Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Zora del Buono – Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024 #SchweizerBuchpreis 24/11

Sie hat ihn. Obwohl sie noch eine Stunde zuvor auf einem Sofa gleich neben der Garderobe des Stadttheaters Basel noch meinte, sie würde die Spannung kaum mehr aushalten und sei froh, wenn das Prozedere, das mit der Nomination zum Deutschen Buchpreis begonnen habe, endlich vorbei sei.

Weit gefehlt! Zumindest bricht für sie eine neue Welle über diese Sehnsucht nach Entspannung. Auch wenn der Traum, mit einem Teil des Preisgeldes den Garten in Ordnung bringen zu können, einer Erfüllung nicht mehr quersteht: Interview an Interview, Veranstalter*innen, die sich um sie reissen werden, Fernsehen, Radio. Entwicklungen, die ihr Hund nicht goutieren wird, war es doch schon erstaunlich genug, sie bei der Preisverleihung für einmal nicht mit ihrem treuen Begleiter anzutreffen.

Sie hat ihn. Mit 30000 Franken lässt‘s sich lange frei atmen. Und für alle noch folgenden Bücher wird das Etikett „Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024“ nur hilfreich sein. Neben ihr auf dem Sofa sass Jonathan Michael Beck, ihr Verleger aus einem Haus, das seit einem Vierteljahrtausend im Dienste des gedruckten Buches steht und in dessen Ahnengalerie sich die Grossen der Deutschen Literatur reihen. Mit Zora del Buono gesellt  sich eine Autorin mit besonderer Auszeichnung dazu, die nicht nur den Preis redlich verdient, sondern mit ihrer Literatur stets grosse Fragen an das Leben stellt. Fragen, mit denen man sich unweigerlich auseinandersetzt, wenn man es nicht scheut, sich für die Antwort zu bewegen.

„Seinetwegen“ ist Vatersuche, Selbstsuche und gesellschaftliche Auseinandersetzung zugleich. Und „Seinetwegen“ schert sich formal wenig um gängige Muster, ist Notwendigkeit, Leidenschaft und Konfrontation. Keine Streicheleinheit, kein Nachttischenbuch, sondern die Aufforderung, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, nachzufragen, zuzuhören.

Zora del Buono hat erst spät zu schreiben begonnen, erst mit 45, nachdem sie mit dem Meeresbiologen Nikolaus Gelpke die Kultur- und Reisezeitschrift Mare gegründet hatte, ein Heft, das sich bis heute grosser Beliebtheit erfreut, eine Art des Schreibens, die ihr auch bei „Seinetwegen“ zugute kam. Unvergessen ist ihr Buch «Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen», ein Buch über die Begegnung mit den ältesten Bäumen rund um die Welt, ein Buch, das bewies, dass Zora del Buono selbst den Bäumen zuhören kann.

Sie hat ihn verdient. So wie ihn alle Nominierten verdient hätten, einhellige Meinung bei allen Befragten an der diesjährigen Preisverleihung. Ein Kompliment an die Jury, die kein einziges Buch in die Shortlist setzte, das für Kopfschütteln und Unverständnis sorgte.

Ich gratuliere Zora del Buono von ganzem Herzen!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

 

 

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

© Zora del Buono

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer

Am «Ort der Erquickung» mit Zora del Bouno

Weil das Literaturhaus im vergangenen Frühling gezwungen war, wegen Corona Veranstaltungen zu verschieben oder gar abzusagen, wurden zwei jener Lesungen ins Kunstmuseum in der Kartause Ittingen verlegt. Ein Glücksfall für die Schriftstellerin Zora del Buono und ihren Roman «Die Marschallin» und ein gutes Zeichen in die Zukunft!

Für einmal hatte der Zwang, sich wegen der Auswirkungen der Pandemie etwas einfallen zu lassen, auch eine gute Seite. Was mit den ersten zwei Veranstaltungen in einer Kooperation von Kunstmuseum und Literaturhaus Thurgau begonnen hat, zeigt alle Vorzeichen, dass daraus eine fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Institutionen werden kann. Zum ersten Mal gastierte «Literatur am Tisch» weder im Wohnzimmer des Intendanten des Literaturhauses noch im Bodmanhaus in Gottlieben selbst, sondern in einem der schönsten Räume, den das Kloster Ittingen zu einem Juwel im Thurtal macht.

Einst war es der repräsentative Speisesaal der Kaurtause, in dem allerdings nur an Sonntagen gespeist wurde. Und weil der Orden der Kartäuser ein eremitischer Orden ist, der sich ganz der Kontemplation und damit dem Schweigen verschreibt, wurde auch an den sonntäglichen Mittagessen geschwiegen, einzig begleitet durch geistliches Vorlesen in Latein. In jenem Raum an der Schmalseite unter dem Kruzifix sass für einmal nicht ein:e Prior:in, sondern die Schriftstellerin Zora del Buono. Um 18 Uhr nicht für eine Lesung in gewohntem Rahmen, sondern mit 11 Gästen zusammen zu Speis und Trank und einer äusserst angeregten Diskussion über ihren aktuellen Roman «Die Marschallin«. 

Im Anschluss daran las die Schriftstellerin im Museumskeller, in jenem Teil, in dem das «Adlerflügelfahrrad mit aufgesetztem Drachendeck», ein Kunstwerk von Gustav Mesmer auf einer hölzernen Rampe steht, als wolle es in den Himmel abheben. Was auf der Rampe im Moment erstarrte, passierte dafür umso mehr auf der Bühne mit der Geschichte um die Grossmutter der Autorin, der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, einer «Unglücksfamilie», einer Familie mit fünf Toten durch «höhere Gewalt», der Geschichte einer aristokratischen Kommunistin. Literatur hob ab!

Zora del Buonos Lesung im Museumskeller, moderiert von Cornelia Mechler

«Kartause Ittingen: Nie zuvor da gewesen (schlimme Bildungslücke), dafür gestern gleich im Doppelpack. Erst Literatur am (wunderbar gedeckten) Tisch mit köstlichem Käse und klostereigenem Wein. Danach die Lesung im Weinkeller (ohne Wein). Die Marschallin selig hätte es gefreut, in so stilvollem Ambiente präsentiert zu werden. Ich habe mich gefreut, von Gallus und Cornelia so munter durch den Abend begleitet zu werden; der Hund hat sich gefreut, von Gallus ausgeführt zu werden (der Weinkeller behagte dem Tier nicht); kurz gesagt: Freude allerseits. Grazie mille.» Zora del Buono

Am 28. Oktober geht im Museumskeller des Kunstmuseums die kleine Reihe aussergewöhnlicher Lesungen weiter. Dann liest Dragica Rajćić Holzner aus ihrem Roman «Liebe um Liebe«. Informationen zu dieser Lesung finden Sie auf der Webseite des Literaturhauses.

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben:
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
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Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck

Zora del Buono schreibt über Zora Del Buono, ihre Grossmutter. „Die Marschallin“ ist die Geschichte einer Frau, die die Geschicke einer ganzen Sippe durch ein wirres Jahrhundert zu führen versuchte, herrisch und temperamentvoll, in einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass sich starke Frauen über Konventionen hinwegsetzten.

Die beiden Veranstaltungen werden auf den 29. Juli 2021 ins die Kartause Ittingen «verschoben». Informationen dazu bald auf den Webseiten vom Literaturhaus Thurgau und dem Kunstmuseum Kartause Ittingen.

Sie schrieb sich das Del in ihrem Namen gross, um sich von einer adeligen Herkunft zu distanzieren. Nicht weil Zora Del Buono eine Frau des Volkes sein wollte, aber weil sie als überzeugte Kommunistin und Verehrerin Marschall Titos an ein Leben glaubte, das sich neu gestaltet, an eine Ordnung, die sich allen feudalen Gesellschaftsformen entgegenstellt. So wie Josip Broz Tito sich selbst ins Zentrum eines ganzen Landes stellte, so unumstösslich sah Zora Del Buono ihre Stellung innerhalb ihrer Sippe. Sie sah sich als Sonne im System. Die Planeten  sollten sich um sie drehen, um dann gegen Ende des Lebens festzustellen, dass sich das System doch nicht um sie allein drehen wollte, dass es Kräfte in Politik, Gesellschaft und der Familie selbst gab, die sich ihrem Diktat verweigerten.
Ganz am Schluss des Romans sitzt die greise gewordenen Zora in einem Altersheim im slowenischen Nova Gorica, an der italienischen Grenze. Von ihrer einstmals grossen Familie ist wenig übrig geblieben; ihr dement gewordener Ehemann Pietro Del Buono in Bari, ganz im Süden Italiens, ist weit weg, zwei ihrer drei Söhne tot, die Welt, auf die sie setzte weggebrochen und untergegangen. Ihr Blick zurück ist ein bitterer geworden, ihr Leben ein einsames, der Stern leuchtet kaum noch.

Zora del Buono, die Enkelin, zeichnet das Panorama eines Jahrhunderts. Einer Frau, die die Weltkriege miterlebte, die im faschistischen Italien mit einer grossbürgerlichen Vergangenheit und Gegenwart an die Ideen des Kommunismus glaubte, die Aufstieg und Niedergang des Duce erlebte, von Benito Mussolini, der ganz offen mit Hitler fraternisierte und Italien zu einem Trümmerfeld machte, die als gebürtige Slowenin mitansehen musste, wie ihre Landsleute in Lager gepfercht wurden und es nur einen einzigen Weg in die Freiheit zu geben schien; den an der Seite Titos, der Jugoslawien zu einem Musterstaat machen wollte, blockunabhängig.

Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck, 2020, 382 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-406-75482-1

„Die Marschallin“ ist auch der Roman einer Familie, die in den Wirren der Geschichte zerrieben wird, an den fixen Vorstellungen eine Patriarchin. Von einer Familie, die von sich ein Bild erzeugen will, die durch ein Jahrhundert wankt, nicht nur weil die Geschichte verrückt spielt, sondern das Schicksal mit aller Härte genau dort sein Opfer sucht, wo es am meisten schmerzt. Zora Del Buonos Ehe mit dem Radiologen Pietro Del Buono, den sie gegen Ende des ersten Weltkriegs kennenlernt, dem sie nach Bari folgt und zusammen eine Klinik eröffnet, mit dem sie sich den Kommunisten anschliesst, sich ganz nah an den Führungskräften jener Bewegung orientiert und aktiv am Widerstand gegen den grassierenden Faschismus teilnimmt, ist keine leichte. Zora lässt sich weder ein- noch unterordnen. Sie bleibt eigenwillig, so sehr, dass sie einmal sogar die Koffer packt, voll mit Medikamenten aus den Arzneischränken ihres Ehemannes, um den Partisanen in ihrer Heimat in Slowenien zu helfen. So sehr, dass die Jahrzehnte später zusammen mit ihrem Mann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie zu einem verbrecherischen Puzzleteil einer Geldbeschaffungsaktion wird.

«Die Marschallin» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Das Leben nimmt nicht jenen Verlauf, den Zora ihrem Leben aufdrücken will. Nicht das politische Leben, nicht das gesellschaftliche, nicht einmal das Leben in der Familie. Bis hin zu ihren Enkelkindern. Zora, die Schriftstellerin, erzählt von von ihrer Grossmutter Zora Del Buono, eine Geschichte, in der eine ganze Familie in der Hitze von Gewalt, Krieg und Intrige zu verdampfen droht.

Man spürt als Leser das Feuer in diesem Roman, die Hitze der Leidenschaft; jene der alten Zora in ihrem Tun, jene der jungen Zora in ihrem Erzählen!

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen».

«Death valley coffee shock» von Zora del Buono auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Zora del Buono „Death valley coffee shock“

Als ich Rodriguez an der Polizeistation 70 Miles Junction ablieferte, war er schon fünf Stunden tot. Fünf Stunden sind eine lange Zeit bei der Hitze, und deshalb war ich erleichtert, als ich ihn dem Sheriff übergeben konnte. Sie haben einen Kühlraum für solche Fälle. Vielleicht klingt das jetzt ein wenig gleichgültig, aber so ist es nicht gemeint. Rodriguez war mir in den vier Tagen unseres Zusammenseins sehr nah gekommen, ich möchte sagen, wir waren Freunde. Dass ich ihn so schnell verlieren musste, bedauere ich. Und seinen toten Körper durch die Wüste zu chauffieren war grauenvoll, ich bin sicher, ich werde noch in Jahren nachts erwachen und ihn auf dem Beifahrersitz sehen, den Kopf an die Scheibe gelehnt, die kurzen Beine seltsam gestreckt, diesen kleinen Mann mit den langen Haaren, die so kräftig und glänzend waren, dass jede Echthaarperückenfirma ihm einen horrenden Preis dafür geboten hätte. Ich hatte ihm den Hut aufgelassen und auch die Brille nicht abgesetzt, weil er sie im Wachzustand stets trug, eine grün verspiegelte Pilotenbrille, ich weiss nicht, wie er das aushalten konnte, immer dieser Blick auf die Welt durch froschgrünes Glas. Das Kissen mit den Kaffeebohnen hatte ich zwischen die Scheibe und seinen Kopf geschoben, aber es war weggerutscht, so hatte ich es ihm in den Schoss gelegt und seine Hände darauf zusammengefaltet, nicht damit es aussah, als bete er, sondern damit seine Arme nicht herunterbaumelten während der Fahrt, an die in der Hitze schnell einsetzende Totenstarre hatte ich nicht gedacht vor lauter Aufregung.

Rodriguez und ich sind im selben Jahr geboren, 1961. Das stellten wir in der Bar in Veracruz, in der wir uns kennengelernt hatten, schnell fest. Man fühlt sich Menschen des selben Jahrgangs ja auf eigentümliche Weise nah, sogar dann, wenn man aus unterschiedlichen kulturellen Räumen kommt, so wie wir. Rodriguez war Mexikaner, ich bin Schweizer. Ich bin einer von jenen Männern mittleren Alters, die man in der Zürcher Altstadt in den Kneipen herumsitzen und vor den Kneipen herumstehen sieht. Einer von denen, die Zeit im Überfluss haben. Wir sehen einander alle ähnlich, leicht ergraut, die dünner werdenden Haare im Nacken etwas zu lang, die Jeans etwas zu ausgebeult, viele von uns sind Fotografen oder Schreiber oder Künstler oder Handwerker, Instrumentenbauer zum Beispiel. Fast alle rauchen wir. Solche wie mich gab es schon immer; als ich ein Kind war, sahen sie auch so aus, glaube ich mich zu erinnern, sie waren mir nie unangenehm.

T. hatte mich nach monatelangem Hin und Her mit einer SMS endgültig abserviert, der Satz lautete: Ich liebe dich nicht, wie du mich liebst; ich will eine Pause. Das mit den Pausen kennt man ja, das wird nichts mehr. Deshalb war ich nach Mexiko geflogen. Und hatte Rodriguez in der Bar kennengelernt. Ihm ging es an jenem Abend blendend, ganz im Gegensatz zu mir. Er hatte Pläne, bahnbrechende Pläne, und er teilte sie mir umgehend mit. Er wolle in die Vereinigten Staaten reisen, er habe nämlich eine Geschäftsidee. Männer wie ich haben oft Geschäftsideen, in Zürichs Kneipen stehen wir gerne am Tresen, trinken Rotwein und erzählen einander davon. Ich bin also ein grosser Freund von Geschäftsideen. Rodriguez, so erfuhr ich, besass eine bescheidene Kaffeeplantage in den Bergen hinter Veracruz, er war einer jener fünfundzwanzig Millionen Kleinbauern, die die Welt mit Kaffeebohnen versorgen, handgepflückt. Er wolle sich, so sagte er, mit seinen Bohnen von den anderen Bauern abheben, er strebe nach Höherem. Um den Marktpreis – el precio del mercado – eines Produktes anzuheben, müsse es sich von anderen durch eine gezielte Werbemassnahme unterscheiden. Und die fände er in Amerika, im Valle de la muerte, dem Tal des Todes. Ich war beeindruckt. Er wolle sich umschauen, ob er einen abgeschiedenen Platz finde, wo er seine frisch geernteten und gewaschenen Bohnen zum Trocknen auslegen könne. Dann könne er den Kaffee so nennen: Coffea arabica – Valle de la muerte. Die Idee sei ein Knaller, das müsse ich doch zugeben. Es gebe ja auch diesen schottischen Whisky, der über den Äquator geschifft werden müsse, bevor er verkauft werden dürfe. Der sei weltberühmt! Ich war wirklich beeindruckt. Und ich hatte nichts zu tun. Also begleitete ich Rodriguez auf seiner Fahrt nach Norden, drei Tage waren wir quer durch Mexiko unterwegs, ich schlief in mittelmässigen Hotels, Rodriguez auf dem Hotelparkplatz im Auto zusammengekauert, er meinte, er wolle die Kaffeebohnen nicht unbeaufsichtigt lassen. Sein Mazda war in einem beklagenswerten Zustand, zudem roch es darin eigentümlich. Die feuchten Bohnen, erklärte Rodriguez, er habe sie in Kissen und Decken eingenäht, der Grenze wegen. Er wisse nicht genau, ob Kaffeeimport legal sei, er fürchte aber eher nicht. Ich machte mir keine Sorgen, man hat ja in den Wochen, nachdem man verlassen worden ist, sowieso das Gefühl, das Leben sei am Ende angelangt. Es sind irgendwie grossartige Wochen, ich habe sie schon mehrmals durchlebt. Bei Lichte besehen war bislang immer ich derjenige, der verlassen worden ist. Und nie war ich so wagemutig wie in den aufgewühlten Zeiten danach.

Wir kamen problemlos über die Grenze. Ich wedelte mit meinem roten Pass, der Immigration Officer wurde sofort freundlich, murmelte etwas von einem Schweizer Urgrossvater, Amstutz oder so, vielleicht sprach er auch von Amsteg. Rodriguez nahm sogar für einen Moment seine Brille ab. Er hatte goldenglänzende Augen, einen liebenswürdigen Blick. Ich glaube, wir sahen vertrauenserweckend aus. Vielleicht war der Beamte auch nur müde. Auf alle Fälle ging alles sehr schnell, Grenzzaun und illegale Immigranten hin oder her. Von Douglas aus dauerte es weitere neun Stunden, bis wir unser Ziel erreicht hatten: das Death Valley.

Natürlich kannten wir die Geschichten von jenen Leuten, die vom Highway abfahren, um auf Sandpisten durch die Gegend zu holpern und dann verloren zu gehen. Man liest immer wieder davon, Gerippe, die Jahre später aufgefunden werden, Zeichen menschlichen Lebens, Wasserflaschen hinter Kakteen, ein kaputtes Handy, ein zerfledderter Personalausweis, all diese Sachen. Aber, das war ja gerade der Witz an Rodriguez’ Plan: Wir mussten eine möglichst abgelegene Stelle finden, an der er sein zukünftiges Geschäft aufbauen – oder besser gesagt: auslegen – konnte. Wir übernachteten im Amargosa Opera House, ein im Laufe der Jahrzehnte schäbig gewordenes Kulthotel am Eingang des Tals. Die Zeiten der Theateraufführungen unter der Regie einer exzentrischen Besitzerin waren längst vorbei, ausser uns war nur noch ein holländisches Paar zu Gast, sie stritten ausdauernd. Wir wollten früh schlafen, blieben aber an der Bar hängen. Nach ein paar Schnäpsen schlug ich im Scherz vor, wir sollten unsere Testamente schreiben, man wisse ja nie, Klapperschlangen und so. Rodriguez ging erstaunlicherweise sofort darauf ein, rief laut nach Stift und Papier. Echt jetzt?, fragte ich. Klar, sagte Rodriguez. Ich verzog mich an den Tisch mit der Eckbank, dachte kurz nach und setzte T. als Alleinerbin ein. Das war natürlich reine Boshaftigkeit, sie würde zwar rund zwölftausend Franken erben, hätte allerdings auch ungeheuer viel Aufwand mit den zahllosen Kleinigkeiten, die es nach einem Todesfall zu erledigen gab, zumal bei einem unordentlichen Menschen wie mir. Gleichzeitig wäre sie gerührt und würde ihr Leben lang von einem schlechten Gewissen geplagt. Zudem müsste sie sich meine Fotoalben anschauen und würde mich lieben für immer. T. war die perfekte Wahl. Bei Rodriguez dauerte das Schreiben kaum länger. Beide steckten wir die kleingefalteten Testamente in unsere Brieftaschen. Dann ging ich ins Bett und er ins Auto.

Ich kann die Geschichte hier abkürzen. Wir fanden am nächsten Tag nach langer Suche tatsächlich einen geeigneten Platz, weit abgelegen, nicht sandig, nicht steinig, nicht hügelig. Ein flaches Stück Land, im Hintergrund waren kahle Berge zu sehen. Rodriguez stürzte aus dem Auto, breitete Tücher auf dem Boden aus und riss zitternd vor Aufregung seine Kissen und Decken auf. Die Kaffeebohnen, die herauskullerten, sahen anders aus, als ich es erwartet hatte. Blass, gräulich, unspektakulär. Sie waren trocken, aber eben noch nicht sonnengetrocknet. Und die Sonne schien gnadenlos, die Hitze war wirklich grotesk. Wie lange die hier liegen müssten, fragte ich etwas bang, doch Rodriguez schwieg. Er kauerte am Boden, verteilte die Bohnen über die Tücher und streichelte sie liebevoll mit den Händen, manchmal zupfte er ein Resthäutchen ab. Vielleicht war es dieses versonnene Liebkosen, das mich derart rührte, dass ich keine spöttische Bemerkung machte; der Mann liebte seine Bohnen wirklich. Ich setzte mich in den Schatten des Autos und schaute Rodriguez nur zu, beobachtete seine rauhen Bauernhände, die plötzlich unfassbar zart zu sein schienen. Es war still, sehr still. Sämtliche Geräusche fehlten. Einmal blickte er auf und hob glückstrahlend beide Daumen. Sein Business – bisiness, wie er immer sagte – würde funktionieren.

Dann fiel er um. Rodriguez kippte einfach zur Seite. Sein Kopf stürzte auf den ausgetrockneten Boden, vom langen Haar umringt, die Brille hing ein wenig schief. Es kann kein lautes Geräusch gewesen sein, aber mir war, als ob ein Donnergrollen durch das Tal gezogen wäre, eine Art verzögerter Knall, mit einem bebenden Nachhall. Es muss die Hitze gewesen sein oder der Schock, der mein Gehirn anders arbeiten liess. Ich wusste sofort, dass er tot war. Ich schleppte ihn zum Auto und hob ihn auf den Beifahrersitz. Wir rumpelten Ewigkeiten über diese Piste zurück auf den Highway und dann direkt zur Polizeistation. Der Sheriff wunderte sich nicht sehr, ein Herzstillstand in der Wüste ist kein ungewöhnlicher Tod. Ich überreichte ihm die Brieftasche. Erst da erfuhr ich den vollständigen Namen meines Freundes: Ruben Ramón Rodriguez. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie zwei Polizisten den Leichnam ins Gebäude trugen. Als ich mich zurückdrehte, sagte der Sheriff: Sie sind also der Alleinerbe? Was bin ich, fragte ich. Der Alleinerbe. Wir müssen das aber erst prüfen, bevor Sie den Wagen übernehmen dürfen. Ich liess mir Rodriguez’ Testament zeigen. Und tatsächlich, da stand mein Name. Und davor: mi fiel amigo. Ich war sehr bewegt.

Nun sitze ich also in dieser Ödnis in einer Polizeistation, warte und friere. Sie kühlen hier wie die Verrückten. Sobald alles geregelt ist, werde ich ins Tal des Todes zurückgehen und die Bohnen einsammeln, hoffentlich finde ich den Abzweig noch. Danach fahre ich nach Mexiko und schaue mir meine kleine Plantage an. Ich werde mit einem Kumpel in der Schweiz telefonieren, dessen Stiefbruder in einem Kaffeeladen arbeitet. Ich werde eine Werbekampagne lancieren und einen neuen Espresso auf den Markt bringen, einen höllenstarken. Er wird Coffea arabica – Valle de la muerte – limited edition Ruben Ramón Rodriguez heissen. Ja, so wird das sein.

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich als Tochter einer Schweizerin und eines Italieners geboren. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und an der Hochschule der Künste Berlin und arbeitete als Entwurfsarchitektin und Bauleiterin in Berlin. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern von mare – die Zeitschrift der Meere und war stellvertretende Chefredakteurin. Von Zora del Buono sind in Buchform bisher die Romane „Canitz› Verlangen“ und „Big Sue“ sowie „Hundert Tage Amerika“, Aufzeichnungen einer mehrwöchigen Autofahrt von Neufundland nach Florida, die Tunnelnovelle “Gotthard”, das Baumbuch „Das Leben der Mächtigen“ und zuletzt bei C. H. Beck der Roman „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“.

Zora del Buono in Amriswil, «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt»

Zora del Buono beehrte Amriswil, las an der St. Gallerstrasse aus ihrem neusten Roman «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» und ihrem Baumgigantenbuch «Das Leben der Mächtigen» vor. Eine Matinee vor ausgesuchtem Publikum, an einem wunderschönen Sonntag. Genuss pur!

«Einen besseren Start in den Frühling könnte man sich gar nicht wünschen: Eine bezaubernde Fahrt durch den Thurgau, eine handschriftlich verzierte Mauer, ein Haus, dekoriert wie eine Wundertüte, gefüllt mit netten Leuten, die zu aufmerksamen Zuhörern werden. Dazu noch Traubensaft, Wein und Käse. Und als Krönung jede Menge gute Gespräche. Das war ein wirklich schöner Anlass. Vielen Dank.» Zora del Buono

mit der Schriftstellerin Marianne Künzle

«Manchmal, je nach Tagesverfassung, befällt einen die Schüchternheit, in sehr kleinem Rahmen unter Menschen die man nicht kennt. Nicht bei Irmgard und Gallus, wo Gespräche entstehen, Begegnungen – einfach so!» Marianne Künzle

mit dem Musiker und Komponisten Daniel Schneider