Er steht nicht am Bahnhof, nicht wie all die Jahre zuvor, wenn er mich erwartet hat, auch nicht an der Handpresse im Verlagskeller, der kahl geworden ist ohne Geschäftigkeit, ohne Menschen, er sitzt gedankenverloren in seiner Computernische an einem Glücksspiel. Als würde gerade das noch bleiben, nach so viel verlorenem Glück, die Utopie Spielglück. Als würde es einem zustehen, der die Utopie immer eingefordert hat gegen jede Berechnung
Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden
Und Verleger. Wenn er aufsteht, geht er gebeugt durch den hallenden Raum, der aussieht wie ein Museum für die vergessene Kunst des Handpressedrucks. Manchmal sucht er etwas, bleibt verloren stehen zwischen Büchern und Bodoniblättern, die ihn umgeben wie eine Aura. Namen, denen er eine Stimme gegeben hat gegen das stumpfe Gedächtnis der Gebrauchswelt. Izet Sarajlic, Galsan Tschinag. Rafik Schami. Er steht da wie ein erratischer Block in einem verlorenen Land, und in Gedanken rufe ich ihm zu, man kann ein Land tilgen, nicht sein Vermächtnis, das Wort als letzter Hort der Utopie lässt sich nicht vernichten
Die Jagd auf dich
ist eröffnet
Er sagt: Was geschieht mit einem, dem alles genommen wird? Kein Verlagshaus mehr, keine Fahrten zur Karthäuse mehr, überhaupt keine Ausfahrten mehr. Keine Freiheit mehr, sich selbst, den eigenen Tag zu wählen, dafür Überwachung durch den Pflegedienst, am Morgen um acht, am Abend um Viertel vor sieben
Hast alles hergegeben: dich,
deine Arbeit, deine Begabung, deine Zeit
Der Verlag hat die Welt weit gemacht, er hat die Welt in die Provinz getragen, er hat alles eingefordert und alles wieder genommen. Und er hat seine Begabung geschluckt – die Stimmen der anderen wurden ihm wichtiger als seine eigene. Wie kann man schreiben, wenn die Stimmen der anderen darauf warten, gehört zu werden, wenn sie in jeden Winkel des Tages drängen, selbst in den Traum?
Ich liebe eine Linde
niemandem sage ich welche
Die alte Holzbank unter der Linde steht noch immer da, ich bin mir sicher, hier hat er auch mit Sarajlic gesessen, hier hat er mit Sarajlic darüber gesprochen, dass es Kriege gibt, solange keiner dagegen anschreibt, solange Kriegsgedichte den Tod des Vergessens sterben wir die Opfer des Krieges. Und hier erklärt er mir, was mit einem geschieht, wenn die verlässlichen Lebenspunkte wegschwimmen, die sicheren Behausungen, wenn man sein Vertrauen an die falschen Menschen verschenkt
Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden
Das Lügen hat er anderen überlassen. Freunde können zu Feinden werden, es kann auch sein, dass er zu viele Feinde gesehen hat. Jetzt sieht es aus, als wäre jeder mit ihm befreundet, man begegnet ihm respektvoll, manchmal besorgt, im Areal des Eisenwerks redet man ihn an wie eine Legende, ich weiss nicht, ob es ihn freut oder nicht. Ob es ihn freut, auf die immer gleichen Fragen antworten zu müssen
Weil ich nicht Englisch kann, geriet
ich gleich aus dem Kindergarten nach Italien, dort flog mir
ein Buchverlag entgegen, den ich später gründete
Was geschieht, wenn das Gedächtnis immer schlechter wird? Manchmal sucht er Namen, Bezugspunkte, er weiss, was einen erwartet, der sich langsam verliert, er hat es bei anderen gesehen. Die weit verzweigte Gedankenwelt im Kopf, eine grosse Landschaft ohne Grenzen hat ihn von einem Kontinent zum anderen getragen, jetzt verängstigt sie ihn
Weil ich oft das wuchernde Leben verpasse,
habe ich Lücken in meiner elften Biografie
Ich weiss nicht, was geschieht, wenn man die Handpressen abmontiert und wegschafft wie ein stockendes Herz, das vom Blutkreislauf abgeschnitten wird
Sein mächtiges Lachen ist leise geworden, aber ich höre es noch immer laut über den Seerücken rollen. Auch seine wortgewaltigen Geschichten höre ich noch immer, epische Erzählungen, in denen man hängen bleibt, sie haben ihm Türen geöffnet und manchmal auch wieder verschlossen. Mir bleibt er ein Freund aus Granit – ein Turm von Mensch, der trotzige Bücher formt, die einen Hauch von Anarchie in die Welt hinaus schicken. Ein Unbeugsamer, der sich nicht brechen lässt, auch wenn die Jäger längst freie Schussbahn haben
Türme fallen nicht, sie werden zu Fall gebracht.
Unten sagst du: Dort oben bin ich gewesen. Ich war
oben, ganz sicher – und genau dieser Satz sagt, dass er
sich nicht mehr so sicher ist
Ich frage nicht, warum bist du dir nicht mehr so sicher, ich hätte ihn fragen müssen, bevor ich gehe. Ich hätte sagen müssen, es gibt kein unten für den, der oben gewesen ist, die freie Sicht oben ist nicht verhandelbar – man kann ein Verlagshaus räumen, ein Lebenswerk nicht
Aber mein Faden ist blau
und er ist endlich
Endlich ist nur die physikalische Vermessung, aber die Sprache der Bücher bleibt.
Juni 2021
Die Lyrikzitate sind Beat Brechbühls Lyrikband „Böime, Böime! Permafrost & Halleluia“ entnommen.
Beitragsfoto © Martin Stiefhofer

Einmal habe ich ein Buch einer Bekannten angefangen zu lesen: Es waren wunderbare, ausführliche Beschreibungen darin, die mich berührt haben, doch ich habe das Buch schnell wieder weggelegt. Ich wollte vermeiden, dass ich mich von dieser Art zu schreiben beeinflussen lasse. Ich bevorzuge einen kürzeren, knapperen Stil, wobei ich ausschliesslich kurze Sätze auch schnell langweilig finde – Rhythmus und Abwechslung sind mir wichtig.
Regula Wenger (1970), Autorin, Kolumnistin und Journalistin in Basel. Ausbildung unter anderem an der Schweizer Journalistenschule in Luzern sowie an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich (Literarisches Schreiben). Arbeitete als Journalistin auf mehreren Zeitungsredaktionen, als Redaktorin und Moderatorin bei einem Lokalradio sowie als Texterin bei einem Kommunikationsunternehmen. Heute ist sie freie Journalistin, Autorin und Kolumnistin in einem Basler Pressebüro. Mitgewinnerin des Schreibwettbewerbs «Geschichten aus der Vorstadt» von Szenart, der Gruppe für aktuelles Theaterschaffen in Aarau (2013). Ihr Roman «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag (Frauenfeld 2014) erschienen.
Gibt dir das Schreiben Halt, eine Richtung? Braucht es das Schreiben und ganz besonders Gedichte, um eine immer schwerer zu lesende Gegenwart verständlicher zu machen? Gedichte als Kontrapunkt zu Fakten, denen man dann doch nicht trauen kann?

«Waldmelodien» sind gesammelte Stimmen rund um die Themen «Wald» und «Bäume». Nicht verklärend, aber geschrieben mit Verehrung und grossem Respekt. Wer das Buch liest, macht mit der Autorin Spaziergänge, bleibt stehen, lässt sich berühren. Die Gedichte sind lange Augenblicke, Korrespondenzen mit den grossen stillen Riesen. «Bäume sind Persönlichkeiten, die ganz andere Herausforderungen des Lebens bestehen müssen als wir Menschen», schreibt die Autorin im kurzen Vorwort. Bäume können nicht davonlaufen, sich nicht verschliessen, sich nicht verweigern, höchstens absterben.


Irène Bourquin wurde 1950 in Zürich geboren. Sie studierte an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik. Von 1977 bis 1998 war Irène Bourquin Kulturredaktorin der Regionalzeitung «Der Landbote» in Winterthur. Bis 1988 leitete sie die Kulturredaktion. Ab 1988 war sie mit reduziertem Pensum Mitglied der Kulturredaktion. Mitte der 80er Jahre begann Irène Bourquin auch literarisch zu schreiben; seit 1998 liegt hier der Schwerpunkt ihrer Arbeit. Ausserdem ist sie als Lektorin tätig und in verschiedenen Kulturprojekten engagiert. Irène Bourquin ist Mitglied des AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) und des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.


Lückenbüsser sind. In ihren Gedichten spiegeln sich ihre Vergangenheit, Begegnungen, ihre zweite Heimat, das, was Orte mir einem tun und anstellen, was sie in uns und wir an ihnen zurücklassen. Ihre Gedichte sind Ausdruck dessen, dass sie nicht zerrissen, sondern an vielen Orten zuhause ist, dass Heimat nicht an Nationen und ihre Grenzen, nicht einmal an die Sprache gebunden sein muss. Gedichte darüber, wie wenig Orte sich an uns selbst erinnern, wenn man mit dem Bewusstsein lebt, dass man sich an die einen oder andern Orte „für immer“ erinnert.
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war anschliessend als Konjunkturforscherin tätig. 1984 wechselte sie ihren Wohnsitz nach Irland. 1990 erschien der Roman «Der Narr», der durch das Literaturhaus Hamburg ausgezeichnet wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane – jüngst «Gallus, der Fremde», 2018 im Lenos Verlag – Kurzgeschichten, Essays sowie Kinder-, Reise- und Sachbücher. Gabrielle Alioth ist Dozentin an der Hochschule Luzern Design & Kunst, journalistisch tätig und hält Schreibkurse am Literaturhaus Basel.
Der Übersetzer Fred Kurer, 1936 in St. Gallen geboren, studierte nach einer Lehrerausbildung Germanistik, Anglistik, Publizistik und Theaterwissenschaften in Zürich, Wien und London. Er ist Autor eines Romans, zahlreicher Gedichtbände, Bühnencollagen, Theaterstücke und verschiedener Programme für Kleinbühnen, Kabarett, Radio und Fernsehen. Er übersetzt aus dem Englischen und Amerikanischen.
Und dazwischen immer wieder das Wort „Assez“, als wolle sich Wandeler vor der Auflösung schützen, dass ihn einer der Brecher zerschlägt, dass ihn Erinnerungen und Gedanken zurückholen, dorthin, von wo er sich mit seinem Aussteigen abgekoppelt hatte. Er macht Ordnung, Inventur in seinem Leben, legt aus. „Assez!“
Ruth Erat wuchs in Bern und Arbon auf, wurde Lehrerin, studierte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit über Mechthild von Magdeburg. Sie engagierte sie sich politisch und wurde 2015 ins Stadtparlament von Arbon gewählt. Daneben war und ist sie als Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Im gleichen Jahr erschien bei Suhrkamp ihre Erzählung «Moosbrand». Ruth Erat ist Verfasserin von erzählenden, lyrischen und dramatischen Werken, zeichnet, malt und gestaltet Installationen.
dem Sammeln der Kamm über den Text hermacht und hinausstreicht, was nicht passt oder schlicht zu viel ist. In seinen Gedichten spiegeln sich aber nicht bloss Augenblicke und Ein-Sichten, ebenso sehr Schreib- und Entstehungsprozesse, die weit über das «Dichten» hinausgehen. So wie der Vogel am Waldweg, die tote Amsel ihn im Schreiben festhält, so verhilft er dem toten Vogel noch einmal zu einem wortgewaltigen Höhenflug.
Ivo Ledergerber (1939) studierte in Mailand, Innsbruck und Konstanz Theologie, Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaft. Bis 1999 arbeitete er als Mittelschullehrer in St. Gallen. Durch seine Schreibaufenthalte in Rom und Krems und seine Teilnahme an internationalen Literaturkongressen knüpfte der mehrsprachige Autor Kontakte zu Dichtern in Kosova, Mazedonien, Albanien, Italien, Tunesien, Algerien, Spanien, Frankreich und Polen. Ivo Ledergerber lebt und arbeitet in St. Gallen.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Ihr neuster Roman «Gallus, der Fremde» erschien bei Lenos. Im Waldgut Verlag erscheint im März erstmals ein Gedichtband «Der Mantel der Dichterin».