«Ich liebe dich nicht, weil ich dich liebe.» Buchpremière mit Peter Stamm

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften. Danke für den schönen Abend.» Peter Stamm

Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren ein unmaskiertes Publikum! Ein voller Saal, bis auf den letzten Platz besetzt. Zusammen mit Peter Stamm auf dem kleinen Podest zu sitzen, um an diesem Abend die Schweizer Buchtaufe seines neuen Romans zu zelebrieren, war eine doppelte Feierstunde, Freude im Quadrat! Als wäre die Situation aus der Zeit gefallen, ein Fenster aufgegangen in eine Zeit, die man vergessen glaubte.

„Das Archiv der Gefühle“ ist neben vielen Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen, sein 8. Roman. Ein Roman, der wie immer mit wenig Spektakel, dafür umso mehr Interpretationsspielraum spielt. Ein Roman, der unweigerlich Fragen stellt, zur Reflexion zwingt. Peter Stamm beweist darin einmal mehr sein Feingefühl für intensive Moment-, Landschafts-, Situations- und Inweltbeschreibungen.

Dass man in Zeiten wie diesen den Tritt im Leben verlieren kann, wird immer offensichtlicher. Und dabei wäre Corona nur einer der Gründe, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Peter Stamms Protagonist verliert viel; seinen Beruf, seine Frau, seine Welt. Ein Aussenseiter, ein Aussteiger, ein Abgedrängter. Er hortet im Keller seines Hauses in Rollregalen das ehemalige Recherchearchiv einer Tageszeitung. Jenes Material, dass vor Zeiten des Internets, vor Google und Wikipedia ein Ort für Nachforschungen war. Von einem ganzen Team betreut, am Schluss nur noch von ihm, bis man es ganz auflösen wollte. Für ihn der Ort, an dem Ordnung in die Welt gebracht werden kann, zumindest als Gegenpol zur Welt der Gefühle, die wohl auch irgendwie archiviert wird, sich aber jeder Ordnung entziehen. 

Franziska war zu Schulzeiten seine Freundin. Wahrscheinlich sogar mehr. Nur reichte es nie zu klaren Worten und eindeutigen Zeichen. Nun sind die beiden alt geworden. Er in seinem Keller, sie in ihrem Garten. Beide allein. Beide mit der Ahnung, etwas versäumt zu haben. Während er erzählt, aus seinem Leben in einer still gewordenen Gegenwart und seinen Erinnerungen, die immer lauter werden, erscheint Franziska immer offensiver in seiner Gedankenwelt, beginnt sich beinah zu materialisieren.

«Ich wollte nicht zu den verlorenen Männern gehören, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht mehr gebraucht werden…“ Trotzdem wurde er ein solcher, obwohl er sich doch eigentlich gegen Veränderungen auflehnt. Selbst im Haus, das er von seiner Mutter übernimmt, ändert er nur, was unvermeidbar ist. 

«Das Archiv der Gefühle» ist ein behutsam erzählter, melancholisch gefärbter Roman, der grosse Fragen ohne grosse Gesten stellt (…) ein Juwel.» Rainer Moritz, NZZ

Im anschliessenden Gespräch zusammen mit dem Publikum meinte Peter Stamm, Liebesgeschichten seien in seinen Romanen nicht zu vermeiden. Er brauche sie, weil sie Räume öffnen, Menschen öffnen, weil sie Zustände offenbaren, an denen er interessiert sei!
Seine Nähe zum Publikum offenbarte sich auch in den vielen kleinen Gesprächen im Anschluss an die Lesung, Begegnungen, die den Abend unvergesslich werden liessen.

Beitragsbild © Brigitte Conrad / Literaturhaus Thurgau