Zülfü Livaneli «Der Fischer und der Sohn», Klett-Cotta

Die eine Sekunde, die eine Entscheidung, bringt das Leben des Fischers Mustafa in eine Richtung, die sein ganzes Leben zu zerstören droht. Eine Sekunde, eine Entscheidung, die eigentlich zum Guten führen sollte. So wie es überall Entscheidungen gibt, die kurzfristig gesehen ihr Gutes haben, ihre katastophale Wirkung erst später zeigen.

Zülfü Livaneli schreibt nicht einfach gute, spannende, unterhaltsame Geschichten. Dafür ist er viel zu sehr in die Geschehnisse seines Landes, der ganzen Welt miteingebunden, dafür hat sein Wort zu viel Gewicht und seine Bücher zu viel Bedeutung. „Der Fischer und der Sohn“ ist daher viel mehr als ein Roman über einen Mann, dessen naiver Reflex ihn an den Rand seiner Existenz bringt. „Der Fischer und der Sohn“ liest sich wie eine grosse Metapher über den Zustand der Welt, einer Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist, in der es längst nicht mehr reicht, in naiver Kleinräumigkeit zu glauben, das Gute würde schon irgendwie siegen.

„Das Meer ist sein Ernährer, es ist Leben, es ist Geliebte, es ist grausam und still, liebevoll und zornig.“

Mustafa Sılacı ist Fischer, so wie es seine Vorfahren auch schon waren, auch wenn sie von Kreta an die türkische Küste fliehen mussten. Mustafa und seine Frau Mesude führen ein stilles, trauriges Leben, eines, das im Trott einer Trauer gefangen ist, die die Zeit nicht zu lindern vermag. Ihr einziger Sohn Deniz starb mit sechs Jahren, als das Boot des Vaters im Sturm kenterte. Das Meer schluckte den Sohn, die einzige Freude im kargen Leben der Fischersleute.
Bis Mustafa mit seinem kleinen Boot die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser zieht und wenig später jene eines jungen Mannes an einem Seil ins Schlepptau nimmt. Mustafa weiss um die Dramen, die sich vor seiner Küste abspielen. Aber noch nie berührte ihn die Katastrophe so nah wie an diesem Tag. Erst recht, als er noch am gleichen Tag in den Wellen ein kleines Schlauchboot sichtet, eines, wie für kleine Kinder. Dort drin findet er einen Säugling, blau angelaufen, am kleinen Boot festgebunden. Mustafa nimmt ihn, säubert ihn, benetzt seine Lippen, spürt das Leben, das in den kleinen Jungen zurückkommt. Zurück an Land übergibt er die beiden Toten den Beamten und bringt den kleinen Jungen ungesehen in sein Haus über dem Meer. Musafa, seine Frau, zerfliesst gleichermassen wie sie die drohende Katastrophe ahnt. Aber Mustafa ist wild entschlossen, den kleinen Jungen als Geschenk des Meeres zu sehen, erst recht als ihm im Traum ein „Vaterdelphin“ erscheint.

„Alles, was am Festland geschieht, spielt sich gleichermassen im Meer ab.“

Zülfü Livaneli «Der Fischer und der Sohn», Klett-Cotta, 2023, 192 Seiten, aus dem Türkischen von Johannes Neuner, CHF 29.90, ISBN 978-3-608-98692-1

So wie der kleine Junge alles in dem kleinen Haus der kinderlos gewordenen Familie Sılacı ins Wanken bringt, so sehr haben die Flüchtlingsboote, die Touristen, wirtschaftliche Interessen; Fischfarmen, Goldabbau an der Küste bis hin zu Fischen, die noch vor wenigen Jahren nicht im Mittelmeer heimisch waren, die einheimische Fischarten verdrängen und die immer weniger werdenden Fischer vor scheinbar unlösbare Probleme stellen, die bisher so genügsamen und stillen Küstenmenschen in Wallung bringen. Alles wankt. Das kleine Dorf fühlt sich von allen Seiten bedroht.

„Ich glaube, das Baby hat mir den Verstand geraubt.“

Erst recht Mustafa, der in seiner immer unmöglicher werdenden Situation jeden Tritt verliert und sich immer tiefer ins Dilemma hineinmanövriert. Da ist die Liebe zu diesem Kind, das er aus dem Wasser rettete. Da ist die wieder aufkeimende Wärme und Zuwendung in der erloschen geglaubten Ehe mit Mesude. Da sind die Nachbarn, die Ungereimtes wittern und ein Staatsanwalt, der Fragen stellt. Und als den beiden mitgeteilt wird, dass in einer nahen Klinik eine aus den Fluten gerettete Frau aus dem Koma erwachte und nach ihrem verlorenen kleinen Sohn Samir schreit, im Streit mit seiner Frau Worte und Gesten ausbrechen, die nicht zurückzunehmen sind, scheint das Boot im Sturm erneut zu kentern.

„Ein Raubvogel schien in seinem Inneren mit den Flügeln zu schlagen.“

Zülfü Livaneli bannt mich von der ersten bis zur letzten Seite. Da ist nicht nur der Kampf eines Fischers gegen die Kräfte der Natur. Da kämpft ein Mann, der in dieser einen Sekunde, mit dieser einen Entscheidung glaubte, etwas Gutes zu tun, mit Nachwirkungen, die immer unkontrollierbarer werden. „Der Fischer und der Sohn“ ist eine einzige Metapher über den Zustand einer Welt, die zu kippen droht. Zülfü Livaneli komponiert diese Geschichte derart raffiniert und nah an seinen ProtagonistInnen, dass das Geschehen während der Lektüre immer wieder sprunghaft die Richtung wechselt. Nichts an der Geschichte ist vorhersehbar, nur das drohende Gewitter am Himmel.

Was für ein Buch! Zülfü Livaneli nimmt mich und taucht meinen Kopf mitten in das trübe Wasser seiner Geschichte!

Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgın (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu verlassen, erst 1984 kehrte er zurück. Zülfü Livaneli ist einer der bekanntesten Künstler der Türkei, der mit seinen Liedern, und Kinofilmen international grosse Erfolge feierte. Einige Jahre war er Mitglied des türkischen Parlaments, besonders setzte er sich dabei für die türkisch-griechische Aussöhnung ein. Für sein breites Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Orhan-Kemal-Literaturpreis.

Johannes Neuner, geboren 1975, Diplomübersetzer für Türkisch und Französisch, studierte Volkswirtschaftslehre. Übersetzt aus dem Türkischen und unterrichtet am Sprachlehrinstitut der Universität Freiburg Türkisch. 2012 Förderpreis des Tarabya-Übersetzerpreises. Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer arbeitet Johannes Neuner auch als Schachtrainer an verschiedenen Grundschulen.

Beitragsbild © Fethi Karaduman