21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch

21. Literaturfestival Leukerbad 2016: Urs Mannhart, der stille Beobachter

Trotz der Sonne sitzt Urs Mannhart zusammen mit Daniel Puntas Bernet in der halbdunklen Hotelbar «les sources des alpes». Bernet ist Chefredakteur der Zeitschrift «Reportagen», in dessen neuster Ausgabe Urs Mannhart eine Reportage veröffentlichte mit dem Titel «Verloren in Chongqing – lost in translation: Ein Reporter verliert sich in Chongqing, der grössten Stadt der Welt».

Urs Mannhart ist ein «Mann des 19. Jahrhunderts», zu Fuss, mit Zug und Fahrrad unterwegs, mit einem Stift in Notizbücher schreibend, kritzelnd, ein Langsamreisender, ein Genauhinschauer, Schriftsteller und Reporter zugleich, weil die wirklich interessanten Dinge mit «Unfällen» zu tun haben. Nach einer überteuerten Offerte bei seinem Zahnarzt vor vielen Jahren, war es eine mannhart[1]Reise nach Ungarn, die neben einem dort zurückgelassenen Weisheitszahn so doch die erste Reportage mit sich brachte. In einer anderen Reportage war er ursprünglich auf der «Suche nach der Herkunft des Erdgases aus seiner Heizung, die kalt geblieben war». Herausgekommen ist der Report einer Reise ganz in den Norden Russlands, in ein kleines Dorf, dessen Geheimnisse nur durch geduldiges Beobachten zu ergründen waren. Ein «Ahnungsloser» unterwegs, gerne ein unsichtbarer Gast, der viel lieber vergessen geht. Gerade deshalb braucht es für seine Reportagen mehr als ein paar kurze Tage, sondern ein paar Wochen, um beim Beobachteten vergessen zu gehen.

In nicht allzu ferner Zukunft wird ein neuer Roman von Urs Mannhart erscheinen, ein Buch, das den Arbeitstitel «Rapacitanium» trägt, ein Metall, eine «seltene Erde», das ausgerechnet in den Tiefen des auslaufenden Thunersees gefunden wird.  Eine Geschichte, die in naher Zukunft spielen wird, von einem Mann, der seit vielen Jahren in Chinas Ameisenhaufen lebend in die zurückgebliebene Schweiz «heimkehrt». Ich bin mehr als gespannt, freue mich!

Wer seinen letzten Roman «Bergsteigen im Flachland» noch nicht gelesen hat, sollte dies nun, wo der Text längst von allen Plagiatsvorwürfen reingewaschen wurde, unbedingt nachholen. Ein Roman, von dem mit Recht behauptet wird, er wäre einer der besten, der in den vergangenen Jahren in der Schweiz geschrieben wurde. Der Roman birgt alles, um lange und hell zu leuchten. Und wenn es auch schon eine Weile her ist seit seinem Erscheinen 2014, trifft dieser Roman durch Aktualität, Brisanz und unverblümter Offenheit. So entsteht bei der Lektüre nicht nur Begeisterung, sondern ebenso grosses Erstaunen. Da schrieb jemand tief betroffen von der Ungerechtigkeit, ohne platt und plakativ zu werden, mit erstaunlich viel Hintergrundwissen, so fundiert und bestechend, sec_mannhart_bergsteigen_big[1]dass ich als Leser dauernd nachfragen möchte, wie genau das Erzählte die Wahrheit trifft. Urs Mannhart erzählt vom Reporter Thomas Steinhövel, der als Berichterstatter die Orte bereist, in denen Geschichte geschrieben wird und dabei immer mehr zum ‹Bergsteiger im Flachland› wird, in einer Zeitungswelt, die dem Internet immer näher ist als der Realität. Urs Mannhart erzählt von den Schlachten unserer Zeit, den Menschen und dem Verschwinden einer Welt im Balkan, dem Leiden in den Erdbeerplantagen Spaniens, der Suche nach Gerechtigkeit in den Büros des Den Haager Gerichtshofs. Ein starker Roman, ein Denkmal für Thomas Brunnsteiner, jenen Reporter, der Urs Mannharts Roman mit unsinnigen Plagiatsvorwürfen für Monate blockierte. Ein finanzielles Desaster für Autor und Verlag.

Mannhart, geboren 1975, der als Velokurier, Nachtwächter und Journalist gearbeitet hat, gehört mit Christoph Simon und Lorenz Langenegger zu den Mitgliedern der Literaturgruppe «dieAutören». Im Bilgerverlag erschien 2004 der Roman «Luchs» und 2006 «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Urs Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland, der Ukraine und zuletzt aus China.

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Leukerbad ist tot – es lebe das Literaturfestival Leukerbad!

Das 21. Literaturfestival Leukerbad ist Geschichte. 33 Autorinnen und Autoren aus über einem Dutzend Länder, lasen und diskutierten in 58 Veranstaltungen vor einem immer grösser werdenden Publikum. Einem Publikum, das voll auf seine Kosten kam und sich durch die Nähe zu den Akteuren begeistern liess.

«Das Ziel des Schreibens ist das Verschwinden.» Adolf Muschg

Dieses Jahr standen Reportagen und Essays im Brennpunkt. Die Frage «Was bedeutet die essayistische Freiheit in der persönlichen Auseinandersetzung mit einem Thema?» diskutierten Autoren in Gesprächen, Lukas Barfuss mit dem amerikanischen Essayisten Eliot Weinberger, Jonas Lüscher mit dem ägyptischen Schriftsteller Youssef Rakha, der sich in einem Essay auf die Suche nach dem aktuellen arabischen Sexleben – vor der Kamera, hinter dem Schleier, in den Privathäusern und im Internet machte. Er zeigt auf, dass Freiheit und sexuelle Freiheit Hand in Hand gehen und dass die Forderungen des arabischen Frühlings allumfassend und nach wie vor aktuell sind. Und Adolf Muschg mit dem deutschen Literaturwissenschaftler und Philosophen Jan Philipp Reemtsma, dessen Erfahrungsbericht «Im Keller» vor 20 Jahren geschrieben über seine 33 Tage dauernde Gefangenschaft und seine traumatischen Erfahrungen mit Allmacht und Ohnmacht unauslöschlich in meinem Gedächtnis blieb.

«Ein Roman ist ein Gemälde, über das ich weniger Gewalt habe, als das ich gerne hätte.» Adolf Muschg

Aber es waren auch die Begegnungen mit grossen Namen: Adonis, den grossen Dichter der arabischen Avantgarde, Viktor Jerofejew und Vladimir Sorokin, zwei provokante Kritiker Russlands, Jérôme Ferrari aus Frankreich, der 2012 mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Aber auch «kleinere» Namen wie Perdo Lenz, der Mundart vom Fensten bot, Anita Siegfried, die vom verrückten Plan eines Kanals über die Alpen erzählte oder Sabine Gruber, die Südtirolerin, die uns Zuhörer mit der Buchpremière ihres neuen Romans «Daldossi oder das Leben des Augenblicks» über die Innenseite eines erfolgreichen Krisen- und Kriegsfotographen beschenkte. Die Liste wäre noch viel länger – beeindruckend lange, auch wenn vielversprechende Begegnungen wegen Krankheit der Akteure abgesagt werden mussten.

«Schreiben ist Evolution. Aber nicht wie bei Darwin. Es überlebt nicht der Stärkere, sondern das das Zarteste, das am meisten Zuwendung braucht.» Adolf Muschg

DSCN1317So deplatziert und morbid mir der Ort Leukerbad mit jedem Jahr sauer aufschlägt, mit seiner Anhäufung von leerem Raum, Plastiktischtüchern, russisch sprechendem Personal und Einmannmusikunterhaltung unter meinem Hotelzimmer, so beeindruckend war die Gewalt der Bergkulisse und die der Sprache. Schon erstaunlich, was Hans Ruprecht und Anna Kulp, die Leiter des Festivals, in Leukerbad zu konzentrieren vermögen – und ganz offensichtlich nicht nur zur Freude des angereisten Publikums. Ich freue mich schon jetzt auf den kommenden Literaturhochsommer 2017 in Leukerbad.

«Schreiben beginnt mit Staunen.» Adolf Muschg

Weiter auf diesem Blog folgen Berichte über Urs Mannhart und seine seltene Erde «Papacitanium» und die beiden literarischen Schwergewichte Julia Kissina und Vladimir Sorokin.

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