Peter Weibel „Der Schmetterling schläft“, Waldgut

Es sind 34 Fragmente über das Sterben und den Tod einer Ehefrau. Leas Leben als Schmetterlingsfrau war kein Schmetterlingsleben. Nichts von Leichtigkeit, nichts von farbiger Lebensfreude. Und ihr Mann, der Schreibende, ist verdammt zuzuschauen und sich all den Fragen zu stellen, die nicht zu beantworten sind.

Lea leidet unter der Hautkrankheit „Epidermolysis bullosa dystrophica“, der Schmetterlingskrankheit. Was fast lieblich klingt, ist eine unheilbare, langwierige und äusserst schmerzhafte Krankheit. Der Leidensweg einer Patientin für einen nicht Eingeweihten fast nicht nachvollziehbar. Ein Buch darüber lesen? Warum sollte ich mich dem aussetzen? Muss sich der Schmerz nicht unweigerlich in mir fortsetzen?

“Der Schmetterling schläft“ ist eine Liebesgeschichte. Ein Wehklagen eines Zurückgelassenen. Und weil Peter Weibel der Schöpfer dieser Fragmente ist, ist es alles andere als eine Krankengeschichte. Der Erzählende vermisst seine Frau Lea. Auch wenn die letzten Jahre ein langes Ringen im Schmerz waren. Ein Wechsel von absoluter Verzweiflung und inniger Liebe bis zu jenen Tagen, in denen Lea in einem Hospiz hinüberschläft, ihre kranke Haut genauso zurücklässt, wie einen hadernden Gatten. Auch lange nach dem Sterben erinnert alles an Lea, an die Liebe, die unsägliche Nähe trotz einer Krankheit, die körperliche Nähe fast unmöglich machte. In diesem Text brennt so viel Liebe, dass ich ihn ganz langsam zu lesen begonnen habe. Einzelne Fragmente wie Liebeserklärungen immer wieder. Man ist dem Autor und seinen Gedanken so nahe, dass man Nähe körperlich zu spüren scheint.

«Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.»

Sicher, dieses Buch liest man nicht in der Badewanne, nicht im proppenvollen Zug und nicht so schnell schnell zwischen zwei Schmökern. „Der Schmetterling schläft“ ist wie ein verzweifeltes Zwiegespräch mit einem Gegenüber, das ewig stumm geworden ist, deren Gegenwart aber in allem bleibt. Ein literarisches Kleinod in wunderschöner Gestalt.

Das beim Waldgut Verlag in Frauenfeld erschienene Büchlein ist keine gewöhnliche Drucksache. Das spürte man gleich, wenn man das Kleinod in Händen hält. Fast alles ist von Hand gemacht; der Bleisatz, Handpressendruck, die Papier- und buchbinderische Arbeit. Eine Besonderheit in der Bücherwelt. Eine Tatsache, die grössten Respekt verdient!

Ebenfalls 2016 erschienen ist Peter Weibels Gedichtband „Nachricht an das Leben“:

Aus den Trümmern Worte bauen
aus den Worten Widerstand
aus dem Widerstand vielleicht den neuen Menschen
und vielleicht Hoffnung
und aus der Hoffnung wieder Häuser
.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Informationen zum Verlag

Rezension zu Peter Weibels „Mensch Keun“, edition bücherlese auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ruth Erat «Zum Trocknen aufgehängte Flügel», Waldgut

Ruth Erats Zeichnungen sind nicht einfach Skizzen. Aus einem Strich gezogen spinnt Ruth Erat einen Faden. In ihren Gedichten spinnt sie den Faden tiefer, verwebt ihn assoziativ. Die Zeichnung darüber, der Text darunter. Entstanden sind «Tafeln», Blick- und Gedankenmomente, die mäandern zwischen leisem Spott, Humor und philosophischem Nachdenken.

Tatsächlich waren ihre Text- und Zeichnungskompositionen zuerst nur für Freunde in Schachteln gesammelt, lose in ihrer Reihenfolge, als wären es Bilder in einer Kartei. Irène Bourquin, selbst Lyrikerin und Herausgeberin im Waldgut Verlag im schweizerischen Frauenfeld, hörte die Texte und sah die Zeichnungen bei einer Atelierlesung, die «Viecher», wie sie die Autorin etwas despektierlich nennt. Assoziativ geordnet und neu miteinander verbunden sind es im wunderschönen Buch Zeichnungen und Texte geworden, die «zeichnend und schreibend einen Faden suchen und finden».

Ruth Erats Sprach- und Bildstücke mit Witz und Tiefgang setzen sich in der aktuellen Lyriklandschaft schon deshalb von vielen ab, weil sie sich ganz unverkrampft reimen. Wenn Illustration sonst den Text, das Geschriebene illustriert, illustriert Ruth Erat in «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» vielmehr mit dem Text die Illustration. Das Wort, der Text, gibt dem zweidimensionalen Strich eine zusätzliche Dimension. Auf jeder Seite ist jeweils unter einer Illustration ein Gedicht gesetzt, zentriert, was etwas davon übrig lässt, dass es einst Tafeln waren. Bildtexte oder Textbilder, die sich nicht gegenseitig zu unterstützen versuchen, sondern sich gegenseitig auf dem jeweils andern aufstützen. Aufstützen zu etwas Grösserem!

So wie es in der japanisch-chinesischen Kalligraphie ein Schriftzeichen gibt, das «Nachglanz» bezeichnet, jenes Licht, das bleibt, auch wenn die Sonne bereits untergegangen ist, so glänzen Ruth Erats Schreib- und Zeichenfäden noch lange nach.

Ruth Erat wurde 1951 in Herisau geboren und wuchs in Bern und Arbon auf. Nach ihrem Studium an der Universität war sie ist als Mittelschullehrerin, Schriftstellerin, Malerin und Politikerin tätig. 1999 erschien bei der Edition Suhrkamp die Erzählung «Moosbrand». Seit 2015 ist sie Mitglied des Arboner Stadtparlaments.

Ich danke Ruth Erat für die freundliche Genehmigung, die beiden «Tafeln» abbilden zu dürfen.

Dina Sikirić «Was den Fluss bewegt», Waldgut

Es gibt Menschen, die eine Geschichte, ihre Geschichte so lange mit sich herumtragen, dass in dieser Zeit, in der sich die Geschichte unweigerlich durch Erfahungen und Distanz verändert, nicht nur eine Konzentration geschieht, sondern eine Verwandlung. Bei Dina Sikirić gar noch mehr; ein sprachlich gewachsenes Konzentrat, das nicht trieft und es schafft, ganz mit dem Bewusstsein jenes Kindes zu sehen, das diese Geschichte erzählt.

Mutter und Tochter verlassen 1960 das jugoslawische Zagreb und versuchen in der Stadt am Flussknie, in Basel, ein neues Leben zu beginnen. Die Mutter, weil sie vor einer wiederum zerbrochenen Liebe flieht, die Tochter, weil sie mit fünf Jahren nicht gefragt wird. Erst begegnet den beiden das Fremde freundlich, selbst die Stadt im Winter. Doch als sich die Mutter wegen langer Arbeitszeiten gezwungen sieht, ihre Tochter ausser an den Sonntagen in ein Heim zu img_0118geben, verändert sich alles. Was in den ersten Wochen zusammen mit der Mutter als Schicksalsgemeinschaft für das Kind zur Idylle wurde, schlägt mit einem Mal um in ein jahrelanges Wechselbad zwischen eisiger Kälte und überschäumender Sinnlichkeit. Da nützt auch der ausgesprochene Trost der Mutter nichts: «Wer weiss mein Kind, was den Fluss bewegt…»

Das erste, von Nonnen, von schwarzen Vögeln, geleitete Kinder- und Waisenhaus direkt am Rhein nimmt das Kind entgegen, zieht es aus, kleidet es «neu» ein und setzt es, weil so jung, mit einem Bilderbuch an einen Tisch. Ein weisser Schlafsaal, keine Berühungen, kein Gutenachtkuss, nur Strenge, Drill und eine Sprache, die das Kind verstummen lässt. Neben der Fremde, dem das Kind wie mit einem Kokon eingeschnürt zu trotzen versucht, ist da noch das Bestreben der heiligen Frauen, das heidnische Kind in den Schoss der Kirche zu führen.

Da ist keine Anklage. Im Gegenteil. Sogar Witz ist zu finden, wenn das Kind von den eigenartigen Gebeten der schwarzen Vögel erzählt «Pet frunz» was erst viel später zu «Bitt für uns» wird. Dina Sikirić erzählt äusserst behutsam, beschreibt das schmerzhafte Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland, zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre.

«Was den Fluss bewegt» von Dina Sikirić ist das dritte Buch aus der Reihe «waldgut zoom», einer neuen Reihe für junge Literatur im Waldgut Verlag: Frisch, neue Formen für gute Ideen, ungewohnt bis unbrav, hochinteressant bis kühn. Ob melancholisch, traurig, fröhlich, witzig. Jedes Buch ein anderes Lesefest.» Was immer Dina Sikirićs Buch ist, es ist gelungen, nicht nur inhaltlich, formal und sprachlich, sondern auch haptisch. Bücher aus dem Waldgut Verlag sind Perlen!

Fragen an Dina Sikirić:

Ihr Herkunftsland unterschied sich damals sehr von ihrem Ankunftsland, erst recht aus der Sicht jenes Kindes, das sich in einem von Nonnen geführten Kinderheim nach Heimat sehnt. Sind Herkunfts- und Ankunftsland durch Zeit und ihre Geschichte nicht unvereinbar entfernt voneinander geworden?
Die Geschichte, vor allem jene meines Herkunftslandes, war in den letzten Jahrzehnten sehr bewegt, ja erschütternd. Für mich sind die beiden Länder Herkunfts- und Ankunftsland immer sehr verschieden gewesen, auf eine gewisse Weise «unvereinbar». Vereint habe ich sie jedoch in mir, und dies ist immer möglich. Da können sie immer nebeneinander bestehen in ihrer großen Unterschiedlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ganzes (das konnten sie nie), sondern als zwei eigene, auch widersprüchliche Welten. Ich habe deren im Laufe meines Lebens noch mehrere kennengelernt und in mein Dasein integriert: unterschiedliche, oft widersprüchliche, ganz und gar «ungleiche» Welten, die jedoch alle bestehen, und daher, wenn man den Blick weitet, alle Teil der Welt sind, und alle miteinander, diese ausmachen.

Sie schaffen es erstaunlich, diese Erzählung aus einer «versöhnlichern» Distanz geschrieben zu haben. Stimmt das?
Ich habe die Erzählung nicht bewusst aus einer «versönlichen Distanz» geschrieben, mich jedoch daran gehalten, aus der Sicht des Kindes, das ich damals war, zu erzählen, Erwachsenenkommentare und -kritik wegzulassen, denn ein Kind spürt zwar sehr wohl, ob etwas schön und wohltuend ist oder nicht, es nimmt jedoch alles einfach erstmal auf und konzentriert sich darauf, im Augenblick damit so gut es geht umzugehen. Ich fand, dass diese Haltung für meine Erzählung die richtige ist. Die erwachsenen Leser können sich somit ebenfalls mit einem offenen, erstmal nicht urteilenden Blick, dem Erzählten öffnen und zugleich oder hinterher kritisch darüber nachdenken. Diese «versönliche» Haltung mag einfach auch ein Charakterzug von mir sein.

«Fremd sein» beschäftigt jede(n). Jene als Bedrohung von aussen, andere als solche von innen. Dabei kann «Helfen wollen» dem Fremdsein und Fremdwerden erst recht in die Hände arbeiten. Die Nonnen damals sind deutliches Sinnbild. Ist «Helfen wollen» nicht mehr Zeichen von Entfernung als eine Chance zur Nähe?Ich glaube, es kommt sehr darauf an, WIE man helfen will und hilft! Wenn man erwartet, dass derjenige, dem man hilft, sich dafür eigenen Ansprüchen und Erwartungen anpassen oder gar unterordnen muss, wirkt das Helfenwollen gewiss noch mehr entfremdend. Wenn man aber hilft, indem man jemandem beisteht, sich so sicher, geschützt und wohl als möglich in einer neuen, fremden Umgebung zu fühlen, ohne von ihm dafür Verleugnung seiner selbst und seiner Traditionen zu verlangen, so ist im Helfen auch Annäherung, ja manchmal sogar echte Nähe möglich. Das geschieht im privaten Bereich (wenn man einem einzelnen Menschen beisteht und hilft) ebenso wie in grösserem Ausmaß, bei der Flüchtlingshilfe. Die Haltung: «Ich oder Wir sind besser, wissen es besser, sind kultivierter, und was es dergleichen mehr gibt, hat beim Helfen nichts zu suchen.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Nähe erlebt oder erfährt man oft mit einem fremden Menschen direkter als mit solchen, die man schon lange kennt, und mit denen der Austausch «eingespielt» ist, d.h. oftmals routiniert.
Viele Autoren haben diese Nähe zwischen Fremden und Entfremdung zwischen vermeintlich Nahen schon formuliert. Fremdheit ist ja auch immer eine Frage der Perspektive.

 Vielen Dank am die Autorin für die Antworten!

img_01161955 in Zagreb geboren, in Basel aufgewachsen. Dina Sikirić studierte an der Schauspielakademie Zürich und arbeitete als Schauspielerin an verschiedenen deutschsprachigen Theatern (u.a. in Basel, Stuttgart und Freiburg). Nach dem Studium der persischen, spanischen, italienischen und portugiesischen Sprache und Kultur war sie als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätig. Sie lebte in Deutschland, Frankreich, Madrid, London und auf Mauritius; seit 2007 lebt sie wieder in Basel. «Was den Fluss bewegt» ist ihr erstes Buchprojekt.

literaturblatt.ch fragt, Teil 4, Beat Brechbühl antwortet.

beat_brechbuehl_Foto_Amanda-GaechterBeat Brechbühl ist Schriftsteller, Dichter und Verleger, unermüdlicher Kämpfer für die Poesie und seit seiner Erstveröffentlichung «Kneuss» 1970 bis zu seiner neusten Veröffentlichung «Farben, Farben» 2015 ein ganzes Leben in Sachen Literatur unterwegs. 1939 in Oppligen, Kanton Bern, geboren, lernte er zuerst Schriftsetzer, wurde dann Redakteur und Verlagsmitarbeiter. Heute lebt Beat Brechbühl als Schriftsteller von Lyrik und Prosa, als Gestalter und Verleger (Waldgut Verlag) in Frauenfeld im Thurgau, Schweiz. Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Bodensee-Literaturpreis, dem Kulturpreis des Kantons Thurgau und dem Buchpreis der Stadt Bern. Zuletzt erhielt er den Anerkennungspreis der Stadt Frauenfeld (2009).

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Für mich ist das Leben: Geschichten. Einige davon finde ich so interessant oder komisch oder ekelhaft, dass ich sie andern erzählen will.

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste, der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Schreiben ist für mich immer schwierig. Ich habe nie leicht geschrieben (Was ist das?). Wie bei anderer Arbeit: Manchmal machts (skeptische) Freude, manchmal machts Ärger (einem selbst und andern), manchmal will ich es einfach machen.
Höhepunkt ist vielleicht, wenn ich die Schreibe gelungen finde. Tiefpunkte: Wenn ich im Thema stecken bleibe, wenn ich die Sprache nicht finde, wenn es mir verleidet. Wer sich vor seinem Schreiben fürchtet, soll es bleiben lassen und etwas anderes tun.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich lasse mich von Vielem ver- und entführen, denke herum, schwärme, ärgere mich, rege mich auf – doch irgendwann muss die Arbeit die Form und Straffheit bekommen, die ich mir vorgestellt und vorgenommen habe. Und am Schluss wird gekürzt. Das tut oft weh, aber viel weher machts mir, wenn für mich Unnötiges in einem Gedicht, in einer Geschichte drinbleibt.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Was mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist: die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Zusammenleben. Das friedliche, kreative, selbstverständliche Zusammenleben mit uns Menschen, mit den Tieren, der Erde, der Zukunft. Das ist für mich die / unsere Chance; nicht die einzige, aber die wichtigste. Diesen Sätzen brauche ich nicht anzufügen, dass ich mich dafür in voller Verantwortung denke und fühle; und oft nicht nur für meinen Teil.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Klar schau (höre, spüre, fühle) ich besser hin, wenn ich etwas wieder- oder/und weitergeben will.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn ich schreibe, versuche ich mich zu isolieren; ich schalte alle möglichen Stör- und Ablenkungsfaktoren aus und ab. Ich will möglichst intensiv in der Geschichte, im Gedicht drin sein, leben, Musik soll mich nicht beeinflussen oder ablenken; die muss in der Geschichte, im Gedicht drin sein. Ich trinke zB keinen Wein zum Schreiben, nur selbst angesetzten Tee.

Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Ich kenne auch beim Schreiben viele Grenzen. Meist sind es die selbstgesetzten, die einen fördern, fordern, oder hemmen. Grenzenlos ist für mich ein Begriff, in dem ich die Grenzen nicht sehe, spüre, merke. Grenzen nehme ich oft positiv; ich arbeite mit ihnen, selten abweisend. Die bequemsten Grenzen sind die, die ich nicht merke, oder nicht merken will.

Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen hast?
Was soll ich Geheimtipps verbreiten? Wen es interessiert, soll unser Verlagsprogramm lesen. Wenn ich davon Namen nennen würde, wäre das ungerecht und anmaßend. Also: www.waldgut.ch

Zähl doch 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Robert Walser «Der Gehilfe» (Selbstverständlich habe ich damals die etwa 11bändige Ausgabe im Kossodo Verlag Genf gelesen. Und alles andere auch.)
Arno Schmidt «Zettels Traum» (Auch da: alles alles gelesen. Nur nicht mehr die Suhrkamp Ausgabe; ich kannte das ja alles….)
Orhan Veli Kanık «Fremdartig»

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller geworden, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst?
Mit 25 musste ich mich entscheiden: Fotografie oder Schreiben. Da damals in der Fotografie eine neue Mode herrschte (ran ans Objekt ohne Hemmungen…), war mir klar: Schreiben. – Schreiben aufhören, fertig, aus…? Was ist das? Kenn ich nicht.

Was tust du mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?„Bücher, die mir nicht gefallen?“ Mir soll ein Buch nicht „gefallen“; ich kaufte Bücher wegen ganz andern Kriterien, zB: muss das haben, will das haben, spricht mit mir, erweitert mich, bringt für mich Neues, usw.
Geschenkt bekomme ich selten etwas, Bücher noch seltener. Wenn ich die nicht haben möchte, kann ich das vielleicht sagen – oder ich sag nix und lege die Bücher an unserem Flohmarkt auf.

Schick mir bitte ein Foto von deinem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz.
Fotos von meinem Arbeitsplatz gibt es nicht.
1. hab ich leider schon seit Jahrzehnten keinen Fotoapparat mehr; von einem digitalen rede ich seit Jahren, und
2. handy Foto kann und will ich nicht.
3. Lohnt sich nicht zu fotografieren: Schreibtisch mit Computer drauf. Alles andere soll in meinem Kopf sein; Gedichte schreibe ich nach wie vor von Hand.

Weil ich nicht…

1

Weil ich nicht öffentlich reden kann
und im Live-Interview nicht viel tauge,
bin ich Schriftsteller geworden.

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden.

Weil ich nicht zeichnen und malen kann,
bin ich Gestalter geworden

Weil ich eine charakterlose Handschrift habe,
bin ich Typograph geworden

2

Weil ich nicht schlafen kann,
bin ich Tag- und Nachwandler geworden.

Weil ich nie Motorrad fahren konnte,
bin ich Fussgänger geworden.

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden.

Weil ich dies&das lachen kann,
bin ich kein Humorist geworden.

H1198_200_301Das Gedicht geht noch viel weiter und entstammt seinem Gedichte-Band «Böime, Böime! Permafrost & Halleluja! Erschienen 2014 beim Wolfbach Verlag, Zürich

Lieber Beat Brechbühl, vielen Dank!

Das war der 4. Teil einer kleinen Reihe. Anfang September antwortet Dominique Anne Schuetz. Seien Sie wieder dabei!