Irène Bourquin «Waldmelodie» Fotos und Lyrik, Waldgut

Angesichts grosser drohender Umweltveränderungen ist es nicht erstaunlich, dass Naturlyrik Ausdruck einer sich verändernden Optik werden kann. Irène Bourquins Lyrik allerdings ist schon lange Teil ihres Schauens, ihrer Auseinandersetzung mit der Natur. Und weil Irène Bourquin in den letzten Jahren intensiv zu fotografieren begann, ist ihre neuste Veröffentlichung eine mehrfach gelungene Auseinandersetzung mit dem Sehen.

An Irène Bourquins Wohnort geht der Blick durch das Fenster in ihrem Schreibzimmer an und zum Wald. Bilder der Bäume umrahmt vom Geviert des Fensters sind Bilder, die sie im Licht des Tages und der Jahreszeiten begleiten. Irène Bourquin ist eine Spaziergängerin. Sie begegnet dem Wachsen und Vergehen, nimmt Textfragmente mit nach Hause, wo sie am Schreibtisch zusammenfinden, wuchern und schrumpfen, ausufern und sich konzentrieren.

«Waldmelodien» sind gesammelte Stimmen rund um die Themen «Wald» und «Bäume». Nicht verklärend, aber geschrieben mit Verehrung und grossem Respekt. Wer das Buch liest, macht mit der Autorin Spaziergänge, bleibt stehen, lässt sich berühren. Die Gedichte sind lange Augenblicke, Korrespondenzen mit den grossen stillen Riesen. «Bäume sind Persönlichkeiten, die ganz andere Herausforderungen des Lebens bestehen müssen als wir Menschen», schreibt die Autorin im kurzen Vorwort. Bäume können nicht davonlaufen, sich nicht verschliessen, sich nicht verweigern, höchstens absterben.

Glänzende Eishaut
am Stamm

Schneemelodie
die weiss geschwungenen
Zweige die Zweiglein

verlorener Vogellaut

In hohem Bogen
das Reh
flieht ins Gestrüpp

***

Filigrane
Tropfenzeichnung
das Astwerk
der Linde
erschauernd
wenn ein Spatz
auffliegt

Baumvolk

 

Herzblättchen
zahllos winzig
zartgrünes Wedeln
zierliches Windspiel
im Abendhimmel
mächtige Krone
dunkelschrundig
Äste und Stamm

***

Weissrosa Blütenschaum
ergrauend
in der Dämmerung
aus ins Dunkel
versunkenem Wald
heiseres Geschrei
krächzendes Gekläff
und Uhuruf
die Jagd beginnt

Wurzel-Werk

 

Waldorgel
zieht alle Register
Rauschen und Brausen
Wispern und Wehen
Knacken und Knistern

aufgewühlt das Grün
tanzt in die Nacht

Grillen zirpen
unbeirrt

***

Schaukelnd
die Spiegelbilder
mächtiger Bäume
im Herbstteich –
goldgrün
die einzelne Birke
auf winziger Insel
reckt sich ins Licht

Platschgeräusch
fallender Eicheln

Aufmarsch

 

Der riesige Kastanienbaum
neben der Kirche
in der Altstadt von Biel
füllt den Himmel aus
mit seinem goldbraunen
Blätterdach
als wäre er
schon hier gewesen
ehe es überhaupt
Erde gab
um darin zu wurzeln

(alle Gedichte aus «Waldmelodien» von Irène Bourquin, Waldgut, mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Irène Bourquin wurde 1950 in Zürich geboren. Sie studierte an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik. Von 1977 bis 1998 war Irène Bourquin Kulturredaktorin der Regionalzeitung «Der Landbote» in Winterthur. Bis 1988 leitete sie die Kulturredaktion. Ab 1988 war sie mit reduziertem Pensum Mitglied der Kulturredaktion. Mitte der 80er Jahre begann Irène Bourquin auch literarisch zu schreiben; seit 1998 liegt hier der Schwerpunkt ihrer Arbeit. Ausserdem ist sie als Lektorin tätig und in verschiedenen Kulturprojekten engagiert. Irène Bourquin ist Mitglied des AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) und des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

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Alle Fotos © Irène Bourquin (Titelfoto «Eisstrunk»)