Hans-Ulrich Treichel «Schöner denn je», Suhrkamp

Vor ein paar Jahren lebte ich für einige Wochen in der Wohnung einer Cousine, die mit ihrer Familie in die Ferien gefahren war. Ein paar Wochen im Zuhause einer eigentlich fremden Familie, eines fremden Lebens. Türen, Schubladen, die Intimitäten verbergen, die mit einem Mal offen zu sein scheinen. Zumindest offen für Interpretationen. „Schöner denn je“ erzählt von einer Obsession. Hans-Ulrich Treichel nimmt mich mit in den Strudel eines Abdriftenden.

Ich liebe die Bücher von Hans-Ulrich Treichel. Da war es ganz selbstverständlich, dass ich den neuen Roman zur Hand nahm und zu lesen begann. So wie man einen Anruf eines alten Freundes doch nicht einfach abwürgt oder gar mitten im Telefonat aufhängt. Ich begann zu lesen, liess mich fesseln, auch wenn ich bis zum Schluss der Lektüre nicht genau weiss, was das Buch mit mir machte. Hält es mir einen Spiegel vor? Stellt es sich meinen Erwartungshaltungen quer? Entlarvt es mich gar?

Andreas hat sich von seiner Frau getrennt, ist ausgezogen, was in Berlin gar nicht so leicht ist, wenn einem die Brieftasche die Auswahl eingrenzt. Und weil es der Zufall wollte, dass er in einem Bistro Eric traf, einen ehemaligen Schulkameraden, den er für Jahrzehnte aus den Augen verlor, nie aber aus seinen Erinnerungen und ihm von seiner Wohnungsnot erzählte, bot dieser ihm seine Wohnung an, weil er für mehrere Wochen in die Staaten verreisen müsse. Andreas nimmt das Angebot an, zieht in die riesige Wohnung ein und lässt sich mitreissen vom Strom der Geschehnisse, die sich zu Beginn nur in seinem Kopf abspielen, denn aber immer mehr zu einer sich überschlagenden Realität werden.

Hans-Ulrich Treichel «Schöner denn je», Suhrkamp, 2021, 175 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42973-0

Eric war schon in der Schule unnahbar, von einer anderen Welt, erst recht, weil Andreas alles dafür gegeben hätte, ein Freund von Eric zu sein. So blieb die Bindung der beiden stets eine einseitige, Andreas der stille Bewunderer. Weil die Sehnsucht nach Überschneidungen aber so gross war, schrieb sich Andreas gar in ein Architekturstudium ein, weil er der Überzeugung war, Eric dann während des Studiums ganz natürlich über den Weg zu laufen. Es war nie eine erotische Anziehung, umso mehr eine menschliche, weil Eric all das repräsentierte, was Andreas zu fehlen schien: Souveränität, Eleganz, Geheimnis und die Zugehörigkeit zu etwas Grossem. Aber Eric schlug einen anderen Weg ein, lernte erst Tischler und studierte später Filmarchitektur, um dann in der Welt des Films, im glamourösen Fluidum Hollywoods Karriere zu machen.

Wahrend Andreas als Romanist in der Lehrerfortbildung arbeitet und nie über den Status eines Beamten hinauskam, in seiner Ehe scheiterte und sich fragen musste, wo sein Leben hinführen sollte, schien Eric den Olymp der Glückseligkeit gefunden, die Quelle des Erfolgs angezapft zu haben; einen Beruf, der ihn in der Götterwelt des Films einliess, eine grosse Wohnung in bester Lage Berlins und nicht die Spur eines Unglücks. Und als dann in der Wohnung Eric auch noch das Telefon klingelt und sich Hélène Grossman, eine berühmte Schauspielerin meldet, die Andreas schon Jahrzehnte vergöttert und in ihrer Not statt Eric Andreas um einen Gefallen bittet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Schöner denn je“ ist der Roman über einen Mann, der in seiner eigenen Welt, in seiner Obsession abdriftet, den Boden unter den Füssen verliert, sich in fremdem Leben verirrt. Darüber, wie Fantasie und Interpretation mit einem Leben spielen können und man sich in selbst gewählter Zurückgezogenheit in seiner eigenen Gedankenwelt verheddert. Hans-Ulrich Treichel macht das auf seine ganz eigene Art, beinahe analytisch, lakonisch erzählt. Ein ganz spezielles Lesevergnügen!

Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.

Rezension von «Tagesanbruch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Heike Steinweg

Hans-Ulrich Treichel «Tagesanbruch», Suhrkamp

«Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.»

Die Pietà – eine Mutter hält ihren sterbenden oder toten Sohn in ihren Armen, Sinnbild dafür, dass Muttersein auch mit dem Tod von Töchtern und Söhnen nicht endet. Die latente Angst und Sorge aller Eltern, dass die Nachgeborenen zuerst sterben könnten. Die Mutter entlässt ihren toten Sohn aus ihren Armen, bettet ihn in seinem Zimmer, das er krank geworden wieder zu dem seinigen machte. Die Mutter entlässt aber nicht nur ihren Sohn, sondern mit ihm eine Geschichte und den letzten Rest Familie, jene Geschichte, über die man nicht spricht, nicht mit dem Mann, schon gar nicht mit dem Sohn. Während die Mutter neben ihrem toten Sohn auf den Morgen wartet, schreibt sie auf, was nie ausgesprochen werden konnte, was sie über Jahrzehnte verborgen als Urschmerz mit sich herumtrug. Ihr Mann, als er noch lebte ein Versehrter ohne rechten Arm, der mit Hilfe seine Frau der Behinderung trotzte und sie, die ihre Versehrtheit aus dem grossen Krieg verschlossen mit sich herumtrug, sprachen niemals aus, was sie wohl zusammenschweisste aber füreinander verloren und fremd werden liess. Hans-Ulrich Treichels Erzählung sind Bilder aus dem Leben einer Frau, die mit einer ganzen Kette von «wäre» und «hätte» an ein unfreiwillig gelebtes Leben gebunden war. Da blickt eine Generation auf die nächste, eine Mutter auf das Leben ihres Sohnes, um festzustellen, dass sich die Welt unbemerkt weiterdrehte.
«Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war.»

Treichel_Hans_Ulrich_2013sw187_c_HeikeSteinweg_SVHans-Ulrich Treichels Romane und Erzählungen beschäftigen sich alle unspektakulär mit Verlust und Verlorenheit. Nichts desto trotz sind sie ein Weckruf zur Offenheit, ein Mahnmal für Ehrlichkeit und Offenheit, genau jene Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch viel dringender brauchen wird.
Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Seit 1995 ist Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt und erschienen fast alle bei Suhrkamp.