Ruth Erat «Im Meer treibt die Welt», Waldgut Verlag

Menton, eine Stadt an der Côte d’Azur im Spätherbst. Moritz Wandeler, selbstständiger Anlageberater, alleinstehend, nimmt sich auf unbestimmte Zeit ein Zimmer in der heruntergekommenen Pension „Vue Sur la mer“. Ein kleines Zimmer mit Meerblick; ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank. Er ist ausgestiegen. Ausgestiegen aus dem Zug, ausgestiegen aus seiner Welt, ausgestiegen aus seinem Trott.

Ein Mann standet. Er nimmt sich fast ohne Gepäck ein Zimmer, schaut aufs Meer und die Menschen in der Stadt, spaziert und lässt in seinem Bewusstsein Erinnerungen, Gedanken, Geschichten, Legenden branden. Gedanken eines Menschen, der sich nicht vom Fremden ablenken lässt. Das Smartphone ohne Akku, den Laptop im Zimmerschrank weggesperrt. Was ihn wegträgt, ist das Eigene, das was aufkommt, wenn man sich mit einem Mal Zeit und Raum gibt und lässt.

„Es war nicht zu bestreiten, Wandeler fühlt sich zunehmend wie an den Rand gespült.“

Und wer sich an den Rand gespült fühlt, von den stetigen Brandungswellen des Alltags, wenn ihn das Wasser nicht mehr erreicht und er auf der Mole, dem Fels liegenbleibt, dann sieht man das Branden mit einem Mal aus der Distanz, ist nicht mehr Teil davon.
Ruth Erat lässt offen, warum sich ihr Protagonist in jene Situation brachte. So wie es im Leben oft offen bleibt, warum ist, wie es ist. Ruth Erat will nicht erklären, nicht ergründen. Sie geht mit Moritz Wandeler mit.
Je mehr sich Wandeler seinen Gedanken, seinen Erinnerungen hingibt, desto mehr verliert er sich, setzt sich von seiner Umgebung ab, wird zum Sonderling.

Die einzige Person im Leben Wandelers, die er an den Stand, an den Ort am Meer mitnimmt, ist seine Mutter. Schon lange gestorben. Eine Malerin, von der er die Namen und Gerüche der Farben noch immer in Ohren und Nase hat, von der er gelernt hat, die Dinge auch anders zu sehen. Wie sie sang, französisch. Er kauft sich ein Heft und beginnt zu schreiben, im Zimmer oder auf der Bank mit Blick aufs Meer, manchmal Gedanken, manchmal auch nur die Farben, die Gerüche.

Und dazwischen immer wieder das Wort „Assez“, als wolle sich Wandeler vor der Auflösung schützen, dass ihn einer der Brecher zerschlägt, dass ihn Erinnerungen und Gedanken zurückholen, dorthin, von wo er sich mit seinem Aussteigen abgekoppelt hatte. Er macht Ordnung, Inventur in seinem Leben, legt aus. „Assez!“

Ruth Erat malt, wenn sie schreibt. Ihre Prosa wirkt wie Standbilder, ein gemaltes Bild nach dem andern. Es ist nicht die Geschichte, die vorantreibt, ein sich aufbauender Plott. So sehr Moritz Wandeler sinniert, reflektiert und seine Gedanken treiben lässt, so sehr malt Ruth Erat literarisch dichte Bilder, mischt Klangfarben, hebt mit Formulierungen Gedankengänge hervor, koloriert innere wie äussere Bilder eines Menschen, der aus seinem Rahmen hinausgetreten ist. Was wenig erstaunt, wenn man das Schaffen der Künstlerin kennt. Ruth Erat malt seit Jahrzehnten, verfasst Gedichte, zeichnet.
Ganz offensichtlich geht es der Autorin nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Der Text um Moritz Wandeler sind ihre Leinwände, eine lange Serie von Bildern, die sowohl von Nahem wie aus der Ferne zu betrachten sind. Wer die Erzählung „Im Meer treibt die Welt“ lesen und geniessen will, muss auf anderes neugierig sein als auf eine Story. Selbst die Figur Wandeler bleibt während des Lesens in seltsamer Distanz, erschliesst sich nie ganz, bleibt ein Rätsel. Wer sich von ihrem Erzählen mitnehmen lassen will, muss sich wie bei den Bildern der Malerin Ruth Erat hineinlesen, einlassen in eine Komposition, in ihre kunstvolle, zarte Sprache, den zuweilen mäandernden Erzählfluss.
Man bleibt allein mit Moritz Wandeler, geht mit ihm zwischen Meer und Land herum, sieht andere Menschen, ohne je wirklich mit ihnen in Kontakt zu kommen. „Im Meer treibt die Welt“ ist der Roman eines Gestrandeten, dessen Gedanken wie Brandung über sein Innerstes schwappen.

Eigen ist auch die Erzählperspektive, denn Ruth Erat wechselt von einer Erzählstimme, aus der Er-Perspektive immer wieder zum Selbstgespräch. Und dann spricht Wandeler zu sich selbst in der Du-Form, treibt sich an, kommentiert, gibt sich eine sprachliche Spur, sucht nach Sinn und Muster, nach Antworten und Klarheit.

„Kein Wunder, stellte Wandeler fest, dass der Mensch am Ende derart ermüdet.“

Und dass „Im Meer treibt die Welt“ im Waldgut Verlag von der Dichterin Irène Bourquin herausgegeben wurde, verbindet drei Sprachwelten, jene des Verlags, der Herausgeberin und jene Ruth Erats; die Welten, die sprachlich verschwistert sind, die sich nur der Sprache verpflichtet fühlen.

Ruth Erat wuchs in Bern und Arbon auf, wurde Lehrerin, studierte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit über Mechthild von Magdeburg. Sie engagierte sie sich politisch und wurde 2015 ins Stadtparlament von Arbon gewählt. Daneben war und ist sie als Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Im gleichen Jahr erschien bei Suhrkamp ihre Erzählung «Moosbrand». Ruth Erat ist Verfasserin von erzählenden, lyrischen und dramatischen Werken, zeichnet, malt und gestaltet Installationen.

Rezension zu «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Webseite der Malerin und Autorin

Beitragsbild © Ruth Erat «Zum Rand hin», Gouache und Kohle