Mara Meier „Die roten Sandalen“

Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Die Grossmutter spricht mit Tante Lisa. Die meinen, ich schlafe und geben sich Mühe, mich nicht zu wecken, sagt sich Nina.

Am nächsten Morgen kommt Tante Lisa ins Zimmer und zieht Nina die Bettdecke weg. Auf, du kleiner Faulpelz! ruft sie. Die Sonne scheint, komm, wir gehen in den Zoo!

Nina zieht das rote Kleid an, das die Mutter für sie genäht hat. Es ist ihr zu kurz, aber Tante Lisa sagt, es stehe ihr gut. Das Kleid war in dem Koffer, den die Tante für sie gepackt hatte, und mit dem sie einen Tag vor den Herbstferien auf einmal vor der Tür zu Ninas Schulzimmer stand. Sie sind dann mit dem Zug zur Grossmutter gefahren, Nina und Tante Lisa, eine Überraschung, hat die Tante gesagt. Darum hatte sie Ninas Koffer schon gepackt, mit dem roten Kleid darin. Aber die Sandalen hatte sie vergessen. Am nächsten Tag hat sie ihr welche gekauft, glänzend rote, damit sie zum Kleid passen, das die Mutter genäht hat.

Komm schon, ruft Tante Lisa und zieht Nina vom Küchentisch weg, bevor sie ihre Milch ausgetrunken hat. Tante Lisa rennt mit Nina zum Bus. Im Zoo kauft die Tante für Nina einen roten Plüschfrosch, und auf dem Heimweg einen roten Luftballon für Nina. Rot ist Ninas Lieblingsfarbe.

Die Mutter mag Rot auch sehr gern. Doch Blau gefällt ihr noch besser, das weiss Nina. Die Mutter schreibt immer mit blauer Tinte. Königsblau, sagt sie dazu. Nina denkt, dass vielleicht eine Postkarte von der Mutter im Briefkasten liegt, wenn sie vom Zoo nach Hause kommt. Mit dem Meer drauf, oder mit Bergen. Doch sie mag die Grossmutter nicht danach fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als könnte man sie irgend etwas fragen. Und Tante Lisa ist schon weg.

Einmal war Nina mit Tante Lisa im Park. Sie haben die Enten im Teich mit trockenem Brot gefüttert, und Nina hat gesagt, dass sie mit der Mutter immer die Schwäne am Fluss füttern gehe. Und dann hat sie die Tante gefragt, wo die Mutter sei, wann sie wiederkomme. Tante Lisa hat ihr erklärt, dass die Mutter in die Ferien gefahren sei, das könne Nina doch sicher begreifen, sie sei ja schon ein grosses Mädchen. Eine Mutter brauche auch einmal Erholung.

Nina hat genickt und gedacht, dass Mutter in letzter Zeit immer müde war und gar nicht mehr fröhlich. Nicht wie im Frühling, als sie das rote Kleid für sie genäht und dazu gesungen hat.

Aber warum hatte die Mutter keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass sie fortgeht, keine Zeit, ihr noch einen Kuss zu geben? Sie hat sich nicht getraut, die Tante zu fragen. Vielleicht ist Mutters Zug ganz plötzlich gefahren, oder sie musste schnell zum Flughafen, um den Flieger nicht zu verpassen.

Die Grossmutter hat Fischstäbchen mit Salzkartoffeln und Spinat gekocht. Sie schaut zu, wie Nina isst. Nina zerdrückt die Kartoffeln mit der Gabel zu Brei. Den Spinat isst sie ganz schnell, damit die Grossmutter mit ihr zufrieden ist. Dann muss Nina in den Hinterhof, mit den anderen Kindern spielen. Nina kennt die Kinder nicht, und die spielen nicht mit ihr. Nina geht um den Hof herum und zählt ihre Schritte. Als sie bei dreihundert zweiundfünfzig ist, stellt ihr der grosse, dicke Junge ein Bein, und Nina fällt hin und schürft sich das linke Knie auf.

Die Grossmutter legt ganz schnell das Telefon auf, als Nina in die Wohnung kommt. Sie führt Nina ins Badezimmer. Nina muss sich auf dem Badewannenrand setzen, während die Grossmutter eine rote Schachtel mit Erste-Hilfe-Sachen aus dem Schrank nimmt. Die Grossmutter reibt mit einem Wattebausch eine braune Flüssigkeit auf Ninas Knie. Nina beisst die Zähne zusammen. Dann kommt ein Heftpflaster auf die Schürfung. Die Grossmutter räumt die rote Schachtel in den Schrank.

Als Tante Lisa zurückkommt, schaut sie die Grossmutter fragend an. Die schüttelt ein klein wenig den Kopf. Wahrscheinlich meinen sie, dass ich das nicht sehe, denkt Nina. Sie glauben, dass ich nicht höre, dass sie abends leise miteinander reden. Sie wissen nicht, dass ich das Licht sehe, welches nachts unter der Tür durchschimmert.

Beim Frühstück sagt die Grossmutter, dass Ninas Schulferien bald um sind. Nina denkt darüber nach, ob die Mutter dann endlich zurück ist, wenn sie wieder zur Schule muss, aber sie traut sich nicht, die Grossmutter zu fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als ob man sie irgend etwas fragen könnte.

Die Grossmutter schickt Nina schon am Morgen in den Hof zum Spielen. Der grosse, dicke Junge ist nicht da. Nina geht rings um den Hof herum und zählt ihre Schritte, immer wieder ringsherum. Wenn sie bis siebenhundert siebenundsiebzig kommt mit Zählen, wird die Mutter heute anrufen. Oder es wird eine Postkarte von ihr im Briefkasten liegen, mit königsblauer Tinte geschrieben, mit dem Meer drauf, oder mit Bergen.

Das aufgeschürfte Knie mit dem dicken Pflaster stört Nina beim Gehen, und so ist sie erst bei vierhundert siebenundzwanzig, als die Grossmutter zum Mittagessen ruft. Es gibt Spiralnudeln mit Hackfleisch und Apfelmus dazu. Die Grossmutter sagt, dass Ninas Mutter das besonders gerne gegessen habe, als sie ein kleines Mädchen war. Dann muss sie plötzlich ins Bad und kommt lange nicht wieder. Nina hört Wasser rauschen. Sie schmuggelt das Hackfleisch von ihrem Teller zurück in die Auflaufform, die noch auf dem Tisch steht. Die Grossmutter sagt nichts, als sie zurückkommt.

Unterdessen hat sich der Himmel verdunkelt; es hat zu regnen begonnen. Im fahlen Licht wirkt das Esszimmer grau. Die Grossmutter sieht müde aus. Sie will einen Mittagsschlaf halten. Nina soll in ihrem Zimmer lesen oder auch ein wenig schlafen.

Nina legt sich aufs Bett. Der Regen trommelt gegen das Fenster. Der rote Ballon, den die Tante nach dem Besuch im Zoo für Nina gekauft hat, hat schon fast alle Luft verloren. Schlapp hängt er neben dem roten Kleid an der Kastentür. Die Sandalen stehen am Boden, der rote Lack ist zerkratzt. Kein Wunder bei all den Runden, die Nina mit diesen Sandalen schon gedreht hat, immer um den Hof herum, laut ihre Schritte zählend.

Nina schläft ein. Als sie erwacht, ist es Abend geworden. Ein wenig Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Sie setzt sich auf, zieht die roten Sandalen an und geht zur Tür. Sie macht die Tür auf. Die Erwachsenen verstummen. Was ist los, sagt Nina. Ich will endlich wissen, was los ist.

Mara Meier, 1959 in Zürich geboren, Kindheit und Jugend in der Ostschweiz, wanderte als junge Frau nach Chile aus und arbeitete dort zehn Jahre als Botanikerin und in Kulturprojekten der indigenen Mapuche. Der Name ihres Blogs «kintun» stammt aus der Sprache der Mapuche und bedeutet «(an)sehen / suchen». Seit ihrer Rückkehr in die Schweiz ist sie beruflich in Bibliotheken tätig, beschäftigt sich dabei hauptsächlich mit Alten Drucken (15.-18. Jh.). Mara Meier zeichnet Pflanzen und Landschaften, gestaltet Figuren, schreibt Sachtexte, Glossen und Kurzgeschichten. 2018 Gewinnerin des OpenNet Schreibwettbewerb der Solothurner Literaturtage.