit seinem neusten Buch „Nacht unterm Schnee“ einen zeitlosen Roman über das Verlorensein schrieb.
Wenn in der aktuellen Diskussion über das Gemetzel in der Ukraine als erster Krieg auf europäischem Boden seit dem zweiten Weltkrieg gesprochen wird, dann spricht das für Ignoranz, Unwissen, Verdrängung und Augenwischerei. Auf Zypern stehen sich nach einem blutigen Putsch in den 70ern in Griechenland seit Jahrzehnten bewaffnete Parteien gegenüber und die Balkankriege in den 90ern forderten wohl eine Viertelmillion Opfer. Beides Konflikte, die noch immer weiterschwelen, die noch längst nicht ausgestanden sind. Wir brauchen die Verdrängung wohl schon deshalb, um die Hoffnung auf „bessere Zeiten“, den Glauben, die Menschheit wäre lernfähig, man könnte Konflikte auch unblutig bewältigen, nicht zu verlieren.
In Zeiten, in denen die letzten Täter und Opfer des zweiten Weltkriegs sterben und Geschichte und Geschichten damit endgültig Erinnerung werden, sich mit den Schwarzweissbildern jener Zeit der Schleier des langsamen Verschwindens über jenes Grauen legt, sind Romane wie „Nacht unterm Schnee“ mehr als wichtig. Angesichts der Reaktion vieler, die nichts mehr von Krieg hören wollen und erklären, sie hätten genug davon, ist die Lektüre solcher Bücher neben aktiver Hilfe eine der wenigen Möglichkeiten, sich der eigenen Sicherheit, des unverdienten Privilegs bewusst zu werden.
In „Nacht unterm Schnee“ erzählen zwei Stimmen; Luisa vom Leben in und um Kiel in den letzten Tagen des Krieges und in der Zeit danach – und eine auktoriale Erzählstimme, die von Elisabeth erzählt, die in den letzten Wochen des Krieges schlussendlich in einem bunkerähnlichen Verschlag im Nirgendwo von einem russischen Soldaten gepflegt wird, nachdem sie sich vergewaltigt, erniedrigt und verwundet in einer Blutspur durch den Schnee schleppte. Von der Freundschaft zweier Frauen, die exemplarisch sind, nicht nur für jene Zeit während und nach dem Krieg, sondern bis in die Gegenwart; jenen, die es schaffen, sich in einem eigenen Leben von Zwängen der Gegenwart zu emanzipieren und jenen, die es trotz grösster Anstrengung und Sehnsucht nie schaffen, sich aus der Geschichte zu befreien. „Nacht unterm Schnee“ ist der letzte Band einer Trilogie, der sich nach „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ mit eben jener Frage der „Leidvererbung“ beschäftigt.
Wenn Luisa nicht lernt, arbeitet sie in der Casino-Kneipe, die ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters in Kiel führt, einer Kneipe, in der sich in den Tagen vor und nach Ende des Krieges das Publikum vollkommen ändert, in einer Stadt, die in den letzten Tagen des Krieges arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. In jener Kneipe arbeitet auch Elisabeth. Ein paar Jahre älter als Luisa, aber auch mit einer ordentlichen Portion Lebensmut mehr ausgerüstet. Sie ist zwar verlobt mit dem Melker Walter, aber das hält sie nicht davon ab, mit der einen oder anderen Zuwendung eines Gastes ihren dürftigen Lohn aufzubessern. Überhaupt scheint sich Elisabeth mit jeder Zelle ihres Seins an den Freuden des Lebens festzuklammern, als hätte sie nach dem, was sie zuvor erlebte und was sie mit niemandem je teilte, das Recht, das zu nehmen, was ihr zusteht. Während es Luisa schafft, mit Bildung, einem Studium und der Rückendeckung eines Familienrests sich eine eigene Existenz aufzubauen, ein Leben in Unabhängigkeit, bleibt Elisabeth gefangen in den Nachwirkungen des Krieges, in Abhängigkeiten, einem Gespinst aus Lügen und Täuschungen, rauchend und nicht unempfänglich für den Exzess im Alkohol. Luisa, die den Kontakt zu Elisabeth auch dann nicht verliert, als diese den stillen Walter heiratet, ebenfalls Versehrter in den Wirren des Krieges als SS-Soldat und mit ihm auf einen Hof im schlesischen Missunde zieht und zwei Kinder bekommt, einen gesunden Jungen und später ein Mädchen mit Geburtsfehlern, bleibt kinderlos. Bei einem der Besuche in der kleinen Kate, in der Walter und Elisabeth hausen, als Elisabeth im Krankenhaus liegt und man wegen Geburtsschwierigkeiten um das Leben Elisabeths bangen muss, kommt es zur einen Nacht, in der sich Luisa und Walter in ihrer Leidenschaft verlieren. Eine Nacht, die Jahrzehnte nachhallt.
„Nacht unterm Schnee“ ist die Geschichte zweier ganz unterschiedlicher Frauenschicksale, die aber untrennbar miteinander verbunden und verwoben sind. „Nacht unterm Schnee“ ist aber auch ein Roman über die Sehnsucht, das ewige Suchen nach Liebe und Anerkennung. Ralf Rothmann erzählt mit absoluter Souveränität, schildert Zeiten und Leben, als würde ich als Leser den Rauch in der Casinokneipe oder die dampfenden Kühe riechen. Ralf Rothmanns Erzählen ist ganz nah und doch von einer beinahe zärtlichen Distanz. „Die Nacht unterm Schnee“ entwickelt einen vergegenwärtigenden Sog, der trunken macht.
die noch unvollständige Rothmann-Bibliothek
Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin. Ralf Rothmann ist vielfach ausgezeichnet und zählt zu den Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.
«Eine Handschrift! Eine Handschrift, wann hat man diese heutzutage noch? 1000 Dank dafür!» Tanja Warter, C. H. Beck Verlag
«Lieber Gallus, vielen Dank für euer schönes Literaturblatt, es informiert mich durch die individuelle Gestaltung auf ganz besondere Weise über neue lesenswerte Bücher. Es ist in etwa so, als würde ein Freund mir persönlich schreiben, welche Bücher ihm besonders gefallen haben und das ist immer noch die beste Werbung für ein Buch. Euer Literaturblatt passt zudem wunderbar zum Bodmanhaus, der kleinen Buchdruckerei und dem gemütlichen Gästezimmer in dem ich gerne einige Tage zugebracht habe. Ich wünsche euch weiterhin viele schöne Lesungen im Literaturhaus Thurgau.» Norbert Scheuer
«Ich frage mich, wie er das macht, Gallus Frei, seine Auswahl treffen, unwegsames Gelände scheint ihn anzuziehen, Klüfte, Schründe, schattige Talseiten, felsige Narbenhöcker, krautige Flechten untersucht er mit derselben Begeisterung wie die hübschen, sonnenverwöhnten Plätzchen. So präzise, so scharfsinnig bringt er seine Betrachtungen zu Papier, erfreulich analog mit Kugelschreiber geschrieben. In und zwischen den Zeilen funkelt eine ansteckende Neugierde – ein zugewandtes, wahrhaftiges Interesse an Literatur. Sie feiert er, könnte man sagen, ihr widmet er mit der Gestaltung dieser Blätter ganz unzeitgemäss viel Zeit. Danke dafür!» Ursula Fricker
Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich. Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt. Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.
Sulvaschin ist ein Ort im Kanton Graubünden, ein fiktiver Ort in einem Bergtal. Lisa, die Erzählerin in Andri Perls Erzählung kehrt auf Forschungsreise zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort ihrer Familie, an den Ort, an dem Ihr Vater verschwand und sich über sein Verschwinden ein Mantel des Schweigens legte.
Es gibt Bücher, die sich ganz leise gebärden. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Andri Perl Musiker. Seine Erzählung „Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein leises Stück Literatur, eine Erzählung, die nicht nur in ihrem schönen Titel ein Leuchten zurücklässt. “Im Berg ist ein Leuchten“ ist eine Liebesgeschichte an einen Ort, ein Dorf, ein Tal, auch an die Menschen, ihre Besonderheiten, die fest mit den Besonderheiten des Tals, der Gegend, der Topographie verbunden sind.
Sulvaschin hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die mit dem Berg, dem Stein verbunden ist, denn über Jahrhunderte versprach der Berg Reichtum. Man glaubte, im Bergbau dem Fels jene Geheimnisse entlocken zu können, die dem Tal weit über die Grenzen Bedeutung geschenkt hätten. Ein Unternehmen, das immer wieder scheiterte, im Berg aber viele Narben hinterliess, Löcher, Stollen, Minen. Scheiterte und Opfer hinterliess, Leben, die sich im und am Berg verloren.
Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten» Elster & Salis, mit Illustrationen von Adina Andres, 2022, 120 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-03930-041-9
Auch Lisas Vater ist eines dieser Opfer. Er verschwand, sehr wahrscheinlich im Berg. Lisa besucht jenen Ort, das Tal, in dem das Militär nach der endgültigen Aufgabe aller Bergbauversuche, einen Schiessplatz einrichtete, einen Übungsplatz, sich auch wieder zurückzog und das Tal sich selber und all den Geistern überliess. Dort, wo über Jahrhunderte das Hämmern am und im Berg am Fels hallte, später das Schiessen aus allen möglichen todbringenden Rohren, eroberte sich in den letzten Jahrzehnten die Natur ihren Platz zurück. Jenes Stück Tal unweit des Dorfes wurde zu einem Refugium vieler Pflanzen und Tiere, die nur dort noch einen Lebensraum finden; Vögel, Fledermäuse, Falter, Blumen.
Sulvaschin war über die Jahrhunderte Schauplatz aller möglichen wirtschaftlichen Interessen. Selbst in der Gegenwart hätte man es gerne gesehen, im Tal mit einem Steinbruch Fels zu Geld zu machen. Lisas Vater hatte sich damals gegen die Zulassung eines solchen Steinbruchs gewehrt, stellte sich den Interessen der Dorfregierung entgegen. Und als er verschwand, förmlich vom Boden verschluckt wurde, war sein Verschwinden erst einmal Ursprung wildester Vermutungen. Lisa erforscht eben diese Höhlen, diese Löcher im Berg, diese Narben im Berg. Aber eigentlich erforscht sie auch das Verschwinden ihres Vaters, jenen seltsamen Ort unweit des Dorfes, der Blumen und Tieren eine Heimat gibt, die sonst kaum anzutreffen sind. Einen Ort, mit dem Geschichten verbunden sind, die nicht zu erklären sind. Einen Ort, wo das Unmögliche verschwindet und das Ewige zu Leuchten beginnt. Einen Ort, der über die Jahrhunderte einen Schatz versprach, den man nie fand, der mit dem Suchen danach aber nie zu leuchten aufgehört hat.
Andri Perls wunderschön gestaltetes und von Adina Andres illustrierte Erzählung ist ein funkelndes und leuchtendes Stück Literatur, dass auch sprachlich mit feinen und zarten Strichen zeichnet. Eine Erzählung, die das Mythische, Unerklärbare mit sich nimmt und die Erzählstimme in einer ganz eigenen Mischung zwischen Legende, Sage und Erzählung schweben lässt. Andri Perls Erzählung steht in einem seltsamen Kontrast zur eigentlichen Absicht der Protagonistin, die Erklärungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sucht.
Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013). Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schriftstellernationalmannschaft. 2019 ist er Träger des Bündner Literaturpreises.