Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.

Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.

Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.

Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.

Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.

Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.

In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.

Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.

Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.

Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.    

Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.

Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.

Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.

Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?

Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)

F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.

Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?   

Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.

Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.

Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.

Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.

 

Rezension

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Daniel Nussbaumer

Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach

Am 9. Juni Gast im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar schreibt über gesellschaftliche Phänomene, die in Japan einen Namen haben. Vom Hikimori in ihrem Roman „Ich nannte ihn Kravatte», von Menschen, die sich vor dem Leben in einem Zimmer verschliessen. Von einer fehlenden Geschichte, einem fehlenden Leben, das man sich mieten kann in „Herr Katō spielt Familie“ und vom unbemerkten, stillen Sterben in ihrem neusten Roman „Oben Erde, unten Himmel“. Von Phänomenen, für die man bei uns nicht einmal einen Namen hat.

Als ich Milena Michiko Flašars neuen Roman „Oben Erde, unten Himmel“ zu Ende gelesen hatte, war ich glücklich. Gute Bücher zu lesen ist ein Geschenk. Und doch macht die Lektüre guter Bücher nicht immer glücklich. Vielleicht reisst das Thema an der Seele, vielleicht steht der Sound des Buches quer, vielleicht kämpfe ich mit inneren Bildern. Nicht so bei Milena Michiko Flašar, und zwar nicht erst mit ihrem neusten Roman. Warum das der Autorin gelingt, erahne ich nur, denn die Themen, in die sie taucht, sind alles andere als jene, mit denen es sich leicht leben lässt. Milena Michiko Flašar konfrontiert mich mit derart viel Körperlichkeit, mit Vergänglichkeit, dem Sterben und dem Tod, dass es unmöglich wird, das eigene Sein, das eigene Leben mit der Lektüre nicht zu befragen. Welche Ordung, welche Unordung hinterlasse ich, wenn ich dereinst meinen letzten Umzug antrete? Wie habe ich mein Leben ein- und ausgerichtet? Lebe ich ultimativ oder noch immer im Glauben, mit dem tatsächlichen Leben auch noch morgen beginnen zu können?

„Leben probiert man nicht aus. Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe. Keine Wiederholungen.“

Suzu ist jung und lieber allein. Das Zusammensein mit ihrem Hamster reicht ihr, auch wenn er ihr Sorgen bereitet, weil er sich nur nachts zeigt. Und weil man ihr ihre Stelle in einem Restaurant gekündigt hat mit der Begründung, sie zeige sich zu wenig kommunikativ, zu wenig empathisch, macht sie sich widerwillig auf die Suche nach einem neuen Job, schreibt Bewerbungen und bekommt auch wirklich einen Anruf, der sie zu einem Vorstellungsgespräch einlädt. Der Mann im zugestellten Büro stellt sie ein, obwohl Suzu erst im Verlauf des Gespächs merkt, worauf sich die Reinigungsfirma spezialisiert hat. Herr Sakai führt eine Leichenfundortreinigung, erst seit ein paar Jahren, zur Expansion gezwungen, meist von Ämtern gerufen, in Wohnungen von Menschen, die unbemerkt sterben, für Wochen, manchmal sogar Monate in ihren Wohnungen liegen bleiben, bis Gerüche und Ungeziefer nicht mehr zu leugnen sind.

Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach, 2023, 304 Seiten, CHF 35.50, ISBN 978-3-8031-3353-3

In Japan nennt man dieses Phänomen Kodokushi (einsames Sterben). Nicht der unbemerkte Tod ist das eigentlich Erschreckende, sondern die Volkskrankheit „Einsamkeit“. Ein gesellschaftliches Phänomen, das sich nicht auf Japan beschränkt, nur vielleicht die Art und Weise, wie man mit einer solchen Entwicklung umgeht. Herr Sakai versteht sich nicht nur als Dienstleister. Wenn er die Wohnung eines still Verstorbenen betritt, spricht er zu allererst ein Gebet und beginnt mit den abtransportierten Verstorbenen einen Dialog, ein vorsichtiges Beschwörungsritual, um der Hinterlassenschaft eines Lebens mit grösstmöglichem Respekt zu begegnen.

Suzu gibt sich in ihre Arbeit, weil die Arbeit Aufgabe ist, weil sie sich in der kleinen Mannschaft von Herrn Sakais Firma zum ersten Mal als ein Teil eines Ganzen erlebt. Weil ihr Herr Sakai das gibt, was ihr nicht einmal die Familie geben konnte. Nicht nur geforderte Ergebenheit und die Erfüllung ausgesprochener und unausgesprochner Erwartungen, sondern jenen Respekt, den Herr Sakai den Lebenden und den Toten entgegenbringt.

„Wer liebt einem denn? Am Ende? Wen wird man geliebt haben?“

Milena Michiko Flašar reisst eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin erzählt mit grosser Nähe und aller verfügbarer Liebe für menschliche Eigenheiten, von Suzu, die auf der Suche nach ihrem Glück ist, von Herrn Sakai, der sich durch seine eigene Geschichte in jene Bestimmung gestellt weiss, die er zuvor ein Leben lang vermisste, von Frau Langfinger, die sackweise Gummidrops aus Geschäften klaut und sie überall verteilt, in der Hoffnung, möglichst bald wieder im Gefängnis zu landen, wo man sie von ihrer Einsamkeit befreit, von Takar, der mit Suzu bei Herrn Sakai beginnt und sich im Fieber seiner Einsamkeit beinahe verliert.

Milena Michiko Flašar erzählt derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfroniert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman «Ich nannte ihn Krawatte» wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.  2019 erschien «Herr Katō spielt Familie«. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.

Webseite der Autorin

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», 8 grad

Auch wenn es fast 200 Jahre her ist, dass der Romantiker Wilhelm Hauff das Märchen „Das kalte Herz“ schrieb, hat die Geschichte nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Dass der kleine Verlag „8 Grad“ daraus ein derart wunderschönes Lesegeschenk macht, erfreut und fasziniert den Haptiker so sehr, dass man das Buch gar nicht ins Regal zwischen all die andern schieben möchte.

Das schöne Buch!

Peter Munk soll nach dem Tod seines Vaters die Köhlerei weiterführen. Eine Arbeit, die er eigentlich gerne macht. Aber weil er sehen muss, wie andere durch viel weniger schmutzige Arbeit einen viel pralleren Geldbeutel mit sich herumtragen und in der Wirtsstube damit Staat machen, juckt ihn die Gier und die Frage, wie er zum schnellen Geld kommen könnte. Er erfährt, dass im Schwarzwald ein Waldgeist, das Glasmännlein haust, der jedem Sonntagskind drei Wünsche erfüllt, wenn dieser ihn mit einem besimmten Vers beschwört. Drei Wünsche, die dem Jungspund alles andere als langfristiges Glück bringen, so wie in Märchen zu erwarten. Erst recht als der Kohlenmunk-Peter sich in seiner Verzweiflung an den Holländermichel wendet, einen anderen Waldgeist im Schwarzwald, der mit dem Bösen im Bunde steht. Dieser hilft ihm, schenkt ihm sackweise Geld zum Preis für sein Herz. Holländermichel setzt ihm einen kalten Stein in die Brust und die Dinge nehmen ihren Lauf. Nicht nur, dass der Kohlenmunk-Peter weder Freude, Trauer oder Liebe empfinden kann – er wird zu einem herzlosen Geist seiner selbst und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Bis ihm das Glasmännchen durch eine List zurück in die Welt der Glücklichen verhilft.

Die Gegenwart scheint uns beweisen zu wollen, dass es für das Glück sehr wohl einiges an finanzieller Sicherheit braucht. Wir spazieren mit einer ordentlichen Portion Neid an Häusern mit Sicht aufs Wasser vorbei, lesen die Klatschspalten in Zeitschriften, auch wenn sie uns nur bezeugen, dass es auch denen dreckig gehen kann. Wir sehen mit Befremden, dass die einen mit dem Niedergang einer Grossbank Millionen scheffeln, während anderen ein Leben lang Arbeit nicht reicht, um mit der Rente Ruhestand zu finden. Und vielleicht bekräftigen Märchen wie jenes des Romantikers Wilhelm Hauff unsere stille Hoffnung, dass Red- und Ehrlichkeit doch irgendwann belohnt werden.

Was das Buch „Das kalte Herz“ aber zum idealen Geschenk aller BücherfreundInnen macht, ist das Buch selbst. Die wunderschönen, kongenialen Illustrationen von Christian Sobeck und die einzigartige Buchbindung des Buches. Die mit kräftigem Strich gemalten Ilustrationen unterstreichen die Stimmung, malen eine Kulisse wie im Theater, illustrieren nicht einfach den Text, sondern unter- und übermalen ihn. 

Während des Lesens wird man gezwungen, die Seiten vor sich aufzufalten. Jedes „Blättern“ wird zu einer fast rituellen Handlung. Die Geschichte breitet sich förmlich aus.

Dass sich ein Kleinverlag an ein solches Unterfangen wagt, ist verdienstvoll. Und dass eine solche Geschichte, ein Märchen, diese Wirkung erzeugt – erstaunlich.

Ein Buch, das die Seele wärmt!

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», illustriert von Christan Sobeck, 8 Grad, 2023, 101 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-910228-16-0

Wilhelm Hauff, geboren 29. November 1802 in Stuttgart, gestorben am 18. November 1827 in Stuttgart, war ein deutscher Schriftsteller des Biedermeier. Er war ein Hauptvertreter der Schwäbischen Dichterschule.

Christian Sobeck wurde 1991 im Allgäu geboren. Nach einer Ausbildung zum Grafikdesigner absolvierte er den Studiengang Mediendesign an der DHBW Ravensburg. Seit seinem Studium gestaltet und illustriert er für einen Schulbuchverlag Unterrichtsmaterialien und Lektürehilfen zu Romanen. Parallel führt er ein Designstudio im Illertal.

Beitragsbilder © Christan Sobeck / Lucra-Design

«Sich der Schwerelosigkeit hingeben» Laudatio für Gertrud Leutenegger zum Solothurner Literaturpreis 2023

Wer sich in die Literatur Gertrud Leuteneggers begibt, tritt zugleich in eine Welt, in der Gegenstände, Zustände und Zeiten durchlässig werden, wo man wach zu träumen scheint, wo Blicke und Gefühle mit sanfter, aber sicherer Hand in immer andere Richtungen gelenkt werden; kleine Verschiebungen sind es bloss, Bilder und Szenen verändern sich kaleidoskopisch, ihre Zusammenhänge erschliessen sich jedoch mühelos – um gleich darauf eine neue Bedeutung anzunehmen. Ein Stil, so atmosphärisch wie beschwörend, verfasst in einem präzisen und besonnenen Ton. Er ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur, und ja, man muss sich einlassen auf das Luzide, auf das Fremde und Ferne.
Über das Fremde in Leuteneggers Werk schrieb Ruth Schweikert vor über fünfundzwanzig Jahren in einem Essay mit dem Titel «Verlorene Pläne einer Weltordnung»: «Eine Ich-Erzählerin geht, wohin sie auch geht, in die Fremde. In ein Dorf der französischen Schweiz, mit dem Wunsch, in die dort «bestehenden Verhältnisse vollkommen sich einzugliedern», nach Japan, an den äussersten Rand des Horizonts, wo die Welt buchstäblich zu existieren aufhört, an die Grenze zum Tod[…].» Es ist ein Fortgehen, ein Sich-Fortbewegen bis in die Randgebiete, um sich und die eigene Herkunft erst zu begreifen. Das Risiko, nicht wieder zurückzufinden, das Risiko der Entfremdung schwingt fortwährend mit. Es ist eingepreist in ihre Kunst und dies alles zeichnet Gertrud Leuteneggers Werk aus.

«Eben bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil das Gewicht eines Kopfs auf meine Schulter fiel.» Mit diesem Satz beginnt das Buch «Acheron» von 1994. Eine Frau reist durch Japan, von der Hauptstadt aus meerwärts, dem Pazifik zu, wo sie eine Fähre besteigt, um auf eine kleine Vulkaninsel zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach Tenko. Tenko ist eine fliegende Händlerin, eine Streunerin, eine Getriebene und Suchende, eine ganz und gar zauberhafte Gestalt, deren schlafender Kopf in der Metro der ebenfalls schlafenden Erzählerin auf die Schultern sinkt. Tenko verkauft Muscheln an Reisende, sie ist unterwegs, den unsichtbaren Linien entlang, in ihren festen schwarzen Schuhen. Unmittelbar nach der ersten Begegnung knüpft sich zwischen der Erzählerin und Tenko ein Band der gegenseitigen Faszination und Anziehung: «Tenko aber hatte ihre Spuren bereits mit den meinigen vermischt», so beginnt ihre gemeinsame Geschichte. Die beiden streichen eine Zeit lang zärtlich verbunden durch Tokyo. Die Erzählerin wird die Spur Tenkos verlieren, sie wiederfinden und ihr folgen bis auf Tenkos Heimatinsel. Zwischen ihre Erlebnisse in Japan schieben sich die Erinnerungen an ihren ehemaligen und viel älteren Geliebten, den sie nur «Signor» nennt. Eine unerbittliche Liebe, die ins Unglück führt, vor dem Hintergrund eines Bergdorfes, am Rande einer Schlucht: «Der Signor war ein Abgrund, der jede frühere Leidenschaft verschlang, alle diese glühend zerstäubten Sterne und Planeten, und am Ende seiner Existenz von ihnen erhitzt, leuchtete er noch einmal hell auf. Doch ahnten wir das kalte expandierende Universum dahinter? Ich fühlte den Schatten der Liebe wachsen, als wäre diese bereits entflohen, und ich vergrub mich in diesen Schatten, krallte mich in seinen Flügeln fest, kämpfte bis zum Morgengrauen, ich lasse dich nicht!» Die Erzählerin entscheidet sich am Ende für die Gegenwart und gegen eine schmerzliche Erinnerung. Entscheidet sich für Tenko, was auf Deutsch soviel wie Wendung bedeutet, Umkehrung, Bekehrung oder Konversion, und damit entscheidet sie sich für ihre Befreiung. Auf der Fähre hinüber zur Vulkaninsel, wo Tenko ihre Kindheitssommer verbrachte, beobachtet die Erzählerin den ganz in weiss gekleideten Kapitän. Irgendwann verschwindet er von der Bildfläche und sie vermutet, er müsse ins Weiss einer Kabine eingegangen sein: «[…]nicht mehr unterscheidbar von den hellen Wänden; selbst wenn seine Hände, auch diese weiss behandschuht, einmal durch die Luft fahren sollten, wäre es nur wie das Auffliegen einer weissen Taube im Raum». «Acheron» ist nichts für Orientierungssuchende, in diesem Text sollen wir uns vielmehr verlieren, uns treiben lassen, wir sollen seine Farbe annehmen und mit ihm zerfliessen: Das Glück der Auflösung spüren.

Ruth Schweikert schrieb in einer Literatur-Serie in der «Wochenzeitung», die im Zusammenhang der Solothurner Literaturtage von 1997 erschien, über Gertrud Leutenegger. Ruths genaue Gedanken, die sie sich damals über das literarische Schaffen ihrer Kollegin machte, werden in diese Laudatio hineinfliessen. Das Flüssige hier aufzugreifen scheint mir folgerichtig. Ruth Schweikert bemerkt in ihrem Essay: «Eine gern verwendete Metapher, den Zustand des Lesens zu beschreiben, drängt sich für diese Autorin – Gertrud Leutenegger – geradezu auf: eintauchen in einen Strom, der fast richtungslos noch in «Vorabend», stärker auf eine Geschichte eingegrenzt später, offenbar vor den Augen der hellwachen Ich-Erzählerin vorbeifliesst und dabei Sedimente abendländischer Kultur, deren alte und neue Mythen, begleitet von den Bildern einer katholischen Kindheit der Innerschweiz der fünfziger Jahre, Erinnerungen an den stets fernen Geliebten (mag er auch neben ihr sitzen) an die Ufer des erzählenden Bewusstseins schwemmt. Dieser Strom ist natürlich nicht nur ein willkommenes Bild für die tieferliegenden Textstrukturen; Wasser, Flüsse, Seen, Überfahrten, das Meer, die Angstvorstellung und/oder Beschwörung einer neuen Sintflut tauchen in allen mir bekannten Texten auch an deren Oberfläche auf.»

Die Geschichte von Loredana, einer jungen Sexarbeiterin, die mit einer Freundin an einer grossen Ausfahrtsstrasse Roms wohnt, der Via Prenestina, und deren Unterkunft von zwei Männern mitten in der Nacht in Brand gesetzt wird, erscheint im November 1985 in einer Schweizer Tageszeitung. In «Roma, Pompa, Loredana» streift die Erzählerin durch das frühlingserwachte Rom, alle Poren sind geöffnet, und Sinnlichkeit strömt durch diese Zeilen und Sätze: Der Duft der Orangenblüten, die scharfen Kontraste der Palmen auf den Dachterrassen vor dem rötlich gefärbten Abendhimmel, die kühlen Schatten in den langen schmalen Strassenzügen. Aus diesen Strassen lässt die Erzählerin Loredana treten. Sie imaginiert sich in das Leben der jungen Frau: «Vielleicht hat Loredana einmal, rasch im Vorbeifahren, das Kolosseum mit einem Blick gestreift, eine Art Wut unterdrückend, wie kann man eine Ruine restaurieren, während draussen, in den Baracken, alles mangelt? Über den Innenraum des Kolosseums werden keine Seile und Segel mehr gespannt, von den Matrosen der kaiserlichen Flotte bedient, um die Zuschauer vor der Sonnenhitze zu schützen und in den anhaltenden Geruch von Blut und Dung einzuschliessen, aber Loredana hört die aufgehetzten Schreie auch so, sie hört sie jeden Tag, in der Via del Torrione, ladre! drogate! lesbiche! prostitute!» So fliessen in Leuteneggers Prosa die Zeiten wie Lichtbilder ineinander, überlagern sich wie ein Palimpsest, wiederholen sich hetzende Worte so lange, bis jemand sie aufschreibt und bannt; sie herausstellt in ihrer ganzen Verachtung. Worte, aus denen Taten wurden: «Inzwischen zirkulieren Bilder von Loredana in den Zeitungen. Loredana auf dem Spitalbett, aufgebahrt wie eine Mumie, vollkommen einbandagiert, kein Stückchen unversehrte Haut ist sichtbar, nur der Mund steht ab, und die Augen, die Augen weit geöffnet.» Die Erzählerin verschliesst ihre Augen nicht, schaut nicht weg aus Furcht oder Scham. Auch wenn Loredana den Brandanschlag auf sie und ihre Freundin vorerst schwer verletzt überlebt, wird sie sich nicht mehr davon erholen. Und die Erzählerin weiss um die Verbundenheit mit diesen Opfern und ahnt um die eigene Mittäterschaft als Teil eben dieser Gesellschaft: «Aus der bereits dürren Campagna, hinter der Via Prenestina, der Via del Torrione, steigt heiss, unbegreiflich und blau der Sommer empor, und ich laufe weiter durch die Stadt, Staub von Rom im Haar, Loredanas Asche.»

Ja, die Kontraste. Nicht nur als visuelles Phänomen tauchen diese in Gertrud Leuteneggers Texten auf, sondern auch als Gestaltungselement, als Lehre der Gleichzeitigkeit, als schmerzhafte Bewusstseinsübung und manchmal auch als Trost. Aber auch die Bewegung, das Bewegliche, das Konvulsivische und im Gegensatz dazu das Fluide und Zarte sind wichtige Motive ihrer Arbeit. In einem Text über Japan mit dem Titel «Nippon, Grün und Schwarz» schreibt sie: «Ein Gleiten, Verlagern ist alles.» In einer anderen Szene, aus «Zürich, ein Julitag» über das schöne und manchmal allzu glatte Zürich, formuliert sie eine Frage, die für mich ebenfalls einen Leitsatz ihrer Poetik skizziert: «Kommen nicht nur durch Störung unserer Gewohnheiten jene vielfältigen Kontaminationen und Kontaktmetamorphosen zustande, die eine Stadt erst vibrieren lassen?» Denn Leuteneggers Prosa findet ihren Ausgangspunkt nicht in der Konstruktion oder im Konzept, sondern im Kontakt mit dem Leben. Beim Gehen durch das verwirrende Strassennetz einer unbekannten Stadt, beim Graben mit blossen Händen in der Erde oder in der Erinnerung an Auffahrunfälle auf der Strasse, die zum Gotthardpass führt. Die Erzählerin hat sich berühren lassen und scheut nicht die Kontamination. Ihre Prosa vibriert, summt, bebt auch mal und hat bald die Wirkung eines Sturms, wo vieles nachher nicht mehr da ist, wo es einmal hingehörte.

Ruths Essay aus der WoZ trägt wie bereits erwähnt den Titel «Verlorene Pläne der Weltordnung». Das Ordnungsprinzip in Leuteneggers Literatur sei «ein Versuch, die «Weltordnung» zu erkennen, ohne die Elemente dieser Welt beim Schreiben hierarchisch zu ordnen; diese Überschrift könnte man über alle Texte Gertrud Leuteneggers setzen. Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches, nicht zerstörte oder intakte Natur, nicht die zweiundzwanzigtausend Paar Kinderschuhe von Auschwitz, die Insassen einer psychiatrischen Klinik, nicht Berlin oder der Tod, nicht die Geste des missglückten Zigarettenanzündens oder das Alltagsleben einer italienischen Gastarbeiterfamilie ist dieser Autorin unwichtig, allein wichtig oder fremd, und alles ist ihr fremd und absurd genug, um es mit jener Distanz zu beschreiben, die den genauen (und poetisch überhöhten) Blick erst ermöglicht. Die in (eine unverkennbare) Sprache gesetzten Denk-Bilder Gertrud Leuteneggers erzwingen eine Konzentration der Lesenden, die höchst selten in einem Punkt sich sammelt, sondern ein Flimmern erzeugt.»

In einem anderen Text, mit dem Titel «Generalbass», beschreibt die Erzählerin ihr Kindheitszimmer: «Mein Kindheitszimmer bestand überhaupt nur aus Fenstern, durch den grossen Schlafraum meiner Eltern hatte man eine Wand gezogen; nun schlief ich da wie in einer Glasveranda, fast mehr schon in der Natur als im Innern des Hauses. Es fehlten auch Stuhl und Tisch; die weite Aussicht auf die beiden Seen, die Berge rundum am Horizont war alles beherrschend, eine Art luftiges Treibhaus, eine Loggia, eine Arkade.» Als schliesslich ein Föhnsturm durch das Tal fegt, beschreibt die Erzählerin, wie «in lauen Nächten die angestauten Luftmassen jenseits des Gotthards endlich zum Überwehen des Passes gezwungen wurden und diesseits mit tobender Gewalt in die Täler einfielen». Als das Kind Angst bekommt, sein Zimmer berste und es werde jäh hinaus ins Universum geweht, begreife ich, wie es sich mit Leuteneggers Prosa verhält: Als Leserin bin ich der Macht und der Zartheit ihrer Sprache ausgesetzt, dem aufwühlenden Gewitter und seinen Assoziationen, den Bildern und Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Art immersive Erfahrung, ganz so, wie sich das Kind in der Glasveranda fühlte: Ausgesetzt, und zwischen dem Sturm und sich bloss der gläserne Schutz, wo es aufgehoben und ausgeliefert zugleich ist. Oft lässt die Erzählerin mir einen Schimmer Trost, eine Spur Zuversicht, einen «Rettungsanker im sturmerfüllten Sog der Unendlichkeit», wie sie einmal schreibt. Das Kind entdeckt nämlich durch das Schlüsselloch den bernsteinfarbenen Schimmer der Nachttischlampe der Mutter, ein «letzter mattleuchtender Faden, der mich an der Erde festhielt.» Nie lässt Leuteneggers Wortsturm uns Leserinnen ins Universum katapultieren, das ich mir heimlich so untröstlich vorstelle wie bei Georg Büchner in Woyzecks Anti-Märchen: der Mond ein Stück «faul Holz», die Sonne eine «verwelkte Sonnenblum» und die Sterne bloss kleine aufgesteckte Mücken, die goldig glänzen. Gertrud Leutenegger aber schenkt uns das Bernsteinlicht der Lampe.

Gertrud Leutenegger mit den Jurymitgliedern Eva Seck, Franziska Hirsbrunner, Leonora Schulthess und Martin Zingg

Ihr zuletzt erschienener Roman «Späte Gäste» spielt in einem Tessiner Bergdorf. Das Buch erschien im Sommer 2020, einem Jahr, dass uns globale Zusammenhänge neu begreifen liess, auch unsere eigene Verletzlichkeit, die Fragilität des Gesundheitssystems und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gewissheiten verschoben sich: Ein Verlagern ist alles und in diese neue und eigenartige Zeitrechnung hinein, die vielen von uns als surreal und seltsam schwebend in Erinnerung geblieben ist, erschien «Späte Gäste». Es berichtet von der fünften Jahreszeit, der Fasnacht, und vom Erinnern. Die erzählte Zeit erstreckt sich über eine einzige Nacht, in der wir mit der Erzählerin fürchten, träumen, wachen und bangen. Sie übernachtet in der verlassenen Wirtshaus-Villa, um am anderen Tag die Totenwache ihres einstigen Geliebten Orion zu beginnen. Wir warten mit ihr auch auf die Ankunft der gemeinsamen Tochter. Der Wirt ist über den Winter in seine Heimat Sizilien gereist, sie kennt das Haus jedoch gut, es war in ihrem früheren Leben Zufluchtsort und Stätte des freudigen Beisammenseins. Jetzt sind die Räume kalt, dunkel und unheimlich. Aber überall schimmert das Licht von einst durch und erleuchtet die Fresken und Wandbilder. Die Erzählerin träumt, die Erzählerin erinnert, die Erzählerin trauert, und ihre Visionen erhellen wie ein Gewitter den Nachthimmel. An der Decke entdeckt sie gar im gemalten Tellmythos den Ätna! Die Erzählerin schwankt zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Völlig unvermittelt und wie aus einer fernen Welt tauchen in einer Geschichte der Freundin Serafina die titelgebenden späten Gäste an einer Fasnachtsgesellschaft auf: Es sind Geflüchtete von weit her, die mit ihren Booten gestrandet sind an den südlichen Küsten unseres Kontinents. Unter den Masken der «Hässlichen» blitzt eine Unerschrockenheit und Verzweiflung auf, die die Erzählerin fasziniert. Es ist ein Buch der Ankunft und des Abschieds. Einer mit Namen Orion ist gegangen und andere kommen und bringen ihre unerschütterliche Hoffnung mit. Mit der ganzen prekären Trauer und der ganzen Zartheit berichtet Leutenegger hier erneut von der Gleichzeitigkeit von Schönheit und Schrecken, Hoffnung und Angst, von Leben und Sterben. «Angesichts des Todes wird manches so leicht. Und dieser Schwerelosigkeit darf ich mich hingeben, ich weiss es, sie ist es, die rettet und erhält.» Gertrud Leutenegger verbindet sich mit verschiedenen Schicksalen in einer staunend-machender Empathie und scheut nicht das Unheilvolle, das Grausame und die Verletzlichkeit unserer Existenz. «Späte Gäste» ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation; die Erzählerin und mit ihr wir Leserinnen müssen von etwas loslassen, damit etwas Neues beginnen kann und sei dies nur ein neuer Tag, der sich mit der Dämmerung ankündigt. Sie erzählt davon eindringlich und leuchtend, magisch und klar.

Es gibt so viele erleuchtete Sätze in Gertrud Leuteneggers Werk, ich könnte Seiten füllen. Viele davon sind versammelt im Band «Partita. Notate», der 2022 im Nimbus Verlag erschienen ist: «Die Glut der Ahnung. Denn noch erkenne ich nicht. Aber mein Gefühl weiss.»

Über Gertrud Leuteneggers Sprache schreibt Ruth Schweikert, sie sei von «einer bezwingenden rhythmischen Schönheit»: «Das Erkenntnisinstrument ist natürlich die Sprache, die noch auf einer weiteren Ebene, nicht nur auf der semantischen, zum beglückenden, zum irritierenden Lese-Erlebnis einer umfassenden Gleich-Gültigkeit führt; dem zufällig beobachteten Detail, den Reflexionen über die Schweizer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, der Farbe eines bestimmten Kleidungsstücks wird dieselbe sprachliche Sorgfalt zuteil. […] Die «Schönheit» der Sprache als übergeordnetes Prinzip?», fragt Ruth weiter: «Überzeugend ohne jede Ambivalenz wird diese Sprachkraft, wo ein solches Bild gefunden wird (das Liebespaar hält Nachtwache vor dem auf einen Eisenbahnwaggon aufgebahrten Wal)»: «Unsere Eltern, die von ihm verschluckt worden waren in den zwei Kriegen, die nur die Verdunkelung erlebt hatten, sie waren im Innern des Walbauchs gesessen, die meisten nachtblind, ungerührt, sie hatten alles als Verhängnis betrachtet und dumpf gewartet, bis sie wieder ausgespien wurden. Ohne einen Blick zurück.»

Gertrud Leutenegger ist auch eine Anruferin der Dichter: Sie bezeugt ihre Hingabe zur Literatur, indem sie über diese nachdenkt, sie beschreibt und von allen Seiten betrachtet; sie zu ihrem Leben macht. Sie ruft ihre Vorgänger an, Novalis, Goethe, Kleist, Dante oder Walser. Über Kleist schreibt sie: «Dieses Changierende, dieses Übergehen einer Wirklichkeit in die andere ist vielleicht das Beunruhigendste an Kleist, der in einem Brief an den Freund Rühle über den Tod sagte: «Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.»» Ein ständiges Gleiten, ein Verlagern ist alles. Mit der Fähigkeit, die Welt der Lebenden und die der Toten zu durchschreiten, ist ihre Literatur ausgestattet.

Man möchte Gertrud Leutenegger zur Verfügung haben (ein Wunschtraum, denn natürlich ist sie auch eine Meisterin des Unverfügbaren), und dennoch ersehne ich sie mir als Begleiterin an die Orte, mit denen ich verbunden bin und die ich besser verstehen möchte. Sie würde von unseren Reisen erzählen, Szenerien aufrufen, Figuren erschaffen, ihre klugen Beobachtungen und Gedanken dazu aufschreiben und mich so auf alles aufmerksam machen, was ich übersehen habe. Einmal stehen in einer ihrer Erzählungen tatsächlich die Länder Japan und Senegal in einer Aufzählung nebeneinander und ich muss lachen, weil ich solche Zufälle liebe und natürlich als Zeichen deute.

Ruth erklärte mir kürzlich: «Gertrud Leutenegger macht universelle Erfahrungen mit einer weiblichen Erzählstimme zugänglich. Während dem sich ein junger 68er oder danach geborener Schriftsteller im sogenannten Westen vor allem mit westlichen, männlichen Werten identifiziert, bettet sie den weiblichen Blick, wie beispielsweise in «Acheron», in eine grosse europäische, aber auch gerade in eine nicht-europäische Erzählung ein. Dies ist die grosse Stärke von Leuteneggers Schreiben.»

Je älter ich werde, desto eher erkenne ich die, die vor uns waren. Sie sind eine Möglichkeit der Verortung, die Möglichkeit des poetischen oder geistigen Verbunden-Seins, und sei dies durch die gemeinsame Luft, die wir atmen. Als ich geboren wurde, hatte Gertrud Leutenegger bereits ein umfassendes Werk: Da waren bereits acht Bücher; Romane, Gedichtbände und Erzählungen von ihr erschienen. Wie so oft zu den wichtigen Dingen fand ich über eine Freundin zu ihr: Die Schriftstellerin Noëmi Lerch drückte mir vor vielen Jahren Gertrud Leuteneggers Buch «Matutin» in die Hand. Ich las es, und noch heute weiss ich, wie ganz und gar fremd sich diese Welt für mich anfühlte; dieser morbide ehemalige Vogelfangturm, die Wärterin, kaum fassbar, wie ein Geist, die mystischen und spirituellen Bezüge… Ich verstand wenig. Mein jüngeres Ich gab aber nicht auf. Es weigerte sich, das Buch wegzulegen, auch wenn es das Gefühl hatte, dieses nicht wirklich zu durchdringen. Es mutete sich etwas zu. Das auszuhalten und darauf zu hoffen, den Zauber eines Textes zu einem anderen Zeitpunkt zu entschlüsseln, rührt mich, und ich hege eine heimliche Bewunderung für diese wohl manchmal etwas unbeholfene und bildungsferne Literaturstudentin, die ich damals war. Und bin dankbar für das Glück, mich heute noch einmal mit Leuteneggers Werk zu beschäftigen. Zwei Schreibgenerationen liegen zwischen uns. Ruth Schweikert steht in der Mitte und streckt uns verbindend ihre Hände entgegen. Wir, die heute schreiben, berufen uns auf die, die vor uns kamen. Sich als Teil einer sich fortschreibenden – und nicht zuletzt weiblichen – Literaturgeschichte zu begreifen, lehrt einen Demut und gibt Kraft. All die schreibenden Frauen, deren Bücher und Gedanken Teil von mir und meinem Denken wurden, weisen auch in die Zukunft, denn nichts, was heute ist und morgen sein wird, wäre ohne sie möglich gewesen. Sie sind Wegbereiterinnen und Wegbegleiterinnen, mögen die Lebensrealitäten und die Bedingungen, unter denen unsere Literatur entsteht, verschieden sein. Das Werk von Gertrud Leutenegger hilft uns die Schönheit, die Brutalität und die Unverfügbarkeit unserer Existenz immer wieder aufs Neue zu erfahren.

Laudatio von Eva Seck

 

«Vorabend» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975 
«Ninive» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977
«Lebewohl. Gute Reise» Ein dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980
«Wie in Salomons Garten» Gedichte, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1981
«Gouverneur» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981
«Komm ins Schiff» Dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983
«Kontinent» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985
«Das verlorene Monument» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 
«Meduse» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988
«Acheron» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994
«Sphärenklang» Dramatisches Poem, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1999
«Pomona» Roman Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004
«Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» Geschichten und andere Prosa, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
«Matutin» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
«Panischer Frühling» Roman, Suhrkamp, Berlin 2014
«Das Klavier auf dem Schillerstein» Prosa, Nimbus, Wädenswil, 2017
«Späte Gäste» Roman, Suhrkamp, Berlin 2020
«Partita» Notate, Nimbus, Wädenswil, 2022

Beitragsbilder © fotomtina

Dževad Karahasan «Einübung ins Schweben», Suhrkamp

Ein Mann, der hätte fliehen können, bleibt in der belagerten Stadt Sarajevo, weil er „zum ersten Mal die Gelegenheit habe, etwas länger in Grenzsituationen zu leben, um sein wirkliches Selbst kennenzulernen». Ausgerechnet in einer Stadt, in der andere verdammt zum blossen Überleben sind. „Einübung zum Schweben“ ist eine literarische Symphonie.

In Trauer um eine grosse europäische Stimme! 

Sarajevo im Frühling 1992; Peter Hurd, Dichter, Sprach- und Mythenforscher ist für eine Lesung in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina eingeladen. Er wird begleitet von seinem einheimischen Übersetzer und Freund Rajko Šurup. Weil sich die Situation um die Stadt immer mehr zuspitzt und im März die ersten tödlichen Schüsse fallen, die Stadt am Beginn einer über vierjährigen Belagerung steht, heisst man den walisischen Gast, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Auch sein Freund drängt ihn. Aber Peter Hurd bleibt, glaubt, in eben diesem Moment die Stadt nicht verlassen zu können. Nicht weil er beabsichtigt zu helfen, sondern weil er die Erfahrung eines solchen Kriegs mitnehmen will, weil er das Existenzialistische einer solchen Situation miterleben will.

Peter Hurd quartiert sich zusammen mit seinem Freund im Haus von Rajkos Verwandten ein, unter dem gleichen Dach wie Mutter Ljuba und ihre fast erwachsene Tochter Sanja. Das Verhältnis der beiden Freunde ist das eines bewundernden Übersetzers und eines zerstreuten, sehr mit sich selbst beschäftigten Intellektuellen. Die immer grössere Not der Stadt sieht er als Experiment, jenem an sich selbst und jenem an den Menschen, die ihn umgeben. Schnell wird klar, dass der Krieg, die Belagerung, die Schüsse und Granaten immer und überall treffen können. Ob in einer Hochzeit, einer Beerdigung, in die Schlange vor der Bäckerei – überall trifft der Tod. Während sich die einen trotzig der Verrohung stellen, werden andere zu Nutzniessern. Während die einen verbissen versuchen, ihr Leben fortzusetzen, geben sich andere dem Fatalismus hin.

Dževad Karahasan «Einübung in Schweben», Suhrkamp, 2023, aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber, 304 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-518-43122-1

Genau diese gegensätzlichen Bilder scheinen Peter Hurd zu betören. Er stürzt sich förmlich in eine Stadt, in der der Tod wütet, in der das hervorbricht, was in „normalen“ Zeiten unter einer Decke aus Konventionen verborgen bleibt. Rajko protokolliert die Veränderungen an seinem Freund. Immer mehr schwindet die Begeisterung und Verehrung für einen Freund, dessen Kunst Rajko stets über alles bewunderte. Peter entzieht sich ihm immer mehr, taucht ab in einer Stadt, der man sich entweder ergibt oder alles daran setzt, sie zu verlassen. Peter bleibt. Aber dieses Bleiben ist ein ganz anderes als das derer, die die Stadt lieben, die dort seit Generationen leben, denen die Stadt Heimat ist.

Sarajevo, eine Stadt, in der die einen hungern und die anderen prassen, die im Sommer nach den ersten Schüssen zu kochen beginnt, in der Unschuldige von Scharfschützen niedergestreckt werden und Granaten Menschenansammlungen treffen, die einen verzweifeln, die anderen Geschäfte machen. Ausgerechnet hier beginnt Peter seinen existenzialistischen Tripp noch auszuweiten, von seinem mehr und mehr zweifelnden Freund unverstanden. Peter nimmt Drogen. Sie sind leicht zu beschaffen in einer Stadt, in der es ausgerechnet davon im Überfluss zu kaufen gibt. Peter gibt sich dem Ausnahmezustand völlig hin, ein Aggregatzustand, der auch andere mitzureissen drohst, nicht zuletzt die junge Sanja, mit der Peter eine Liebe ohne Zukunft beginnt.

„Einüben ins Schweben“ ist vieles; ein Roman über eine Freundschaft, die an der Zeit zu zerbrechen droht, über einen Mann, der sich in einem Zustand treiben lässt, der wie das Schweben in einem Zwischenraum hängt, über den Versuch einer Grenzerfahrung mitten in einer kriegerischen Belagerung, mitten im Sterben, mitten im Kampf ums blosse Überleben. Und „Einüben ins Schweben“ ist die Chronik einer nicht sterben wollenden Stadt, einer Stadt, die sich aufbäumt, die einer jahrelangen Belagerung trotzt, in der Menschen leben, obwohl der Tod sich an jeder Ecke zeigt.

Dževad Karahasan erzählt in starken, kraftvollen Bildern, die in ihrer Unbarmherzigkeit bis an die Schmerzgrenze gehen. Was Dževad Karahasan in seinem Buch „Tagebuch der Übersiedlung“ () nur in Andeutungen schilderte, ist in „Einübung zum Schweben“ unmittelbar. Ein vielfacher Schmerz in einer Sprache, die mit einer Leichtigkeit überzeugt, die in scharfem Kontrast zur Szenerie steht. Dževad Karahasan geht es aber nie um die blosse Schilderung von Elend, Gewalt und Verzweiflung. „Einübung zum Schweben“ ist voller Binnengeschichten über jene Menschen in Sarajevo, die geblieben sind, denen man ihre Stadt auch mit Bomben und Granaten nicht nehmen konnte. Ein Buch, das in der Gegenwart, mit den Bezügen zur Belagerung der Ukraine, dem trotzigen Überleben dort von schmerzhafter Aktualität ist.

Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dževad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz.

Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.

Beitragsbild © Suhrkamp Verlag

Die 45. Solothurner Literaturtage – Welten, die aufeinandertreffen!

Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.

Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen. 

Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.

Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».

Mina Hava bei ihrer Lesung in der SRF-Sendung «Kultur-Talk» in der Cantina del Vino

Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».

nach seiner Lesung im voll besetzten Landhaussaal beim Signieren seiner Bücher

Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist –  er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.

Zülfü Livaneli «Der Fischer und der Sohn», Klett-Cotta

Die eine Sekunde, die eine Entscheidung, bringt das Leben des Fischers Mustafa in eine Richtung, die sein ganzes Leben zu zerstören droht. Eine Sekunde, eine Entscheidung, die eigentlich zum Guten führen sollte. So wie es überall Entscheidungen gibt, die kurzfristig gesehen ihr Gutes haben, ihre katastophale Wirkung erst später zeigen.

Zülfü Livaneli schreibt nicht einfach gute, spannende, unterhaltsame Geschichten. Dafür ist er viel zu sehr in die Geschehnisse seines Landes, der ganzen Welt miteingebunden, dafür hat sein Wort zu viel Gewicht und seine Bücher zu viel Bedeutung. „Der Fischer und der Sohn“ ist daher viel mehr als ein Roman über einen Mann, dessen naiver Reflex ihn an den Rand seiner Existenz bringt. „Der Fischer und der Sohn“ liest sich wie eine grosse Metapher über den Zustand der Welt, einer Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist, in der es längst nicht mehr reicht, in naiver Kleinräumigkeit zu glauben, das Gute würde schon irgendwie siegen.

„Das Meer ist sein Ernährer, es ist Leben, es ist Geliebte, es ist grausam und still, liebevoll und zornig.“

Mustafa Sılacı ist Fischer, so wie es seine Vorfahren auch schon waren, auch wenn sie von Kreta an die türkische Küste fliehen mussten. Mustafa und seine Frau Mesude führen ein stilles, trauriges Leben, eines, das im Trott einer Trauer gefangen ist, die die Zeit nicht zu lindern vermag. Ihr einziger Sohn Deniz starb mit sechs Jahren, als das Boot des Vaters im Sturm kenterte. Das Meer schluckte den Sohn, die einzige Freude im kargen Leben der Fischersleute.
Bis Mustafa mit seinem kleinen Boot die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser zieht und wenig später jene eines jungen Mannes an einem Seil ins Schlepptau nimmt. Mustafa weiss um die Dramen, die sich vor seiner Küste abspielen. Aber noch nie berührte ihn die Katastrophe so nah wie an diesem Tag. Erst recht, als er noch am gleichen Tag in den Wellen ein kleines Schlauchboot sichtet, eines, wie für kleine Kinder. Dort drin findet er einen Säugling, blau angelaufen, am kleinen Boot festgebunden. Mustafa nimmt ihn, säubert ihn, benetzt seine Lippen, spürt das Leben, das in den kleinen Jungen zurückkommt. Zurück an Land übergibt er die beiden Toten den Beamten und bringt den kleinen Jungen ungesehen in sein Haus über dem Meer. Musafa, seine Frau, zerfliesst gleichermassen wie sie die drohende Katastrophe ahnt. Aber Mustafa ist wild entschlossen, den kleinen Jungen als Geschenk des Meeres zu sehen, erst recht als ihm im Traum ein „Vaterdelphin“ erscheint.

„Alles, was am Festland geschieht, spielt sich gleichermassen im Meer ab.“

Zülfü Livaneli «Der Fischer und der Sohn», Klett-Cotta, 2023, 192 Seiten, aus dem Türkischen von Johannes Neuner, CHF 29.90, ISBN 978-3-608-98692-1

So wie der kleine Junge alles in dem kleinen Haus der kinderlos gewordenen Familie Sılacı ins Wanken bringt, so sehr haben die Flüchtlingsboote, die Touristen, wirtschaftliche Interessen; Fischfarmen, Goldabbau an der Küste bis hin zu Fischen, die noch vor wenigen Jahren nicht im Mittelmeer heimisch waren, die einheimische Fischarten verdrängen und die immer weniger werdenden Fischer vor scheinbar unlösbare Probleme stellen, die bisher so genügsamen und stillen Küstenmenschen in Wallung bringen. Alles wankt. Das kleine Dorf fühlt sich von allen Seiten bedroht.

„Ich glaube, das Baby hat mir den Verstand geraubt.“

Erst recht Mustafa, der in seiner immer unmöglicher werdenden Situation jeden Tritt verliert und sich immer tiefer ins Dilemma hineinmanövriert. Da ist die Liebe zu diesem Kind, das er aus dem Wasser rettete. Da ist die wieder aufkeimende Wärme und Zuwendung in der erloschen geglaubten Ehe mit Mesude. Da sind die Nachbarn, die Ungereimtes wittern und ein Staatsanwalt, der Fragen stellt. Und als den beiden mitgeteilt wird, dass in einer nahen Klinik eine aus den Fluten gerettete Frau aus dem Koma erwachte und nach ihrem verlorenen kleinen Sohn Samir schreit, im Streit mit seiner Frau Worte und Gesten ausbrechen, die nicht zurückzunehmen sind, scheint das Boot im Sturm erneut zu kentern.

„Ein Raubvogel schien in seinem Inneren mit den Flügeln zu schlagen.“

Zülfü Livaneli bannt mich von der ersten bis zur letzten Seite. Da ist nicht nur der Kampf eines Fischers gegen die Kräfte der Natur. Da kämpft ein Mann, der in dieser einen Sekunde, mit dieser einen Entscheidung glaubte, etwas Gutes zu tun, mit Nachwirkungen, die immer unkontrollierbarer werden. „Der Fischer und der Sohn“ ist eine einzige Metapher über den Zustand einer Welt, die zu kippen droht. Zülfü Livaneli komponiert diese Geschichte derart raffiniert und nah an seinen ProtagonistInnen, dass das Geschehen während der Lektüre immer wieder sprunghaft die Richtung wechselt. Nichts an der Geschichte ist vorhersehbar, nur das drohende Gewitter am Himmel.

Was für ein Buch! Zülfü Livaneli nimmt mich und taucht meinen Kopf mitten in das trübe Wasser seiner Geschichte!

Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgın (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu verlassen, erst 1984 kehrte er zurück. Zülfü Livaneli ist einer der bekanntesten Künstler der Türkei, der mit seinen Liedern, und Kinofilmen international grosse Erfolge feierte. Einige Jahre war er Mitglied des türkischen Parlaments, besonders setzte er sich dabei für die türkisch-griechische Aussöhnung ein. Für sein breites Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Orhan-Kemal-Literaturpreis.

Johannes Neuner, geboren 1975, Diplomübersetzer für Türkisch und Französisch, studierte Volkswirtschaftslehre. Übersetzt aus dem Türkischen und unterrichtet am Sprachlehrinstitut der Universität Freiburg Türkisch. 2012 Förderpreis des Tarabya-Übersetzerpreises. Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer arbeitet Johannes Neuner auch als Schachtrainer an verschiedenen Grundschulen.

Beitragsbild © Fethi Karaduman

Boglárka Horváth «Begegnung mit Graf Dracul»

Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Es ist meine Welt, die bebt.
Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen.
Vom blossen Hauch nur.
Allein in der Fremde, stehe ich da.
Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht.
Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz
und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig.
Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde.
Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück.
Ich tauche tief.
Kalt ist es, dann plötzlich warm.
Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage,
ob ich nicht Luft holen müsste.
Ich tauche in die Bilder meiner Ängste:
Damals
In Transylvanien.
Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt.
Begegnete ich Graf Dracul.
Am helllichten Tag.
Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen.
Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft.
Der Wind spielte mit ihren Ästen.
Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib.
Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah:
Nackt und bewegungslos stehe ich da.
Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund.
Ich schlucke sie und schmecke Blut.
Mein Blut. Sein Blut.
Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib.
Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können.
Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag
steige ich höher, immer höher.
Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise,
während ich Schatten auf mich selbst werfe.
Ich geniesse den Flug.

Und dann plötzlich lande ich sanft.
Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht:
«Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein.
Deinen Leib gesäubert,
deine Wunden geleckt,
einen Fuss vor den anderen gesetzt
und deine Spuren hinterlassen haben.»
Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf.
Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen.
Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen.
Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!»
Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt.
Ich möchte fliegen.
Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien.
Doch dann plötzlich lande ich sanft.
Wiegend die Strahlen
Wärmend die Wellen
Berührungen, die
Zärtlich erhellen
Meine Sinne.
Ich weiss wo ich bin
Ich kenn diesen Ort
Hier ist der Anfang
Das Leben, das Wort
Getragen, gewärmt und genährt
Mein Kind sich noch heute verzehrt
Nach mehr
Nach viel
Doch für den Moment
Liegt sie still
die Welt.

Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen. 

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ana Hofmann

«deine hand ein schlüssel, dein auge ein see» Nadia Küchenmeister im Literaturhaus Thurgau

«Nach zehnstündiger Anreise aus Berlin waren die Stunden in Gottlieben wie eine lange Umarmung. Vielen Dank an Gallus Frei und Heike Brandstädter für die Vorbereitung und das intensive Gespräch auf der Bühne! Vielen Dank an die Zuhörerinnen und Zuhörer! Und vielen Dank für die schönen Gespräche nach der Lesung, für den Wein und die Münzen, die man mir schenkte, in der Hoffnung, im nächsten Leben nicht als Ameise wiedergeboren zu werden. Ich habe mich sehr wohl, sehr aufgehoben gefühlt. Herzlichen Gruß, Nadja Küchenmeister»

«Die Gedichte verstören, weil in eine quasi unschuldige, fast kindlich-heile Welt der Erinnerung, des Märchens, des Spiels, auch des Spiels der Gedanken, etwas Dunkles hereinbricht oder davon kündet. Das Unvorhergesehene war verborgen, aber es war immer schon da und wird an prominenter Stelle hervorgeholt. Das Hintergründige, das Abgründige, der Verlust kommt zur Sprache. Zugleich wirbelt die Sprache gewohnte Begriffe und Sichtweisen durcheinander. Leise, vielleicht sogar lustvoll werden wir eingebunden in paradoxe Wiederholungen, zyklische Strukturen, Rundungen. Aber: diesen Wiederholungen wohnt immer eine winzige Abweichung ein, eine unmerkliche Drehung der Perspektive, die das gewohnte Verständnis stört, es durcheinanderbringt. Das sind Passagen wie: „kein schatten mehr / im schatten“ oder „das schlafzimmer der eltern / das elternschlafzimmer“ oder „die bahn / bleibt in der bahn“ oder auch „keiner wusste genau wie spät es war / als es zu spät war“. Worte, Begriffe, Ausdrücke, Sprachbilder, die uns vertraut scheinen, werden ausgestellt, auseinandergelegt, befragt: Sind sie das, was sie vorgeben zu sein? Was taugen sie? Wie weit reichen sie?» Heike Brandstädter

Fast tausend Kilometer von Berlin nach Gottlieben hin und am nächsten Tag wieder zurück. Muss schon eine wichtige Sache sein, die so weit transportiert wird! War es auch! Nadja Küchenmeister bringt sie mit; in ihren Büchern fein säuberlich verpackt, ihrer Sprache, ihrer Dichtung, eine verschriftlichte Stimme, die durch Musikalität, Tiefe, Vielschichtigkeit, Sprachwitz und Klugheit auf der einen Seite gewichtig genug ist, um sie beim Vortragen in wohlproportionierten Dosen den Erwartenden zu übergeben, leicht genug, dass die Wortkonstrukte Höhen erreichen, die Schwindel erzeugen.

Ich lernte Naja Küchenmeister 2022 in Basel am dortigen Lyrikfestival kennen, erstand die Bücher im Vorfeld und war nach der Lektüre mehr als gespannt auf die Person, die hinter den Worten steckt. Hätte man mir die Gedichte damals ohne Hinweise auf die Autorin zur Lektüre gegeben, hätte ich die Dichterin im reifen Alter geschätzt, weil ihre Gedichte nicht nur viel Weisheit verraten, vor allem in der Art des Sehens, sondern jene kluge Distanz, die ein Gedicht zu einem Diamant macht, der das Licht auffächert und zu einem vielfachen Spiegel werden lässt.

Wortfreundinnen – Naja Küchenmeister und Zsuzsanna Gahse

Zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Heike Brandstädter aus Konstanz versuchten wir zu zweit ein ganz kleines bisschen hinter die Geheimnisse ihres Dichtens zu leuchten. Nadja Küchenmeister ist keine Vielschreiberin. Was sie zu Papier bringt, hat lange gereift, lange Prozesse durchlaufen. Sie hütet sich davor, sich vom Literaturbetrieb vorwärts treiben zu lassen. Ihre Sprachlandschaften sind klangvoll durchkomponierte Reisen mit dem inneren Auge. Sie nimmt mich mit in einen Kosmos, der aus Alltäglichkeiten, Kleinigkeiten, Normalitäten einen Zustand des Sehens erzeugen kann, der der Schwere Leichtigkeit, dem Unscheinbaren Gewicht und dem Losen Kraft gibt.

«Literaturbüro Gallus Frei» Texte von Christine Fischer, «Tag der offenen Tür» im Mai 2023

Uuszog useme Interview met em Gallus Frei

– Tue doch kes Büro uf!
– Mou! Gnau das wotti: Es Büro uftue! 
– För was? Ged’s ned scho gnueg Büro?
– Settegi ned, nei!
– Settegi … Meinsch du bsonderegi?
– Jo, mou – das wett ech met eme gwösse Stouz behoupte!
– Was esch öberhoupt es Büro?
– Hmmmh … es Büro esch e Ruum ond e dem Ruum passiert öppis Bestemmts!
– Hesch scho bestemmt, was das Bestemmte söu sy?
– Klar! Meinsch, ech eröffni e Ruum em loftlääre Ruum?!
– Aaaha! Du eröffnisch auso e Ruum em Ruum … esch das rechtig?
– Me chönnt’s eso uusdröcke. Es ged eigentlech gar nüd anders of dere Wäut aus Ruum em Ruum. Wechtig esch, was deby entstoht!
– Äbe! Ond was wär das, wemmer daf frooge?
– Das chan-ech zom jetzige Zytponkt ned gnau ustüütsche. Was feschtstoht: Eso-n-es Büro esch es «work in progress», kes Fertigprodukt!
– Danke! Jetz han-ech aber no e ganz grondsätzlechi Froog: Hesch du dä Ruum besch du dä Ruum?
– DU stöusch Froge … aber mosch entschoudige: Of die verautet Buechhautig wett ech mech hött lieber ned iiloh.
– Wieso ned?
– Wöus för d’Föchs esch! Aber wenn partout en Antwort muess sy: Ech be de Ruum, won’i ha … Haut – no besser : Ech be de Ruum, wo n’ech mer neme. Gnau. Das esch es!
– AHA! Das verstohni. Hättsch’es ou grad vo Aafang a chönne sääge.

Karsten Redmann liest aus seinem Erzählband «An einem dieser Tage».


Ruum ond Zyt

Me seid, s’Alter isch Zyt, wo verstriecht. Isch s’Alter ned au e Ruum, wo mer föllt? Wo mer föllt mit sich sälber? Mit de Art, wie mer s’Läbe aapackt? Klar, me wird au vom Läbe säuber am Chraage packt, gschöttlet und drinumegwirblet. Dem cha niemer entgoh. Ich glaube, s’Läbe isch grösser als ich sälber, viel grösser. En unändlech grosse, vielfältige Ruum. En einzigi grosse Iiladig, mich drininne z’bewege.

«Schön war’s, Gallus, bei der Eröffnung deiners Literaturbüros! Was für ein schmucker Raum, die vielen Bücher, der gute Wein, die Gespräche … in so einem Ambiente dann auch noch vorlesen zu dürfen, das beglückt, weil: fast wie in der eigenen Stube fühlt man sich doch sehr aufgehoben. Alles Liebe dir für all deine Projekte!» Laura Vogt liest aus ihrem Roman «Die liegende Frau». 



Ein Raum muss sein must wachsen un wölben un schalten un walten und hegen un pflegen de Bausch vo die Wörter die Reihen und Ranken die Auswüchs un Schranken must sammeln un schützen must stützen die Pfützen der Tinten und Tanten un aller Verwandten die Lesestoff bunkern un Lesestoff fressen und völlig vergessen dass das was sie lesen mit einem Langbesen kann weggewischt werden im Nu un dann zeterest du nach mehr Poesie dem Niemalsversiegen und Niemalserliegen des sprudelnden Quell im Büchergestell im Kopf und im Herzen die Freud und die Schmerzen ich sag dazu nur: Lang lebe die Literatur.

Alle Texte sind von Christine Fischer. Gallus Frei dankt der Schriftstellerin für die Erlaubnis, die Texte an dieser Stelle zu veröffentlichen.