„Du blaust mir in die Seele“ Bild und Lyrik rund um den Bodensee

Das «Bodenseemeer», wie es oft auch genannt wird, ist bis heute eine der bedeutendsten Kulturlandschaften Europas. Das Redaktionsteam der Literaturzeitschrift orte, vertreten durch Regina Füchslin, Viviane Egli, Erwin Messmer und Cyrill Stieger und vier Autor:innen aus diesem fruchtbaren Kulturraum luden mit Lyrik und Prosatexten, gezielt und charismatisch ausgewählt, zu einer poetischen Segelpartie ein.

Ruth Erat

Einige dieser Texte wurden eigens für diese orte-Ausgabe „Du blaust mir in die Seele“ verfasst und spiegeln die intensive Verbindung der Schreibenden mit dem Bodensee wider. Im Heft mit an Bord sind 16 namhafte Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für stimmungsvolle Blicke auf den Bodensee in der Mitte des Heftes sorgt der international bekannte Fotograf Bernd Schumacher.

Gemeinsam mit den Dichter:innen Ruth Ehrat CH, Bruno Epple D und Dorothea Neukirchen D und dem Redaktor Erwin Messner aus dem Redaktionsteam der orte Literaturzeitschrift stellten die Schreibenden Texte vor, tauchten ein in die Sprachlandschaft um den Bodensee und diskutierten über ihr Schreiben.

Bruno Epple

So wie es Lyrik auf dem Büchermarkt nicht leicht hat, so unverzagt muss der Einsatz und die Motivation sein, heute und in Zukunft eine Literaturzeitschrift herauszubringen. Verkaufszahlen und Umsatz müssen ausgeblendet werden. Wichtig allein ist das Wort, der Wille, jenen Autor:innen Raum zu geben, denen sonst die Bühne fehlt, die man vergisst. Literaturzeitschriften hatten in der Vergangenheit eine ganz andere Rolle, ein anderes Selbstverständnis als heute. Zeitungen interessieren sich kaum mehr für Lyrik und Verlage, die Lyrik veröffentlichen, mit solchen Büchern finanzielle Experimente starten, tun dies in der Regel nur, um die Lyrik nicht dem Vergessen zu übergeben. Umso verdienstvoller, wenn sich eine Literaturzeitschrift über 200 Ausgaben lang darum bemüht, der Literatur eine Stimme zu geben.

Erwin Messmer

Ruth Erat wuchs auf in Bern und Arbon, wirkte als Lehrerin und Dozentin. Seit 2016 ist sie ausschliesslich als Malerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Seit 2015 ist sie im Arboner Stadtparlament.

Bruno Epple studierte Philosophie, Germanistik, Romanistik und Geschichte in Freiburg, München und Rouen, war lange Lehrer, zuletzt Gymnasialprofessor. Er ist freier Autor und Künstler, der Bilder malt und Skulpturen schafft.

Dorothea Neukirchen

Erwin Messmer, 1950 in Staad SG am Bodensee geboren, hat Lehr- und Konzertdiplome für Klavier und Orgel. Es folgten intensive Konzerttätigkeiten als Organist sowie Radio- und CD-Aufnahmen. Daneben schrieb er stets Gedichte, Prosaarbeiten, Essays und Buchkritiken.

Dorothea Neukirchen, 1941, ursprünglich Bühnenschauspielerin, dann Filmschauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin. Sie schrieb und inszenierte Kinofilme, Dokumentarfilme, Fernsehspiele und -serien. Neben Prosa schreibt sie auch Lyrik.

«Das Literaturhaus Thurgau war für uns von der orte-Literaturzeitschrift ein ganz wunderbarer Gastgeber und Veranstalter. Wir danken, dass wir unsere Arbeit und namentlich die Bodensee-Ausgabe unserer Literaturzeitschrift an diesem unvergleichlich schönen Ort und einem interessierten, wertschätzenden Publikum im Rahmen einer Sonntagsmatinée vorstellen durften. Das grosse Engagement und die literarische Kompetenz unserer Gastgeber, der rege Austausch und die tolle Organisation haben unsere Bodenseeautorinnen- und -autoren und uns beglückt.» Die orte-Redaktion

«Die Matinee in Gottlieben zum hier buchstäblich naheliegenden Thema, in der wir von der Schweizer Literaturzeitschrift «orte» unsere Bodensee-Nummer vorstellen durften, bleibt in frühlingsheller, positiver Erinnerung. Der Gastgeber des Thurgauer Literaturhauses bewies als Moderator einmal mehr, dass für ihn Poesie nicht toter Buchstabe ist, sondern Lebenselixier. Der Funke sprang sogleich auf die vortragenden Gäste über: auf Ruth Erat, Bruno Epple und Dorothea Neukirchen, und von diesen auf ein aufmerksames und dankbares Publikum.» Erwin Messmer

Webseite der orte Literaturzeitschrift

Beitragsbilder © Cyrill Steiger

Ruth Erat «Im Meer treibt die Welt», Waldgut Verlag

Menton, eine Stadt an der Côte d’Azur im Spätherbst. Moritz Wandeler, selbstständiger Anlageberater, alleinstehend, nimmt sich auf unbestimmte Zeit ein Zimmer in der heruntergekommenen Pension „Vue Sur la mer“. Ein kleines Zimmer mit Meerblick; ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank. Er ist ausgestiegen. Ausgestiegen aus dem Zug, ausgestiegen aus seiner Welt, ausgestiegen aus seinem Trott.

Ein Mann standet. Er nimmt sich fast ohne Gepäck ein Zimmer, schaut aufs Meer und die Menschen in der Stadt, spaziert und lässt in seinem Bewusstsein Erinnerungen, Gedanken, Geschichten, Legenden branden. Gedanken eines Menschen, der sich nicht vom Fremden ablenken lässt. Das Smartphone ohne Akku, den Laptop im Zimmerschrank weggesperrt. Was ihn wegträgt, ist das Eigene, das was aufkommt, wenn man sich mit einem Mal Zeit und Raum gibt und lässt.

„Es war nicht zu bestreiten, Wandeler fühlt sich zunehmend wie an den Rand gespült.“

Und wer sich an den Rand gespült fühlt, von den stetigen Brandungswellen des Alltags, wenn ihn das Wasser nicht mehr erreicht und er auf der Mole, dem Fels liegenbleibt, dann sieht man das Branden mit einem Mal aus der Distanz, ist nicht mehr Teil davon.
Ruth Erat lässt offen, warum sich ihr Protagonist in jene Situation brachte. So wie es im Leben oft offen bleibt, warum ist, wie es ist. Ruth Erat will nicht erklären, nicht ergründen. Sie geht mit Moritz Wandeler mit.
Je mehr sich Wandeler seinen Gedanken, seinen Erinnerungen hingibt, desto mehr verliert er sich, setzt sich von seiner Umgebung ab, wird zum Sonderling.

Die einzige Person im Leben Wandelers, die er an den Stand, an den Ort am Meer mitnimmt, ist seine Mutter. Schon lange gestorben. Eine Malerin, von der er die Namen und Gerüche der Farben noch immer in Ohren und Nase hat, von der er gelernt hat, die Dinge auch anders zu sehen. Wie sie sang, französisch. Er kauft sich ein Heft und beginnt zu schreiben, im Zimmer oder auf der Bank mit Blick aufs Meer, manchmal Gedanken, manchmal auch nur die Farben, die Gerüche.

Und dazwischen immer wieder das Wort „Assez“, als wolle sich Wandeler vor der Auflösung schützen, dass ihn einer der Brecher zerschlägt, dass ihn Erinnerungen und Gedanken zurückholen, dorthin, von wo er sich mit seinem Aussteigen abgekoppelt hatte. Er macht Ordnung, Inventur in seinem Leben, legt aus. „Assez!“

Ruth Erat malt, wenn sie schreibt. Ihre Prosa wirkt wie Standbilder, ein gemaltes Bild nach dem andern. Es ist nicht die Geschichte, die vorantreibt, ein sich aufbauender Plott. So sehr Moritz Wandeler sinniert, reflektiert und seine Gedanken treiben lässt, so sehr malt Ruth Erat literarisch dichte Bilder, mischt Klangfarben, hebt mit Formulierungen Gedankengänge hervor, koloriert innere wie äussere Bilder eines Menschen, der aus seinem Rahmen hinausgetreten ist. Was wenig erstaunt, wenn man das Schaffen der Künstlerin kennt. Ruth Erat malt seit Jahrzehnten, verfasst Gedichte, zeichnet.
Ganz offensichtlich geht es der Autorin nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Der Text um Moritz Wandeler sind ihre Leinwände, eine lange Serie von Bildern, die sowohl von Nahem wie aus der Ferne zu betrachten sind. Wer die Erzählung „Im Meer treibt die Welt“ lesen und geniessen will, muss auf anderes neugierig sein als auf eine Story. Selbst die Figur Wandeler bleibt während des Lesens in seltsamer Distanz, erschliesst sich nie ganz, bleibt ein Rätsel. Wer sich von ihrem Erzählen mitnehmen lassen will, muss sich wie bei den Bildern der Malerin Ruth Erat hineinlesen, einlassen in eine Komposition, in ihre kunstvolle, zarte Sprache, den zuweilen mäandernden Erzählfluss.
Man bleibt allein mit Moritz Wandeler, geht mit ihm zwischen Meer und Land herum, sieht andere Menschen, ohne je wirklich mit ihnen in Kontakt zu kommen. „Im Meer treibt die Welt“ ist der Roman eines Gestrandeten, dessen Gedanken wie Brandung über sein Innerstes schwappen.

Eigen ist auch die Erzählperspektive, denn Ruth Erat wechselt von einer Erzählstimme, aus der Er-Perspektive immer wieder zum Selbstgespräch. Und dann spricht Wandeler zu sich selbst in der Du-Form, treibt sich an, kommentiert, gibt sich eine sprachliche Spur, sucht nach Sinn und Muster, nach Antworten und Klarheit.

„Kein Wunder, stellte Wandeler fest, dass der Mensch am Ende derart ermüdet.“

Und dass „Im Meer treibt die Welt“ im Waldgut Verlag von der Dichterin Irène Bourquin herausgegeben wurde, verbindet drei Sprachwelten, jene des Verlags, der Herausgeberin und jene Ruth Erats; die Welten, die sprachlich verschwistert sind, die sich nur der Sprache verpflichtet fühlen.

Ruth Erat wuchs in Bern und Arbon auf, wurde Lehrerin, studierte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit über Mechthild von Magdeburg. Sie engagierte sie sich politisch und wurde 2015 ins Stadtparlament von Arbon gewählt. Daneben war und ist sie als Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Im gleichen Jahr erschien bei Suhrkamp ihre Erzählung «Moosbrand». Ruth Erat ist Verfasserin von erzählenden, lyrischen und dramatischen Werken, zeichnet, malt und gestaltet Installationen.

Rezension zu «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Webseite der Malerin und Autorin

Beitragsbild © Ruth Erat «Zum Rand hin», Gouache und Kohle

Ruth Erat «Zum Trocknen aufgehängte Flügel», Waldgut

Ruth Erats Zeichnungen sind nicht einfach Skizzen. Aus einem Strich gezogen spinnt Ruth Erat einen Faden. In ihren Gedichten spinnt sie den Faden tiefer, verwebt ihn assoziativ. Die Zeichnung darüber, der Text darunter. Entstanden sind «Tafeln», Blick- und Gedankenmomente, die mäandern zwischen leisem Spott, Humor und philosophischem Nachdenken.

Tatsächlich waren ihre Text- und Zeichnungskompositionen zuerst nur für Freunde in Schachteln gesammelt, lose in ihrer Reihenfolge, als wären es Bilder in einer Kartei. Irène Bourquin, selbst Lyrikerin und Herausgeberin im Waldgut Verlag im schweizerischen Frauenfeld, hörte die Texte und sah die Zeichnungen bei einer Atelierlesung, die «Viecher», wie sie die Autorin etwas despektierlich nennt. Assoziativ geordnet und neu miteinander verbunden sind es im wunderschönen Buch Zeichnungen und Texte geworden, die «zeichnend und schreibend einen Faden suchen und finden».

Ruth Erats Sprach- und Bildstücke mit Witz und Tiefgang setzen sich in der aktuellen Lyriklandschaft schon deshalb von vielen ab, weil sie sich ganz unverkrampft reimen. Wenn Illustration sonst den Text, das Geschriebene illustriert, illustriert Ruth Erat in «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» vielmehr mit dem Text die Illustration. Das Wort, der Text, gibt dem zweidimensionalen Strich eine zusätzliche Dimension. Auf jeder Seite ist jeweils unter einer Illustration ein Gedicht gesetzt, zentriert, was etwas davon übrig lässt, dass es einst Tafeln waren. Bildtexte oder Textbilder, die sich nicht gegenseitig zu unterstützen versuchen, sondern sich gegenseitig auf dem jeweils andern aufstützen. Aufstützen zu etwas Grösserem!

So wie es in der japanisch-chinesischen Kalligraphie ein Schriftzeichen gibt, das «Nachglanz» bezeichnet, jenes Licht, das bleibt, auch wenn die Sonne bereits untergegangen ist, so glänzen Ruth Erats Schreib- und Zeichenfäden noch lange nach.

Ruth Erat wurde 1951 in Herisau geboren und wuchs in Bern und Arbon auf. Nach ihrem Studium an der Universität war sie ist als Mittelschullehrerin, Schriftstellerin, Malerin und Politikerin tätig. 1999 erschien bei der Edition Suhrkamp die Erzählung «Moosbrand». Seit 2015 ist sie Mitglied des Arboner Stadtparlaments.

Ich danke Ruth Erat für die freundliche Genehmigung, die beiden «Tafeln» abbilden zu dürfen.