Stephan Lohse «Ein fauler Gott», Suhrkamp

Jonas ist tot. Jonas ist Benjamins kleiner Bruder. Bens Mutter weint, immer wieder. Mama war zu beiden Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.
Für gewisse, seltene Romane, scheinen Allgemeingültigkeiten ausser Kraft zu treten. Wettern Kritiker manchmal, dem Autor fehle die Distanz zum Geschehen, zu den Protagonisten, macht genau dies eine der Qualitäten von Stephan Lohses Erstling «Ein fauler Gott» aus.

Ben ist vor ein paar Wochen elf geworden. Aber statt sich über Geburtstag und die epochalen Entdeckungen eines Elfjährigen freuen zu können, stirbt Bens kleiner Bruder Jonas. Und mit einem Mal schlingert das kleine familiäre Planetensystem. Mit einem Mal ist alle Normalität ausser Kraft gesetzt, nichts mehr, wie es einmal war. Und weil sich Bens Vater, Ruths Mann eh schon aus der Familie verabschiedete, bleibt Ben mehr als bloss allein mit seiner Mutter, die nachts in ihrem Schlafzimmer auf einer Heizdecke hockt und stundenlang weint. Am nächsten Tag gibt es zu Mittag Ravioli aus der Büchse, innen noch kalt. Oder Nudelauflauf mit viel Rotz.

Stephan Lohse begleitet den ins Abseits abdriftenden Ben und seine verlorene Mutter Ruth durch ein Leben voller Tücken, Unverständnis und unlösbarer Geheimnisse. Stephan Lohre schildert eindrücklich, wie der kleine Ben mit Gott hadert, erst recht, nachdem Mami mit heiserer Stimme sagt, der kleine Engel auf Jonas› Sarg solle daran erinnern, dass der liebe Gott einen Engel gebraucht und dafür Jonas ausgesucht habe. Stephan Lohse schlüpft in die zu tiefst verunsicherte Seele des Jungen, sieht und versteht mit den Schlüssen des Jungen: «Im Krankenhaus haben sie mit einer Maschine Jonas› Gedanken aufgeschrieben. Seine Gedanken waren schnelle Zacken. Deswegen gebe ich mir Mühe, dass meine Gedanken mehr wie lange Kurven sind.» Stephan Lohses Schreiben entwickeln eine Kraft, der ich mich über 330 Seiten lang nicht entziehen konnte. Ben sucht nach Angelpunkten für sein aus den Fugen geratenes Leben. Er mag Herr Gäbler, den Nachbarn, der in seinem Garten ein Autowrack ohne Räder aufgebockt hat, einen Opel Rekord P1 mit 92% Rundumsicht. Herr Gäblers Auto hat einen Knopf für Nebel, links neben dem Loch für den Zigarettenanzünder. Praktisch, denn im Nebel kann einem niemand sehen! Ben mag Herr Gäbler, weil Herr Gäbler versteht, ohne Fragen zu stellen und Ben nicht zu Antworten zwingt, die immer mehr fordern. Ben will nicht sagen, dass Jonas, sein Bruder, tot ist. Dann lieber eine Lüge «Der hat zu tun», die ihm Distanz bringt.

Da war «die Sache im Schwimmbad» – und dann fuhr man Jonas mit Blaulicht ins Krankenhaus. Dort ist er geblieben. Mami kam zurück und weinte, Tag und Nacht. Ben kam extra pünktlich nach Hause, spielte ihr auf der Blockflöte vor. Aber dann muss Ben weg, für ein paar Wochen ins Kinderheim Lugisland im Schwarzwald zum Aufpäppeln. Ausgerechnet er, Ben, der so gar keine Lust hat, in einem Schlafsaal aufzuwachen, schon gar nicht mit Pisse vollgesogenen Unterhosen. Dann lieber liegen bleiben, für immer, und sterben, jetzt gleich, auf der Stelle. Aber erstaunlicherweise entpuppt sich das Kinderheim als Ort voller Sonderlinge, lauter Jungs mit Geschichten. Bis das Kinderkurheim eines Morgens lichterloh in Flammen steht, Ben zum Held wird und im Jesuitenkolleg St. Blasien landet. Dort nehmen ihn die Schüler in ihre Gemeinschaft auf. Und Sebastian, der Geige spielt, gibt ihm Winnetou zum Lesen: «Muss man kennen.»

Stephan Lohse schlüpft in den Jungen, begleitet ihn, hört seinen Gedanken zu, ohne zu kommentieren. Er stellt sich ganz nah an seine Seite. Stephan Lohses Sprache spiegelt diese Nähe meisterhaft und trotz aller Trauer mit Witz. Es ist die Tonart des Jungen, die mich als Leser verstehen oder erahnen lässt, was in und zwischen den Zeilen liegt. Ich trage den Schmerz mit, den Ben mit Gott hadern lässt: Gott packt die Seelen an ihren Armen, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äussersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Bücher zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich.»

Stephan Lohses Erstling trifft tief. Gut vorstellbar, dass es Lebenssituationen gibt, in denen die Lektüre dieses Buches unerträglich sein kann.

«Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.»

Ein Interview:

«Ein fauler Gott» als Titel schimpft schon auf dem Buchdeckel. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht einer Kampfschrift gegen die Kirche nicht, auch wenn es Gründe dafür genug gäbe. Trotzdem hadert Ben mit Gott oder ganz allgemein mit einer Welt, die ihm niemand wirklich erklären kann. Waren sie einmal ein Ministrant, Mitspieler einer Zeremonie, die auch viel Schauspielerei beinhaltet? Nein, ich war kein Ministrant. Aber die Kirche spielte eine große Rolle in meiner Kindheit. Als Angehöriger der Diaspora (damals war Hamburg kein eigenes Bistum wie heute, sondern gehörte zum Bistum Osnabrück) war ich sogar ein wenig stolz, Katholik zu sein. Das änderte sich mit den Jahren. Bis heute gefällt mir der zeremonielle Aspekt der katholischen Messe, ich gehe allerdings nur noch selten in die Kirche.

Ihr Roman erzählt unter anderem davon, was passiert, wenn man Kinder mit ihren Fragen zur Welt allein lässt, wie leicht Kinder Dinge und Situationen interpretieren und Schlüsse ziehen, die Fäden durch ein ganzes Leben ziehen können. Die Art und Weise ihres Erzählens verrät viel über ihre Empathie Kindern gegenüber. Wie nah sind sie ihrer eigenen Kindheit? Ich glaube, ich kann mich ganz gut erinnern. Wobei ich weniger bestimmte Vorfälle erinnere, sondern Atmosphären und Stimmungen. Obendrein habe ich mir mit dem Erwachsenwerden Zeit gelassen. Es ist also noch nicht so lange her… Ein Freund meinte neulich, ich hätte einen Schlag bei Kindern. Ich mag Kinder sehr und unterhalte mich gerne mit ihnen.

Sie sind Schauspieler, in ihrem Fach ein Meister, in fremde Hüllen zu schlüpfen. Wie sehr erleichterte diese Fähigkeit ihr Schreiben, nehmen sie doch mit dem 11jährigen Ben und seiner Mutter Ruth zwei Erzählpositionen ein, die er nicht einfach machen. Ich denke, dass meine Gewohnheit, szenisch zu denken, Einfluss auf mein Schreiben hat. Für mein Empfinden tue ich nicht viel anderes als in den letzten zwanzig Jahren: Ich denke gründlich über Figuren nach. Ich habe lediglich das Medium gewechselt.

Kritiker und Textfachleute warnen schnell davor, beim Schreiben eine gewisse Distanz nicht zu verlieren. Manche Autoren schweben in ihrem Erzählen dauernd leicht über dem Geschehen, beinahe gottähnlich. Sie scheuen sich gar nicht, möglichst viel Nähe einzunehmen. War ihre Erzählposition von Beginn weg klar definiert? Der Wunsch nach Nähe ist zunächst einmal der Wunsch nach Kontakt. Ich muss etwas anschauen, um es anschaulich zu machen, ich muss es berühren, um berühren zu können. Ich glaube, nur wenn ich bereit bin, die Nähe zum Beschriebenen auszuhalten, wird der Leser dem Beschriebenen nahe kommen können. Es ist wohl auch ein wenig meine Art, durch die Welt zu gehen: Ich schließe vom Detail aufs Ganze.

Die Welt eins Jungen im Sommer 1972 unterscheidet sich in krasser Weise von der eines Kindes im Jahr 2017. Trotz allem Schmerz, von dem ihr Roman erzählt, verfallen sie nie einem Kommentar darüber, was alles verloren ging. Gibt es solche Nachbarn noch wie Herrn Gäbler, der Ben auf seinem im Garten aufgebockten Autowrack mitnimmt? Oder würde man Herr Gäbler ziemlich schnell die unmöglichsten Motivationen anhängen? Was wäre ihnen wichtig, wäre ihr Junge heute 11? Wäre es nicht furchtbar, wenn man Herrn Gäbler falscher Absichten verdächtigte? Dabei gab es das Problem damals natürlich genauso. Ich halte Vorsicht gegenüber Männern, die sich mit elfjährigen Jungs abgeben für angebracht. (Meine Schwester ist Psychoanalytikerin im Strafvollzug und hat einige Kindesmissbraucher als Patienten.) Doch das Klima permanenter Verdächtigung ist unerträglich. Pädophilie ist ein seltenes Phänomen. Mehr als die Hälfte der Kindesmissbraucher sind nicht pädophil, und die meisten von ihnen kommen aus dem unmittelbaren familiären Umfeld. Die wenigsten von ihnen sind freundliche Nachbarn.
Ich habe kein besonders nostalgisches Verhältnis zu den Siebziger Jahren. Es war halt die Zeit meiner Kindheit. Dort kenne ich mich aus. Und ich hatte wenig Lust, über Kinder zu schreiben, die von ihren Smartphones hypnotisiert sind und ständig Biogemüse essen müssen.

Lieber Herr Lohse, vielen Dank!

Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. «Ein fauler Gott» ist sein Debütroman. Stephan Lohse lebt in Berlin.

Titelbild: Sandra Kottonau