Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!

Urs Faes «Halt auf Verlangen», Suhrkamp

«Er fürchtete nicht das Leiden, den Tod, er war nicht einmal verliebt in das Leben, aber er hatte ein tiefes Begehren gespürt» steht als Zitat des amerikanisch-britischen Schriftstellers Henry James dem neuen Buch von Urs Faes vorangestellt. Kein Roman, ein Fahrtenbuch, ein Logbuch, eine literarische Auseinandersetzung mit einer Diagnose, die den Tod bedeuten kann. Ein intimer Blick, der nur deshalb gelingt, weil nichts an dem sehr persönlichen Buch rührselig, mitleiderregend oder exhibitionistisch ist, nichts.

Urs Faes ist einer der Grossen der Schweizer Literatur, kein Szenenautor und seit Jahrzehnten Hausautor bei Suhrkamp. Schon in seinen frühesten Werken erzählte Urs Faes von Lebens- und Beziehungskrisen. Einmal zeitlich ganz nah wie im grossen Roman «Paarbildung», ein ander Mal in zeitlicher Entfernung wie im letzten Roman «Sommer in Brandenburg» auf einem brandenburgischen Landgut während des Nationalsozialismus, wo junge Juden aud das Leben im Kibbuz vorbereitet wurden. Eine zarte Liebesgeschichte unter unsäglicher Bedrohung. Kein Wunder, wenn sich Urs Faes nach der Diagnose Krebs mit der eigenen, gesundheitlichen Krise auseinandersetzt.

Urs Faes «Fahrtenbuch» «Halt auf Verlangen» beschreibt Fahrten mit der Strassenbahn, mit Zürichs Tram von seinem Zuhause in die Klinik zur Bestrahlung, manchmal aber auch eine Station weiter bis zu den Friedhöfen. Er beginnt zu schreiben wie damals als 12jähriger in ein Heft, nicht grösser als ein Schulheft. Anfangs wohl noch ohne Ziel, ohne Absicht, dann immer mehr als Auseinandersetzung mit sich, der Krankheit, der Menschen aus der Vergangenheit, dem, was im Angesicht des möglichen Sterbens übrig bleibt. Mit dem, was aus der eigenen Geschichte hervorbricht. Wonach man sich sehnt, wenn man aus der Selbstverständlichkeit hinausrutscht. Urs Faes schrieb schon als Knabe, als sein Vater für lange Zeit verschwand und als gebrochener, kranker Mann zurückkehrte. Er schrieb vom kleinen Bruder, der anders war als alle andern, im Heim war und immer nach dem Vater fragte. Er schrieb von der Mutter, die in Arbeit und Sorge zu ertrinken drohte. Urs Faes schrieb damals als Zurückgelassener. Schreiben war Notwendigkeit, die einzige Möglichkeit, den Halt nicht zu verlieren. Genau wie jetzt mit seiner Krankheit, dem Krebs, als ihn ein Freund ermuntert: Schreib auf. Urs Faes schreibt von den behutsamen, heimlichen Anfängen des Schreibens, als es nach dem Tod seines kleinen Bruders und der langen Krankheit seines Vaters Trost und Flucht war. Er schrieb, «weil nichts in dieser Stille war». Wie die Not des Schreibens zum Zwang wurde und verstehen lässt, dass Urs Faes mit der Krankheit, die den Tod bedeuten kann, das Schreiben unmöglich sein lassen kann.

Warum ein solches Buch lesen? Warum sich dem aussetzen? Es geht kaum um die Krankheit, nie um das ausgesteckte Feld auf dem Unterbauch, das bestrahlt werden soll. Es geht darum, was mit einem Menschen geschieht, der wohl mit den Augen sieht, aber mit dem Schreiben wahrnimmt. Urs Faes, seiner Endlichkeit vorgeführt, sieht sich mit Erinnerungen konfrontiert, die wie Zeigefinger aus dem Meer von Unverdautem und Verdrängtem auftauchen. Bis zum Friedhof, wo unter Steinen Geschichten begraben liegen, dem Vergessen übergeben. Etwas, dem Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch entgegenschreibt.

Urs Faes Sprache schmeichelt nicht, umgarnt einem aber doch. Sie ist Farbe, Geruch und Stimmung. Ohne Pathos, nicht einmal in den Schmerz der Krankheit getaucht. Sie ist ehrlich, unmittelbar. Gefühle werden über Sprache zelebriert, etwas, was der Autor in seinen Romanen seit je beweist; ein untrügliches Gespür für Klang und Musik. Urs Faes spielt mehrstimmig, ein ganzes Orchester an Klangfarben anstimmend. Grosses Können,

Urs Faes liest aus seinem Fahrtenbuch «Halt auf Verlangen» an den Solothurner Literaturtagen 2017, vom 25. bis 28. Mai. Ich freue mich!

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Webseite des Autors

Titelfoto: «Inhalation» ©️ Philipp Frei

Christoph Hein «Trutz», Suhrkamp

Christoph Heins neuer Roman „Trutz“ ist auf dem Schutzumschlag als „Jahrhundertroman“ angepriesen. Ist er das? Gemessen an der Zeitspanne, die der Roman beschreibt, mit Sicherheit. Aber auch sprachlich und in seiner Erzählweise? Christoph Hein, der seine ersten Werke noch in der DDR veröffentlichte, schrieb die Geschichte von Menschen, die der Sturm der Geschichte durch ein Jahrhundert peitscht. Er zeichnet ein Stück Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Norddeutschland über Berlin und Moskau bis ins tiefste Sibirien, das mir bewusst macht, wie sehr Wohlstand und politische Stabilität zur Selbstverständlichkeit wird. Geschichte rutscht aus dem Bewusstsein weg, erst recht heute, wo Ausblenden und Verleugnen zum politischen Programm werden kann.

Christoph Hein erzählt die Geschichte von Rainer Trutz und seinem Sohn Maykl, von Waldemar Gejm und dessen Sohn Rem, von Deutschland und Russland, in denen durch die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts kein Stein auf dem andern bleibt. Und von der Mnemotik, einer vergessenen Wissenschaft gegen das Vergessen.
Rainer Trutz entflieht der elterlichen Engstirnigkeit auf dem norddeutsche Hof ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Berlin, einer Stadt zwischen den Weltkriegen. Seine Hoffnungen, dort schnell eine Arbeit und einen Platz zu finden, verflüchtigen sich angesichts der grassiereden Armut und Arbeitslosigkeit. Erst durch einen Unfall, den „Zusammenstoss“ mit dem Auto einer jungen Frau, findet er einen Job als freier Mitarbeiter in Zeitungen und Zeitschriften, auch einen Platz im „Schwimmerbassin“ des „Romantischen Cafés“, wo sich die früheren Stammgäste des „Café Grössenwahn“ treffen; Schriftsteller, Maler, Journalisten, Schauspieler, Kreti und Pleti, Männlein und Weiblein der Berliner Szene. Und als dann auch noch sein erster Roman erscheint und er gemeinsam mit Gudrun eine kleine Wohnung bezieht, scheint er wider Erwarten schnell dem Ziel seiner Träume näher gekommen zu sein.
Aber Rainer stolpert. Ein erstes Mal mit seinem Roman, der seiner Frivolität wegen den moralischen Vorstellungen der aufstrebenden braunen Bewegung missfällt. Und sein zweiter Stolperer ist sein zweiter Roman, der in der Presse als „Wühlarbeit einer roten Ratte“ diffamiert wird. Rainer gerät unversehens zwischen die Fronten, muss fliehen, zuerst aus seiner Wohnung, später ganz aus Deutschland, mangels Alternativen ins sowjetische Moskau. Gudrun arbeitet nicht mehr als Gewerkschaftssekretärin, sondern an den Maschinen einer Schokoladenfabrik. Rainer mit seinen zwei linken Händen in der „Brigade Karl Marx“, die mit andern das Vorzeigeprojekt Metro in der sowjetischen Hauptstadt zu Ehren Stalins vorantreiben soll. Rainer überlebt die moskauer Jahre nur, weil er Wladimir Gejm kennenlernt, einen hochdekorierten Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonosow-Universität. Ein Gelehrter, der mit seiner Wissenschaft der Mnemotik, der Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung (Keine Erfindung des Autors!) Neuland betritt und darin Rainers Sohn Maykl und seinen eigenen Sohn Rem zu Probanden dieser neuen Technik macht. Zwei Familien wachsen zusammen. Für wenige Jahre bedeutet es das grosse Glück der beiden Kinder Maykl und Rem, die wie Brüder zueinander aufwachsen.
Aber die Mühlen der Geschichte drehen unberechenbar weiter. Manchmal ändert die Drehrichtung vollkommen. In den Wirren der verschiedenen russischen Säuberungsaktionen, in denen sich nicht nur Stalin, Generalsekretär und Diktator der Sowjetunion von scheinbaren Konkurrenten befreit und damit Tausende der Willkür und Denunziation zum Opfer fallen, wird auch Rainer Trutz wegen einer Buchbesprechung in seiner Berliner Zeit zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager verurteilt. Ebenso Professor Gejm, dessen Lehrstuhl aufgelöst, alle Manuskripte und Unterlagen vernichtet werden, um ihn zuerst in die Garderobe eines Moskauer Theaters und später in eine Besserungsanstalt, wo er Bäume fällen soll.
Familien werden auseinandergerissen, Leben zerbrochen. Christoph Hein erzählt das Panorama zweier Familien über fast hundert Jahre. Eine Geschichte, von der Christoph Hein vor dem ersten Kapitel erklärt: „In diesen Roman geriet ich aus Versehen, oder viel mehr durch Bequemlichkeit.“ Eine Geschichte, die erzählt werden musste!
Ein Buch, das ich atemlos bis zur letzten Seite las. Ein Buch, das mich bewegt, wie alle Bücher des grossen Autors, der erst im Jahr 2016 mit „Glückskind mit Vater“ (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen) bei Suhrkamp einen tief beeindruckenden Roman veröffentlichte. Christoph Hein fesselt jene genauso, die nach historischen Stoffen dürsten, wie jene, die sich gerne über grosse Erzählbögen von Geschichten mitreissen lassen. Ich spüre Christoph Heins Pflicht, sich mit den Wirrungen der unmittelbaren Geschichte auseinanderzusetzen, mit Verantwortung für die Gegenwart, ohne dass er mit einem Mahnfinger drohen muss.
„Trutz“ ist grosse deutsche Literatur!

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Stephan Lohse «Ein fauler Gott», Suhrkamp

Jonas ist tot. Jonas ist Benjamins kleiner Bruder. Bens Mutter weint, immer wieder. Mama war zu beiden Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.
Für gewisse, seltene Romane, scheinen Allgemeingültigkeiten ausser Kraft zu treten. Wettern Kritiker manchmal, dem Autor fehle die Distanz zum Geschehen, zu den Protagonisten, macht genau dies eine der Qualitäten von Stephan Lohses Erstling «Ein fauler Gott» aus.

Ben ist vor ein paar Wochen elf geworden. Aber statt sich über Geburtstag und die epochalen Entdeckungen eines Elfjährigen freuen zu können, stirbt Bens kleiner Bruder Jonas. Und mit einem Mal schlingert das kleine familiäre Planetensystem. Mit einem Mal ist alle Normalität ausser Kraft gesetzt, nichts mehr, wie es einmal war. Und weil sich Bens Vater, Ruths Mann eh schon aus der Familie verabschiedete, bleibt Ben mehr als bloss allein mit seiner Mutter, die nachts in ihrem Schlafzimmer auf einer Heizdecke hockt und stundenlang weint. Am nächsten Tag gibt es zu Mittag Ravioli aus der Büchse, innen noch kalt. Oder Nudelauflauf mit viel Rotz.

Stephan Lohse begleitet den ins Abseits abdriftenden Ben und seine verlorene Mutter Ruth durch ein Leben voller Tücken, Unverständnis und unlösbarer Geheimnisse. Stephan Lohre schildert eindrücklich, wie der kleine Ben mit Gott hadert, erst recht, nachdem Mami mit heiserer Stimme sagt, der kleine Engel auf Jonas› Sarg solle daran erinnern, dass der liebe Gott einen Engel gebraucht und dafür Jonas ausgesucht habe. Stephan Lohse schlüpft in die zu tiefst verunsicherte Seele des Jungen, sieht und versteht mit den Schlüssen des Jungen: «Im Krankenhaus haben sie mit einer Maschine Jonas› Gedanken aufgeschrieben. Seine Gedanken waren schnelle Zacken. Deswegen gebe ich mir Mühe, dass meine Gedanken mehr wie lange Kurven sind.» Stephan Lohses Schreiben entwickeln eine Kraft, der ich mich über 330 Seiten lang nicht entziehen konnte. Ben sucht nach Angelpunkten für sein aus den Fugen geratenes Leben. Er mag Herr Gäbler, den Nachbarn, der in seinem Garten ein Autowrack ohne Räder aufgebockt hat, einen Opel Rekord P1 mit 92% Rundumsicht. Herr Gäblers Auto hat einen Knopf für Nebel, links neben dem Loch für den Zigarettenanzünder. Praktisch, denn im Nebel kann einem niemand sehen! Ben mag Herr Gäbler, weil Herr Gäbler versteht, ohne Fragen zu stellen und Ben nicht zu Antworten zwingt, die immer mehr fordern. Ben will nicht sagen, dass Jonas, sein Bruder, tot ist. Dann lieber eine Lüge «Der hat zu tun», die ihm Distanz bringt.

Da war «die Sache im Schwimmbad» – und dann fuhr man Jonas mit Blaulicht ins Krankenhaus. Dort ist er geblieben. Mami kam zurück und weinte, Tag und Nacht. Ben kam extra pünktlich nach Hause, spielte ihr auf der Blockflöte vor. Aber dann muss Ben weg, für ein paar Wochen ins Kinderheim Lugisland im Schwarzwald zum Aufpäppeln. Ausgerechnet er, Ben, der so gar keine Lust hat, in einem Schlafsaal aufzuwachen, schon gar nicht mit Pisse vollgesogenen Unterhosen. Dann lieber liegen bleiben, für immer, und sterben, jetzt gleich, auf der Stelle. Aber erstaunlicherweise entpuppt sich das Kinderheim als Ort voller Sonderlinge, lauter Jungs mit Geschichten. Bis das Kinderkurheim eines Morgens lichterloh in Flammen steht, Ben zum Held wird und im Jesuitenkolleg St. Blasien landet. Dort nehmen ihn die Schüler in ihre Gemeinschaft auf. Und Sebastian, der Geige spielt, gibt ihm Winnetou zum Lesen: «Muss man kennen.»

Stephan Lohse schlüpft in den Jungen, begleitet ihn, hört seinen Gedanken zu, ohne zu kommentieren. Er stellt sich ganz nah an seine Seite. Stephan Lohses Sprache spiegelt diese Nähe meisterhaft und trotz aller Trauer mit Witz. Es ist die Tonart des Jungen, die mich als Leser verstehen oder erahnen lässt, was in und zwischen den Zeilen liegt. Ich trage den Schmerz mit, den Ben mit Gott hadern lässt: Gott packt die Seelen an ihren Armen, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äussersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Bücher zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich.»

Stephan Lohses Erstling trifft tief. Gut vorstellbar, dass es Lebenssituationen gibt, in denen die Lektüre dieses Buches unerträglich sein kann.

«Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.»

Ein Interview:

«Ein fauler Gott» als Titel schimpft schon auf dem Buchdeckel. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht einer Kampfschrift gegen die Kirche nicht, auch wenn es Gründe dafür genug gäbe. Trotzdem hadert Ben mit Gott oder ganz allgemein mit einer Welt, die ihm niemand wirklich erklären kann. Waren sie einmal ein Ministrant, Mitspieler einer Zeremonie, die auch viel Schauspielerei beinhaltet? Nein, ich war kein Ministrant. Aber die Kirche spielte eine große Rolle in meiner Kindheit. Als Angehöriger der Diaspora (damals war Hamburg kein eigenes Bistum wie heute, sondern gehörte zum Bistum Osnabrück) war ich sogar ein wenig stolz, Katholik zu sein. Das änderte sich mit den Jahren. Bis heute gefällt mir der zeremonielle Aspekt der katholischen Messe, ich gehe allerdings nur noch selten in die Kirche.

Ihr Roman erzählt unter anderem davon, was passiert, wenn man Kinder mit ihren Fragen zur Welt allein lässt, wie leicht Kinder Dinge und Situationen interpretieren und Schlüsse ziehen, die Fäden durch ein ganzes Leben ziehen können. Die Art und Weise ihres Erzählens verrät viel über ihre Empathie Kindern gegenüber. Wie nah sind sie ihrer eigenen Kindheit? Ich glaube, ich kann mich ganz gut erinnern. Wobei ich weniger bestimmte Vorfälle erinnere, sondern Atmosphären und Stimmungen. Obendrein habe ich mir mit dem Erwachsenwerden Zeit gelassen. Es ist also noch nicht so lange her… Ein Freund meinte neulich, ich hätte einen Schlag bei Kindern. Ich mag Kinder sehr und unterhalte mich gerne mit ihnen.

Sie sind Schauspieler, in ihrem Fach ein Meister, in fremde Hüllen zu schlüpfen. Wie sehr erleichterte diese Fähigkeit ihr Schreiben, nehmen sie doch mit dem 11jährigen Ben und seiner Mutter Ruth zwei Erzählpositionen ein, die er nicht einfach machen. Ich denke, dass meine Gewohnheit, szenisch zu denken, Einfluss auf mein Schreiben hat. Für mein Empfinden tue ich nicht viel anderes als in den letzten zwanzig Jahren: Ich denke gründlich über Figuren nach. Ich habe lediglich das Medium gewechselt.

Kritiker und Textfachleute warnen schnell davor, beim Schreiben eine gewisse Distanz nicht zu verlieren. Manche Autoren schweben in ihrem Erzählen dauernd leicht über dem Geschehen, beinahe gottähnlich. Sie scheuen sich gar nicht, möglichst viel Nähe einzunehmen. War ihre Erzählposition von Beginn weg klar definiert? Der Wunsch nach Nähe ist zunächst einmal der Wunsch nach Kontakt. Ich muss etwas anschauen, um es anschaulich zu machen, ich muss es berühren, um berühren zu können. Ich glaube, nur wenn ich bereit bin, die Nähe zum Beschriebenen auszuhalten, wird der Leser dem Beschriebenen nahe kommen können. Es ist wohl auch ein wenig meine Art, durch die Welt zu gehen: Ich schließe vom Detail aufs Ganze.

Die Welt eins Jungen im Sommer 1972 unterscheidet sich in krasser Weise von der eines Kindes im Jahr 2017. Trotz allem Schmerz, von dem ihr Roman erzählt, verfallen sie nie einem Kommentar darüber, was alles verloren ging. Gibt es solche Nachbarn noch wie Herrn Gäbler, der Ben auf seinem im Garten aufgebockten Autowrack mitnimmt? Oder würde man Herr Gäbler ziemlich schnell die unmöglichsten Motivationen anhängen? Was wäre ihnen wichtig, wäre ihr Junge heute 11? Wäre es nicht furchtbar, wenn man Herrn Gäbler falscher Absichten verdächtigte? Dabei gab es das Problem damals natürlich genauso. Ich halte Vorsicht gegenüber Männern, die sich mit elfjährigen Jungs abgeben für angebracht. (Meine Schwester ist Psychoanalytikerin im Strafvollzug und hat einige Kindesmissbraucher als Patienten.) Doch das Klima permanenter Verdächtigung ist unerträglich. Pädophilie ist ein seltenes Phänomen. Mehr als die Hälfte der Kindesmissbraucher sind nicht pädophil, und die meisten von ihnen kommen aus dem unmittelbaren familiären Umfeld. Die wenigsten von ihnen sind freundliche Nachbarn.
Ich habe kein besonders nostalgisches Verhältnis zu den Siebziger Jahren. Es war halt die Zeit meiner Kindheit. Dort kenne ich mich aus. Und ich hatte wenig Lust, über Kinder zu schreiben, die von ihren Smartphones hypnotisiert sind und ständig Biogemüse essen müssen.

Lieber Herr Lohse, vielen Dank!

Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. «Ein fauler Gott» ist sein Debütroman. Stephan Lohse lebt in Berlin.

Titelbild: Sandra Kottonau

Andreas Maier «Der Kreis», Suhrkamp

Andreas Maier ist ein Meister der Sprache. Wer ihn und sein Schreiben mag, ist vorsichtig, wenn es ums Weiterempfehlen seiner Bücher geht. Dieses Geschenk ist zu kostbar, als dass es unverstanden und ungeliebt weggelegt werden darf!

In seinem neuen Buch «Der Kreis» erzählt Andreas Maier aus seiner Kindheit, nicht wirklich in Romanform, schon gar nicht chronologisch. Sein Grossprojekt ist mit «Der Kreis» einen Band weiter. Der Gang durch seine Heimat wird schlussendlich 11 Bände umfassen, eine Familiensaga aus der Wetterau, ein Selbstportrait, mit viel Fiktion sehr ernst genommen, ein autobiographischer Zyklus. Eine Ich-Figur, die allzu oft mit dem Autor Andreas Maier verwechselt oder gleichgesetzt wird, ein fiktionaler Kosmos angelehnt an die Realitäten der Vergangenheit, ohne Handlung, die den Autor «nur langweilt». Seit Beginn des gross angelegten Projekts stehen die Tiel der 11 Bände fest, der Setzkasten, der aber noch leer ist. Die Romane sind viel mehr eine Ortsbegehung, geographisch und psychologisch, familiär und gedanklich, erzählerische Essays, die mit der vom Verlag aufgesetzten Bezeichnung «Roman» allzu sehr Geschichten erwarten lassen. Mit seinen Büchern will Andreas Maier seine Fragen beantworten, im Roman «Der Kreis» unter anderem die Frage nach der Kunst, was sie sein soll. Maier ist Analytiker und Beobachter seines kindlichen Ichs. Das Buch beginnt mit Streifzügen durch die Bibliothek seiner Mutter, Streifzüge eines Siebenjährigen, der die Welt aus Versatzstücken zu verstehen versucht, schon damals tastend auf der Suche nach dem Kern. Andreas Maier beschreibt das Lesenlernen einer Welt, von innen nach aussen mit den Augen und dem Verstand eines Jungen. Schon spannend deshalb, weil Maier bewusst macht, wie viele Spekulationen die Welt der Erwachsenen bei Kindern provozieren.

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Auf dem Literaturmarkt wird verlangt, mindestens alle zwei Jahre ein Buch zu schreiben, möglichst einen Roman, möglichst dick (aufgetragen). Möge er wenn möglich, auf eine der Long- und Shortlists kommen. Andreas Maier aber will nicht Bücher um jeden Preis «heraushauen». Sein Buch, sein Projekt entzieht sich den gängigen Mustern der Buchmode, erfrischend. «Ich hörte auf, Romane zu schreiben und begann einfach zu schreiben, ohne zu enden, zumindest vorläufig.» Mag sein Projekt manchem wie ein Hamsterrad erscheinen, Andreas Maier taucht mit jedem Band neu, nicht mit dem Anspruch einer Chronologie, erzählt die Figur, dieses Ich immer wieder neu. Es müsse «entstehen», eine Tür aufgehen, zu dem, was er schon lange erzählen wollte. «Es kommt drauf an, was ich nicht erzähle, damit es funktioniert.» Seine Bücher sind «Krankheits- und Glaubensgeschichte», eine Grundlagenklärung, im Wissen darum, welches Privileg er geniesst, als Schriftsteller leben zu können.

Wenn Andreas Maier liest, sind es durchaus Geschichten, aber kleine Geschichten, genauso als sässe er bei einem Glas Weisswein (!) am Tisch mit anderen und würde erzählen, mal dies, mal das. Verstärkt durch die Gestik während des Lesens, seine Rechte, die seinen Vortrag zu dirigieren scheint.

3056_maier_andreasAndreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier wohnt in Hamburg.

NoViolet Bulawayo «Wir brauchen neue Namen», Suhrkamp

Bastard, Chipo, Godknows, Sbho, Stina und Darling ziehen durch eine der unzähligen Blechhüttensiedlungen Simbabwes. Die Kinder, nicht älter als 12, sind sich selbst überlassen, verlassen von Vätern, die spielen oder ihr Glück im Ausland versuchen, vergessen von Müttern, die stumpf wurden in der Sorge ums Überleben. ‹Paradies› heisst die Siedlung der Vertriebenen, Gestrandeten und Gescheiterten, eine Siedlung im Nichts, permanent bedroht, nicht zuletzt von der Willkür des Staates oder der Wut des Mobs.

Weil die einzige Regel dieses Literaturzirkels ist, dass niemand in der Runde das Buch bereits gelesen haben soll, las ich dieses Buch, das sonst wohl leider an mir vorbeigegangen wäre – und bin tief beendruckt!

Paradies; Was für die Erwachsenen Endstation aller Hoffnungen ist, ist für die Kinder trotz permanentem Hunger alles, was sie besitzen; «Wir sind zusammen, und wir sind zu Hause, und alles ist süsser als Nachtisch.» Sie verlassen für Streifzüge die Siedlung, ziehen durch benachbarte Gegenden, die ihnen wie fremde Erdteile erscheinen, plündern Gärten, versuchen in der Gruppe wenigstens die Mägen zu füllen. Schulen gibt es keine mehr, weil die nicht bezahlten Lehrer längst das Weite suchten. Und die Hilfe der NGOs ist ein Hohn, denn sie verschenken Plastikgewehre und Süssigkeiten. Bei den wirklichen Problemen sind die Kinder ganz auf sich selbst zurückgeworfen, erst recht mit Chipo, so alt wie sie, schwanger, stumm, traumatisiert durch die Vergewaltigung in der eigenen Familie, rätselhaft für die Kindergruppe, die helfen will, sic42451h verliert in Spekulationen, wie das Kind in den Bauch gekommen sein soll und sich in eine Beinahe-Katastrophe hineinmanövriert. Alles ausserhalb von Paradies ist «ausserirdisch», Häuser, Strassen und Menschen genauso wie das Geschehen am und im eigenen Körper. Das Leben der Kinder ist losgelassen, bloss Reaktion auf Bedürfnisse. Die junge Autorin NoViolet Bulawayo erzählt aus einer Kindheit wie der ihren, einem scheinbar verlorenen Leben in den Slums, vergessen von einer desillusionierten, resignierten Mutter und einem aus Südafrika zurückgekehrten und an Aids erkrankten Vater. Paradies ist eine Welt, in der die Kinder gemeinsam überleben lernen, nicht im Ort zuhause, sondern in den Gemeinsamkeiten, der Gemeinschaft, der Freundschaft.
Aber Darling wird herausgerissen zu Verwandten in den USA. Was von Aussen wie eine Rettung erscheint, ist schlussendlich die Vertreibung aus dem Paradies. Darling bleibt Flüchtling, bleibt fremd in einem Land, dass sie als Geflohene in die Illegalität drängt, nie ankommen lässt.

«Wir brauchen neue Namen» ist ein Buch, das mich zweifelnd zurücklässt, ein Buch, das schmerzt, nichts beschönt und angesichts der Kraft, die aus dem Roman spricht, mehr als nur nagt angesichts der Massen, die in Bewegung sind! «Wir brauchen neue Namen» beschreibt die Willkür und den Zerfall in Simbabwe nach der Befreiung «von der weissen Herrschaft», zeigt aber gleichzeitig das Elend des Fliehens, das Unverständnis der Zurückgebliebenen und die Scham, es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht übers Kloputzen – Scheissjobs hinaus geschafft zu haben. Das Dilemma des Vertriebenen und Geflohenen und nie Angekommenen, von niemandem Willkommenen. Es genügt längst nicht ein Mensch zu sein!

12828_bulawayo_noviolet-1NoViolet Bulawayo, geboren 1981 in Simbabwe, zog im Alter von achtzehn Jahren in die Vereinigten Staaten. 2011 gewann sie den Caine Prize for African Writing. Ihr Romandebüt «Wir brauchen neue Namen» ist ein weltweiter Erfolg. NoViolet Bulawayo heisst eigentlich Elizabeth Zandile Tshele und lebte bis zum 18. Lebensjahr in Bulawayo in Simbabwe. Ihren Namen wählte sie sich in Erinnerung an die Stadt, in der sie aufwuchs, und an ihre Mutter: „Mit Mutter zu Hause“.

NoViolet Bulawayo über «Wir brauchen neue Namen» (Video)

Webseite der Autorin

img_1062Aufs nächste Mal lesen wir wieder ein vielversprechendes Buch:

 

21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch

Hans-Ulrich Treichel «Tagesanbruch», Suhrkamp

«Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.»

Die Pietà – eine Mutter hält ihren sterbenden oder toten Sohn in ihren Armen, Sinnbild dafür, dass Muttersein auch mit dem Tod von Töchtern und Söhnen nicht endet. Die latente Angst und Sorge aller Eltern, dass die Nachgeborenen zuerst sterben könnten. Die Mutter entlässt ihren toten Sohn aus ihren Armen, bettet ihn in seinem Zimmer, das er krank geworden wieder zu dem seinigen machte. Die Mutter entlässt aber nicht nur ihren Sohn, sondern mit ihm eine Geschichte und den letzten Rest Familie, jene Geschichte, über die man nicht spricht, nicht mit dem Mann, schon gar nicht mit dem Sohn. Während die Mutter neben ihrem toten Sohn auf den Morgen wartet, schreibt sie auf, was nie ausgesprochen werden konnte, was sie über Jahrzehnte verborgen als Urschmerz mit sich herumtrug. Ihr Mann, als er noch lebte ein Versehrter ohne rechten Arm, der mit Hilfe seine Frau der Behinderung trotzte und sie, die ihre Versehrtheit aus dem grossen Krieg verschlossen mit sich herumtrug, sprachen niemals aus, was sie wohl zusammenschweisste aber füreinander verloren und fremd werden liess. Hans-Ulrich Treichels Erzählung sind Bilder aus dem Leben einer Frau, die mit einer ganzen Kette von «wäre» und «hätte» an ein unfreiwillig gelebtes Leben gebunden war. Da blickt eine Generation auf die nächste, eine Mutter auf das Leben ihres Sohnes, um festzustellen, dass sich die Welt unbemerkt weiterdrehte.
«Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war.»

Treichel_Hans_Ulrich_2013sw187_c_HeikeSteinweg_SVHans-Ulrich Treichels Romane und Erzählungen beschäftigen sich alle unspektakulär mit Verlust und Verlorenheit. Nichts desto trotz sind sie ein Weckruf zur Offenheit, ein Mahnmal für Ehrlichkeit und Offenheit, genau jene Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch viel dringender brauchen wird.
Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Seit 1995 ist Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt und erschienen fast alle bei Suhrkamp.